Maskenhaft

Ortstermin Düsseldorf 3

439 Seiten

 

Taschenbuch

ISBN 979-8838968241

 

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Leseprobe

 

 

Kapitel 1

Montag, 29.6.

 

Zum dritten Mal innerhalb einer halben Stunde öffnete sich die Tür zu Luzies Büro in der Rechtsanwaltskanzlei Hill, zunächst allerdings nur so weit, dass Christoph seinen Kopf hindurchstecken konnte. Luzie schloss für einen Moment gequält die Augen, öffnete sie wieder und bemühte sich um ein freundliches Lächeln, um ihr mühsames Ringen um Geduld nicht allzu offensichtlich werden zu lassen. 

   Dann griff sie zu ihrer auf dem Schreibtisch bereitliegenden Maske und installierte sie wieder einmal vor Mund und Nase, um ihrem ebenfalls maskierten Chef das Betreten ihres Büros zu ermöglichen. Die erste Corona-Welle war zwar Ende Juni 2020 überstanden, aber die täglich neuen Infektionen verhinderten nach wie vor die Rückkehr zum normalen, unbeschwerten Leben und ein möglicher Impfstoff war noch lange nicht in Sicht. »Ja, Christoph, hast du noch etwas vergessen?«, fragte sie, um eine deutliche Aussprache hinter ihrer Maske bemüht.

  Christoph öffnete die Tür ein Stück weiter und trat vor Luzies Schreibtisch. »Genau. Tut mir leid, wenn ich dich nerve, aber es ist wirklich wichtig, hier alles in den Griff zu bekommen.«

   »Wir haben alles im Griff, Christoph. Wir sind jetzt sämtliche offenen Fälle mindestens fünfmal durchgegangen. Ich kenne die Akten fast auswendig. Und deine Mandanten sind mir inzwischen so vertraut wie meine engsten Freunde. Alles ist gut. Außerdem bist du ja nicht für ein halbes Jahr auf der ISS, sondern allenfalls für ein paar Stunden im Kreißsaal nicht zu erreichen. Und in den Tagen danach werde ich mich zwar bemühen, euer trautes Familienglück nicht dauernd zu stören, aber wenn wirklich Not am Mann ist, dann schreibe ich dir eine Nachricht.«

   »Meinst du nicht doch, es wäre besser, wenn mein Vater dich unterstützt? Er hat es jetzt schon so oft angeboten, dass ich mich kaum noch traue, seine Mithilfe weiter abzulehnen.«

   »Glaub mir Christoph, es ist nicht erforderlich, deinen Vater zu stören. Besonders nicht in einem Moment, in dem er als frischgebackener Großvater andere Dinge im Kopf hat. Außerdem gehört er allein schon aus Altersgründen zur Corona-Risikogruppe. Er soll mal lieber schön zu Hause bleiben und sich um sein Enkelkind und seine Rosen im Garten kümmern. Aber zur Not habe ich seine Nummer und kann ihn jederzeit erreichen. Das gilt im Übrigen auch für meinen Vater, der vermutlich tödlich beleidigt ist, wenn ich ihn nicht innerhalb der ersten vierundzwanzig Stunden deiner Elternzeit mindestens zehnmal um Rat gefragt habe. Und jetzt geh endlich nach Hause und halte Elisabeths Hand, bis es soweit ist.«

   »Bist du verrückt? Mein Schreibtisch kracht demnächst zusammen, wenn ich nicht wenigstens noch einen Teil der Akten wegarbeite.«

   Diese Behauptung entbehrte jeder Grundlage, was sowohl Christoph als auch Luzie wussten. Erstens stammte das Möbelstück der Anwaltskanzlei noch aus der Ära seines Vaters und war entsprechend solide gebaut. Außerdem war Christoph ein methodischer Mensch, auf dessen Schreibtisch sich nie unbearbeitete Akten stapelten, normalerweise nicht und jetzt schon gar nicht, weil er wusste, dass er jederzeit auf den Anruf hoffen durfte, er möge sich umgehend in der Entbindungsstation der Diakonie in Kaiserswerth einfinden, um dort der Hauptperson, seiner Frau Elisabeth, die Hand zu halten und sie beim Atmen zu unterstützen.

   »Was wollte ich hier eigentlich?«, überlegte Christoph mit leerem Gesichtsausdruck. Das fragte sich Luzie auch, aber geduldig sah sie ihren Chef an und hoffte darauf, dass sich sein Erinnerungsvermögen möglichst bald wieder einstellen möge. Sie hatte nämlich an diesem Morgen eine Menge zu tun. Leider drängten einige Fristsachen, so dass es ihr nur schwer gelang, ihre Ungeduld zu zügeln und Christoph weiter verständnisvoll anzusehen.

   »Keine Ahnung«, sagte Luzie.

   »Jetzt weiß ich es wieder«, triumphierte Christoph. »Es geht um Frau Metzler. Du weißt, das ist die, deren Reise gerade storniert worden ist und die jetzt ihrer Anzahlung hinterherrennt.«

   »Wie so viele in diesen Zeiten«, murmelte Luzie.

   »Ja, aber bei ihr sind es gleich ein paar tausend Euro.«

   »Ich kenne den Fall, Christoph. Wir haben vorhin ausführlich darüber gesprochen. Versuche, dich zu erinnern.«

   »Ja, aber ich habe vergessen, dir zu sagen, dass die Metzlers alte Freunde meiner Eltern sind. Sei doch bitte besonders nett zu ihnen. Ich weiß, Frau Metzler nervt ganz gewaltig, aber ich möchte mir nur ungern den Zorn meiner Mutter aufs Haupt laden.«

   »Ich werde besonders nett zu Frau Metzler sein«, versprach Luzie. In diesem Moment klingelte ihr Festnetztelefon. Christoph machte einen Satz und riss den Hörer an sein Ohr. »Hill«, brüllte er erwartungsvoll.

   »O, habe ich die falsche Durchwahl erwischt? Ich wusste gar nicht, dass ich deine überhaupt gespeichert habe. Vielleicht spinnt auch eure Telefonanlage. Hallo Christoph, hier ist Axel. Na, wie geht es dir? Immer noch nichts?«

   »Ach du bist es nur, Axel. Ich dachte schon, es wäre Elisabeth. Du hast dich nicht verwählt. Ich stehe vor Luzies Schreibtisch, um sie ein bisschen darauf vorzubereiten, was ihr alles blüht, wenn ich für zwei bis drei Wochen nicht an Bord bin. Als ihr Telefon klingelte, bin ich rangegangen, weil ich natürlich dachte, es wäre für mich.«

   Axel verzichtete darauf, Christoph den Sinn und Zweck einer Telefonanlage mit Nebenstellen zu erläutern, die bei korrekter Wahl zu genau dem Menschen führte, mit dem man tatsächlich sprechen wollte. Er konnte sich noch gut daran erinnern, wie nervös seine ältere Schwester gewesen war, als der ausgerechnete Tag der Entbindung überschritten war und sich einfach nichts tat. Sie hatte ihm damals erklärt, sie fühle sich wie eine Zeitbombe mit einem etwas unklaren Zündmechanismus, die jederzeit explodieren könne.

   Christoph reichte den Hörer weiter an Luzie und sagte missgestimmt: »Natürlich wieder für dich. Axel. Ich gehe dann mal zurück an die Arbeit. Wenn mir noch etwas einfällt, was du unbedingt wissen solltest, weiß ich ja, wo ich dich finde.«

   Luzie nickte schicksalsergeben und begrüßte dann Axel. In Sekundenbruchteilen hellte sich ihre Miene deutlich auf.

   »Lieber Himmel, ist der nervös«, stellte der beste aller Freunde fest. »Aber wahrscheinlich geht das jedem so.«

   »Das kannst du laut sagen. Hoffentlich kommt Elisabeth bald in die Spur. Lange halte ich das hier nicht mehr aus. Er ist wirklich völlig von der Rolle. Sonst ist er doch immer so souverän. Es ist schon erstaunlich, was das Warten auf drei bis vier Kilo eines neuen Menschen aus einem erwachsenen Mann machen kann.«

   »Wie geht es denn Elisabeth? Ist sie genauso zappelig?«

   »Nein, überhaupt nicht. Nach außen hin ist sie die Ruhe selbst. Wenn sie sich auch so verhalten würde wie Christoph, dann käme das Kind wahrscheinlich zu Eltern auf die Welt, die sich bereits über sein Sorgerecht streiten.«

   »Hast du gleich eine halbe Stunde Zeit? Ich habe nämlich einen Termin in der Altstadt und könnte dich danach zu einem schnellen Mittagessen irgendwo treffen.«

   Luzie starrte ihren Aktenstapel mit den Fristsachen beschwörend an. Er reduzierte sich jedoch trotz ihres strengen Blickes nicht.

   »Ja, aber leider wirklich nur eine halbe Stunde«, entschied sie. Sie würde die verlorene Arbeitszeit eben vor ihren Feierabend schieben. Eine halbe Stunde mit Axel war nach diesem chaotischen Vormittag dringend erforderlich, um ihrer schwindenden Geduld wieder ein paar Körner zuzustecken. Wenn Christoph nicht so ein guter Freund gewesen wäre… Aber das war er nun mal und so würde sie auch weiter geduldig auf seine Vaterschaft reagieren. Wahrscheinlich würde nach der Geburt zunächst einmal alles noch viel schlimmer. Aber irgendwann würde selbst er sich hoffentlich an das zweifellos schönste, klügste und bemerkenswerteste Baby der Welt gewöhnt haben, an das Wunderkind aus dem Hause Hill. Luzie wäre allerdings froh, wenn sich dieser Zustand bereits deutlich vor der Einschulung einstellen würde. 

   Luzie hatte überhaupt nichts gegen Kinder. Ganz im Gegenteil. Sie konnte sich durchaus vorstellen, selbst einmal eins oder vielleicht sogar mehrere zu bekommen, aber trotzdem nervten Christophs überschäumende Vorfreude und Besorgnis. Seine gesamte Umwelt würde aufatmen, wenn er wieder seinen Normalzustand erreicht hätte. Bis das soweit sein würde, würde sie vermutlich an die hundert Babyfotos und Videos auf ihrem Handy mit »O wie niedlich« kommentieren müssen.

   Sie verabredete sich mit Axel gegen halb eins auf dem Burgplatz. Sie würden dann gemeinsam herausfinden, auf welcher der Terrassen sich an diesem sommerlichen Mittag in der Außengastronomie noch ein Plätzchen finden ließe, bei dem der notwendige Abstand zu anderen Menschen gewahrt bliebe. Verrückte Zeiten waren das. Sie beendete das Gespräch und las noch einmal die letzten Sätze ihres Antrags auf Haftverschonung eines Mandanten, die sie ihrem Computer vor der Unterbrechung durch Christoph, Frau Metzler und Axel diktiert hatte. »Da also weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr besteht…« formulierte sie gerade, als ihre Tür erneut aufgerissen wurde.

   »Ich glaube, ich habe ganz vergessen dir zu sagen, dass im Fall Metzler noch ein Reiseveranstalter zwischengeschaltet war.«

   »Du irrst dich, Christoph. Du hast mir den Namen und alle Daten des Reisedienstes durchgegeben. Entspann dich.«

   Christoph sah sie mit glasigen Augen an. »Du hast gut reden. Ihr Frauen habt es überhaupt viel besser in so einer Situation.«

   Das bezweifelte Luzie. Die eine Hälfte der Menschheit hätte ihr vermutlich Recht gegeben.

 

*

 

Axel hatte es sich angewöhnt, mit dem Fahrrad zur Arbeit ins Polizeipräsidium zu fahren. Das Wetter war in diesen letzten Junitagen hervorragend, für das Klima war es besser, aufs Auto zu verzichten, das tägliche Strampeln hielt ihn fit und die öffentlichen Verkehrsmittel waren ein klein wenig ins Gerede geraten, seit die für die meisten Bürger durchaus neuartigen Aerosole nicht nur faktisch, sondern auch sinnbildlich in aller Munde waren. So schnappte er sich nun auch für den Weg zur Staatsanwaltschaft sein Rad und beglückwünschte sich einmal mehr zur Entscheidung, es vor einigen Wochen aus dem Keller geholt und für den täglichen Gebrauch wieder fit gemacht zu haben. Die Strecke am Rheinufer entlang war einfach wunderschön und außerdem blieb ihm die lästige Parkplatzsuche erspart.

   Da er sein Tempo den sommerlichen Temperaturen angepasst hatte, erreichte er das Gebäude an der Fritz-Roeber-Straße kühl, entspannt und gut gelaunt. Er kettete sein Fahrrad an einen Pfosten und betrat das Gebäude. Ein paar Minuten später öffnete ihm Staatsanwalt Cem Arat die Tür seines Büros. Hinter der kleidsamen rot-weißen Maske mit dem Aufdruck F95 lächelte ihn Cem zur Begrüßung an. Das konnte Axel zwar nicht wirklich sehen, aber er wusste es einfach, schließlich lächelte Cem meistens.

   »Du siehst gut aus«, stellte Axel mit gespielter Überraschung fest.

   »Diese Masken sind einfach großartig«, entgegnete sein Gegenüber. »Gestern hat mich tatsächlich jemand beinahe mit Elyas M'Barek verwechselt.«

   »Hat er dich von vorne oder von hinten gesehen?«

   »Das war aber keine nette Bemerkung.«

   »War nicht so gemeint. Die Maske ist wirklich wunderschön. So eine hätte ich auch gern. Wo hast du sie her?«

   Der Staatsanwalt machte eine wegwerfende Handbewegung: »Ach, ich bin gelegentlich im Darknet unterwegs. Soll ich dir da auch eine beschaffen?«

   »Nicht nötig. Ich versuche es erst mal im Fortuna Shop.«

   Cem bot seinem Freund Axel, einem Oberkommissar im für Gewaltverbrechen zuständigen Kriminalkommissariat 11, einen Stuhl in einer Ecke des relativ großen Büros an. Beide Fenster standen weit offen und da der Abstand groß genug schien, verzichteten die beiden für den Rest des Gesprächs auf die Gesichtsbedeckungen. Im ersten Pandemiesommer glaubte man, die Situation eigentlich ganz gut im Griff zu haben. Vorsichtige Lockerungen des Lockdowns hatten stattgefunden und die Düsseldorfer entspannten sich zusehends. Nach den üblichen Fragen, wie es dem jeweils anderen und dessen direktem Umfeld ging, kam Cem zur Sache.

   »Ich habe dir alles zusammengestellt in dieser Mappe. Einen Teil schicke ich dir auch gleich noch als Mail. Bisher handelte es sich ja eigentlich eher um Delikte aus der Kategorie Dumme-Jungenstreiche. Kein Wunder also, dass sich die detektivische Crème de la Crème, also euer KK11, noch nicht mit dem Fall befasst hat. Aber die letzte Aktion dieses angeblichen Zorro ging wirklich zu weit. Er scheint sein Gewaltpotenzial von Mal zu Mal zu steigern. Es wäre also ganz gut, wenn ihr der Sache ein Ende machen könntet. Außerdem finde ich persönlich es langsam peinlich, dass die ganze Nation über Zorros Streiche lacht und über unsere Unfähigkeit, ihn zu fassen.«

   Cem warf die Mappe in Richtung Axel, der das auf ihn zusegelnde Wurfgeschoss gekonnt aus der Luft angelte. Auch so blieb der Abstand gewahrt. Not macht erfinderisch.

   Axel schlug die Mappe mit den Ausdrucken des mittlerweile nicht nur von der Presse, sondern auch polizeiintern Corona-Zorro genannten Falls, auf. Axels Kenntnis basierte bisher lediglich auf entsprechenden Berichten in den mehr oder weniger sozialen Medien und den lokalen Zeitungen. Die erste Seite bestand aus dem Ausdruck eines Fotos einer Bäckerei in Oberbilk, die durch eine Baustelle vor der Tür für ihre Kunden nicht mehr zugänglich war.

   Cem grinste und stellte dann fest: »Der erste Fall war eindeutig der witzigste. Bäcker Kaul, ein bekennender Corona-Leugner, hängte am Mittwoch, den 3. Juni, ein Schild in sein Schaufenster, auf dem seine verblüffte Kundschaft lesen konnte: ›In diesem Geschäft gilt das Maskenverbot‹. Er war der Meinung, in diesem Punkt von seinem Hausrecht Gebrauch machen zu können, und weigerte sich, seine Brötchen an Mitbürger zu verkaufen, denen er nicht uneingeschränkt ins Gesicht blicken konnte. 

   Sofort gingen natürlich Beschwerden beim Ordnungsamt ein. Die meisten Kunden, denen das nicht passte, hatten zwar kein Problem damit, ihr Brot bei der Konkurrenz zu kaufen, aber einige fanden das gar nicht lustig oder angebracht. Während das Ordnungsamt noch damit beschäftigt war, die Rechtslage zu prüfen, trat unser Zorro erstmals auf den Plan. Als Rächer der Enterbten oder in diesem Fall Verseuchten gelang es ihm, die Bäckerei vom allgemeinen Geschäftsverkehr abzuschneiden, indem er dort über Nacht eine Baustelle einrichtete. Wie du siehst, installierte er Absperrgitter und riss den unmittelbar vor der Tür gelegenen Teil des Bürgersteigs mit einem Presslufthammer auf.«

   »Die Nachbarn haben sich über den Radau mitten in der Nacht nicht beschwert?«, fragte Axel ungläubig.

   »Doch, das haben sie. Sie haben sich auch gewundert, dass es sich nur um einen einzelnen Bauarbeiter handelte. Der hat aber auf Rückfragen aus offenen Fenstern glaubhaft versichert, es handele sich um einen Notfall. Ein Wasserrohr sei gebrochen und überflute gerade den Keller der Bäckerei. Kein Mensch braucht einen Swimmingpool im Vorratslager von Mehl und Hefe. Deshalb haben alle zähneknirschend für etwa eine halbe Stunde auf ihren Schlaf verzichtet.«

   »Wie hat Zorro denn seine Gerätschaften transportiert? Solche Absperrgitter und einen Presslufthammer trägt man ja nicht mal eben unterm Arm.«

   »Ja, da stand wohl ein weißer Transporter ohne Firmenlogo. Das Kennzeichen hat sich natürlich niemand gemerkt. Als Bäcker Kaul dann morgens um vier in seine Backstube wollte, staunte er nicht schlecht, als er den Schlamassel sah. Zuerst dachte er tatsächlich, irgendein Unglück sei über Nacht über seine Backstube hereingebrochen. Diese Annahme wurde auch noch durch einen der Nachbarn unterstützt, der, durch Kauls lautes Fluchen erneut geweckt, seinen Kopf aus dem Fenster steckte und ihm mitteilte, der Keller der Bäckerei stehe offenbar durch ein defektes Rohr unter Wasser.

   Mit einem kühnen Sprung erreichte Herr Kaul die Tür seiner Bäckerei und stellte fest, dass innen alles in bester Ordnung war. Wenig später fand er auf seiner Schaufensterscheibe in Höhe des von ihm an der Innenseite angebrachten Schildes mit dem Maskenverbot einen ausgedruckten Aufkleber mit dem Zeichen des Zorro, einem großen roten Z in der Schriftart, die so ähnlich auch im Film und den Heften verwendet wurde. 

   Der Bäckermeister, der den Film kannte, tobte und machte Fotos vom Corpus Delicti, die er sofort mit der entsprechenden Kommentierung in die sozialen Netzwerke stellte. Außerdem verständigte er die Presse und die Polizei, übrigens in genau dieser Reihenfolge. 

   Die Reaktion war unterschiedlich je nach Standpunkt der Betrachter. Die meisten haben gelacht. Die Anhänger der Flat-Earth-Community allerdings forderten natürlich sofort mindestens die Todesstrafe für Zorro. Der OB radelte persönlich vorbei, und verurteilte alles scharf, einerseits die Eigenmächtigkeit des Corona-Zorro, andererseits aber auch die Masken-Verweigerung des Bäckers.

   Halbherzige Versuche, den Täter zu ermitteln, wurden unternommen, verliefen aber im Sande. Weiße Transporter gibt es reichlich, die Absperrungen stammten aus dem Lager des Gartenbauamtes im Hofgarten und den Presslufthammer hat Zorro natürlich wieder mitgenommen. Der Aufkleber kam aus irgendeinem beliebigen Gerät, das in der Lage ist, größere Etiketten zu drucken. Über diese Schiene ist man auch nicht weitergekommen. Fingerabdrücke gab es nicht. Der Täter trug eine Schirmmütze. Und außerdem war es stockdunkel. Die Zeugen sind sich lediglich sicher, dass es sich um einen Mann gehandelt hat, der weder besonders groß, klein, dünn, dick, jung oder alt war. 

   Außerdem muss ich dir ehrlich sagen, die Bereitschaft, den Täter um jeden Preis ausfindig zu machen, hielt sich auf einem überschaubaren Niveau. Im Grunde war nicht viel passiert außer ein paar aufgerissenen Bordsteinplatten. Die meisten Leute, die nicht gerade Aluhüte tragen, fanden die Aktion ganz gelungen oder sogar witzig. Unter uns, ich zu diesem Zeitpunkt übrigens auch noch.« Axel nickte verständnisvoll. Cem setzte seinen Bericht fort.

   »Zorros zweiter Streich richtete sich gegen die Veranstalter einer Corona-Party. Sie hat auf einem alten Fabrikgelände in Holthausen stattgefunden. Ungefähr zweihundert Teilnehmer haben dort auf engem Raum gefeiert und dabei gegen sämtliche Vorschriften und den gesunden Menschenverstand verstoßen. Es gab weder Abstand noch Masken, dafür aber jede Menge Alkohol, Musik und Spaß, kurz es wurde so gefeiert, als ob es das Virus nie gegeben hätte. 

   Anwohner beschwerten sich, das Ordnungsamt rückte an, es gab Widerstand seitens der alkoholisierten Partygäste, die sich einen Spaß daraus machten, so zu tun, als ob sie die Beamten anniesten. Das Ordnungsamt rief Verstärkung durch die Polizei herbei, die mit einem Großaufgebot anrückte. Der Mehrzahl der Jugendlichen gelang die Flucht, aber einige wurden gefasst und ihre Personalien wurden festgestellt. Außerdem konnte geklärt werden, wer die Veranstalter dieser Feier waren.

   Den Betroffenen wurden Anzeigen angekündigt. Noch bevor die denen aber ins Haus flatterten, startete Zorro eine Plakataktion auf drei Litfaßsäulen und zwei Plakatwänden. Die Hauptverantwortlichen und auch einige Gäste, die sich durch besonders störendes Verhalten hervorgetan hatten oder nicht schnell genug weggerannt waren, fanden sich zwei Tage nach der Veranstaltung mit Namen und Bild auf den Plakaten wieder und natürlich auf Fotos in sämtlichen sozialen Netzwerken. In einer nächtlichen Aktion waren die Litfaßsäulen und Plakatträger überklebt worden. Dreimal darfst du raten, welches Symbol sich zusätzlich zu den Fotos und Namen auf den Plakaten fand.«

   »Ich kaufe ein grünes A«, sagte Axel grinsend.

   »Beinahe richtig«, bestätigte Cem. »Damit liegst du nur knapp neben dem roten Z. Wir wurden wieder ins Boot geholt und hatten uns unter anderem damit zu beschäftigen, gegen welche Paragrafen unser Zorro diesmal verstoßen hatte. Es lief darauf hinaus, dass er einerseits natürlich die Werbeflächen nicht hätte überkleben dürfen, mit was auch immer. Schließlich haben die Kunden für die Werbung gezahlt. Außerdem liegt ein klarer Verstoß gegen den Schutz der Persönlichkeitsrechte der Veranstalter und Partygäste vor. Der Pranger als Strafinstrument hat schließlich nicht ganz zu Unrecht seit etwa hundertfünfzig Jahren ausgedient.«

   »In diesem Fall frage ich mich, wie Zorro wohl an die Daten gekommen ist. Da muss es doch bei Polizei oder Ordnungsamt ein Leck geben.«

   Cem nickte. »Genau so sehen wir das auch. Allerdings waren ungefähr fünfzig Einsatzkräfte von Polizei und Ordnungsamt mit dieser Party direkt befasst. Außerdem werden die entsprechenden Namen im System gespeichert und sind daher noch für einen deutlich größeren Personenkreis in den jeweiligen Behörden zugänglich. Ich fürchte, es wird verteufelt schwierig, sich der Person des Zorro auf diese Weise nähern zu wollen.«

   »So weit, so gut, oder immerhin noch relativ harmlos«, stellte Axel fest. »Bislang haben wir also im Wesentlichen eine Sachbeschädigung und einen Verstoß gegen Persönlichkeitsrechte, also noch nichts, was das KK11 in Bewegung setzen würde. Schließlich wurde niemand getötet oder verletzt oder ein anderes Kapitalverbrechen begangen. Aber das kommt wohl jetzt im dritten Fall.«

   »Sonst hätte ich nicht um deinen Besuch gebeten, jedenfalls nicht dienstlich. Gestern Abend ist Folgendes geschehen: Die einundvierzigjährige Michaela Stolte ist mit ihrem Fahrrad durch die Altstadt gefahren, was innerhalb der Fußgängerzone schon mal nicht in Ordnung war. Auf der Bolkerstraße war es so voll wie immer an schönen Juniabenden. Daran ändert auch die Pandemie kaum etwas. 

   Frau Stolte wurde von Passanten mehrfach aufgefordert, vom Rad zu steigen und es bis zum Rheinufer zu schieben. Sie hat als Reaktion auf das ihrer Meinung nach unbegründete Anpöbeln die murrenden Fußgänger angespuckt mit den Worten: »Ich habe Corona und du jetzt auch.«

   »Was für eine nette Person«, stellte Axel anerkennend fest.

   »Das fanden einige der Umstehenden wohl auch, und rissen die Frau vom Fahrrad. Ich finde, dazu gehört schon eine gewisse Zivilcourage, weil schließlich niemand wissen konnte, ob die Frau wirklich erkrankt war oder das nur behauptet hat, um ihre Mitmenschen zu schockieren. 

   Frau Stolte wurde also von zwei jungen Männern vorläufig festgenommen, während ein dritter die Polizei rief. Die kam dann auch, nahm die Personalien von Frau Stolte und den Zeugen auf und entließ die Frau mit der Ankündigung, sie notfalls festzunehmen, sollte sich solch ein Vorgang wiederholen. Sie hatte glaubhaft versichert, nicht erkrankt zu sein, sondern das nur behauptet zu haben, um diejenigen zu ärgern, von denen sie sich belästigt gefühlt hatte. Ihr wurde streng untersagt, weiter mit dem Fahrrad durch die Fußgängerzone zu fahren. 

   Als si ihr Rad durch die Mittelstraße schob, wurde sie hinterrücks von einem Unbekannten überfallen. Ob das mit der dortigen Skulptur ›Auseinandersetzung‹ in Verbindung zu bringen ist, wage ich zwar zu bezweifeln, aber wer weiß. Vielleicht wurde der Täter ja durch die beiden Streithähne inspiriert. Frau Stolte wurde von hinten gepackt und rüde umgedreht. Ab da kann sie nicht mehr viel aussagen, weil ihr dieser unbekannte Verfolger Pfefferspray direkt in die Augen gesprüht hat. Frau Stolte liegt mit einer schweren Augenverletzung im Krankenhaus. Man weiß noch nicht, ob und wenn ja, wie gut, sie je wieder wird sehen können. Auf ihr T-Shirt hatte jemand wieder so einen Aufkleber mit dem roten Z gepappt. Damit haben wir also eine möglicherweise sogar schwere Körperverletzung und das KK11 ist dran. Uns macht vor allem Sorge, dass sich dieser Verrückte von Tat zu Tat immer mehr hochschaukelt. Ich würde mich nicht wundern, wenn beim nächsten Mal jemand ums Leben käme.«

   Axel betrachtete einen der Z-Aufkleber, der sich in einer Klarsichthülle befand, und blätterte in dem Bericht, der in der Mappe abgeheftet war. Er war übersichtlich, schien einigermaßen vollständig zu sein und enthielt auch die Namen der Kollegen, die bislang im Fall des Corona-Zorro ermittelt hatten. Mit denen würde er sich zunächst einmal in Verbindung setzen.

   »Danke, Cem. Was für eine verrückte Geschichte. Als ob wir durch dieses blöde Virus nicht schon genug Probleme hätten, muss sich ausgerechnet auch noch jemand als Corona-Rächer aufspielen.« 

   Axel verabschiedete sich und Cem drückte ihm einen ziemlich in die Jahre gekommenen Stoffbeutel mit der verblichenen Aufschrift ›Kaufhof bietet tausendfach alles unter einem Dach‹ in die Hand, mit der knappen Bitte, ihn Anke auszuhändigen, die ihn beim letzten Treffen vergessen habe. Überrascht nahm Axel den Beutel entgegen, schaffte es aber zu seiner eigenen Überraschung, den Mund zu halten. Ging da am Ende etwas zwischen Staatsanwalt Cem Arat und Axels Lieblingskollegin Anke Hellmich? 

   Neugierig überprüfte er den Inhalt - schließlich war er Detektiv - bevor er die Stofftasche unter seinen Gepäckträger klemmte. Sie enthielt zwei Kassetten mit DVDs - The Crown, Staffel 2, und die Poirot-Collection, Staffel 7 - sowie die Bücher ›Haymatland‹ von Dunja Hayali, ›Die rätselhaften Worte‹ von Reginald Hill und ›Total verhext‹ von Terry Pratchett. Im wahrsten Sinne des Wortes also eine gemischte Tüte. 

   Axel sah auf seine Uhr und stellte fest, er konnte ganz entspannt zum Burgplatz radeln und würde immer noch ein paar Minuten zu früh am verabredeten Ort sein. Er fuhr also langsam die Eiskeller- und dann die Ritterstraße entlang bis zum Rheinufer und zum Burgplatz, wo er sich umsah und sich für einen Tisch am Rand der Außenterrasse des Goldenen Rings entschied. Er bestellte sich ein Mineralwasser und wartete auf Luzie, die sich etwas verspätete. Immerhin beeilte sie sich, stellte Axel fest, der sie ein ganzes Stück weit beobachten konnte, wie sie in zügigem Tempo in seine Richtung strebte. Er winkte ihr zu, sie strahlte ihn an, küsste ihn und ließ sich dann auf einen Stuhl ihm gegenüber plumpsen.

   »Gutes Lauftraining«, stellte sie fest. »Natürlich bin ich nicht pünktlich losgekommen. Christoph hat mich aufgehalten.«

   »Der Arme tut mir richtig leid«, sagte Axel solidarisch.

   »Ich sollte dir leidtun«, stellte Luzie klar. »Ich bin die eigentlich Leidtragende - und natürlich Elisabeth.«

   Das Paar begutachtete kurz die Speisekarten und beide entschieden sich dann für etwas, von dem sie annahmen, dass es schnell gehen würde.

   »Wie sieht es heute Abend bei dir aus?«, fragte Axel. »Wir könnten uns einen richtig schönen Serienabend machen. Ich bin der vorübergehende Besitzer einer kompletten Poirot-Staffel.«

   »So etwas wie Netflix ist wohl noch nicht in dein Bewusstsein eingedrungen«, fragte Luzie. 

   »O doch. Aber ich müsste mich schon sehr wundern, wenn man da die Poirots  streamen könnte. Und die wollte ich immer schon mal sehen.«

   »Dann fang ohne mich an. Ich muss die Mittagspause heute leider an meine Arbeitszeit anhängen. Ich bin dann beim zweiten Fall dabei.« 

   »Bis du kommst, sollte ich mir vielleicht besser den alten Zorro-Film ansehen«, brummte Axel.

   »Warum das denn? Siehst du tagsüber noch nicht genug maskierte Gesichter?« 

   Axel deutete auf die Stofftüte, die mittlerweile auch den Schnellhefter enthielt, den er von Cem Arat bekommen hatte.

    »Kaufhof bietet tausendfach alles unter einem Dach?«, staunte Luzie, die diesen Uralt-Slogan noch nie gehört hatte.  »Das gilt aber wohl nur noch kurze Zeit für den Kaufhof am Wehrhahn. Ich bin richtig traurig darüber, dass in letzter Zeit so viele Läden schließen müssen.«

   »Das sagst ausgerechnet du, die Weltmeisterin des Onlineshoppens.«

   »Ich habe tatsächlich ein schlechtes Gewissen. Deshalb habe ich mir vorgenommen, sobald wieder alles normal läuft, werde ich ein Jahr lang nichts mehr im Internet bestellen, sondern nur noch durch Fachgeschäfte traben und Klamotten in Umkleidekabinen probieren, anstatt sie mir in drei Größen und Farben nach Hause schicken zu lassen. Aber was ist denn in der Tüte?«

   »Der Corona-Zorro-Fall. Cem hat ihn uns aufs Auge gedrückt. Gestern hat es eine schwere Körperverletzung gegeben. Zorro hat einer Radfahrerin Pfefferspray in die Augen gesprüht.«

   »Das geht natürlich gar nicht. Bis zu diesem Ausrutscher habe ich mir eigentlich klammheimlich gewünscht, ihn vor Gericht vertreten zu dürfen, wenn ihr ihn gefunden habt. Bisher fand ich seine Aktionen witzig, zum Beispiel die Baustelle vor der Bäckerei, aber Pfefferspray geht wirklich zu weit. Ihr werdet ihn bestimmt schnell finden, wenn die geballte Intelligenz des KK11 sich der Sache annimmt. Und es wird auch langsam mal Zeit. Was da im Netz abgeht und wie sich alle über die doofe Düsseldorfer Polizei lustig machen, besonders die Kölner, war in den letzten Tagen schon etwas gewöhnungsbedürftig.«

   »Du hast in beiden Punkten recht. Pfefferspray ist bestimmt keine Lösung. Allerdings muss man zugeben, dass sich die Verletzte auch nicht gerade vorbildlich verhalten hat. Sie ist durch die Fußgängerzone geradelt, hat Leute angespuckt und gerufen: ›Ich habe Corona und du jetzt auch.‹«

   Luzie sah ihren Freund ungläubig an und sagte: »Was dieses verflixte Virus mit normalerweise wahrscheinlich relativ friedlichen Menschen tut, macht mir langsam Angst.«

   Der Kellner brachte das Essen, so dass das unerfreuliche Thema zunächst einmal beendet war. Beide langten hungrig zu und erst, als die Teller leer waren, nahm das Gespräch wieder Fahrt auf. 

   Axel wies noch einmal auf den Stoffbeutel hin, der offenbar entweder Cem Arat oder Anke Hellmich gehörte. »Cem hat ihn mir in die Hand gedrückt und gesagt, Anke habe die Tüte bei ihrem letzten Besuch bei ihm vergessen. Jedenfalls habe ich das so interpretiert. Also ganz egal, ob es nun Ankes oder Cems Beutel ist, jedenfalls haben sich die beiden gesehen, und zwar nicht nur einmal. Das fand ich schon ziemlich bemerkenswert.«

   »Stimmt«, bestätigte Luzie. »Zusammen habe ich sie bisher eigentlich nur Silvester erlebt. Da haben sie viel miteinander gelacht und sich anscheinend sehr gut verstanden. Offenbar haben sie sich danach noch häufiger getroffen.«

   »Häufiger weiß man nicht. Aber immerhin mindestens zweimal. Und das ist bei Anke schon ziemlich erstaunlich«, analysierte Axel. Dessen Teampartnerin und beste Freundin Anke hatte sich vor einigen Jahren aus Koblenz nach Düsseldorf versetzen lassen, um einem übergriffigen Vorgesetzten zu entgehen. Es hatte da einen sehr unschönen Vorfall gegeben, der Anke noch lange seelisch verfolgt hatte.

   Daher hatte es auch eine ganze Zeit gedauert, bis Anke zum Beispiel ohne Zögern und Bedenken abends ihren Kumpel Axel in dessen Wohnung besucht hatte. Soweit Axel bisher angenommen hatte, bildete er in dieser Hinsicht aber die einzige männliche Ausnahme. Das schien sich geändert zu haben. Ob das Verhältnis zwischen dem Staatsanwalt und der Ermittlerin genauso kumpelhaft war wie das zwischen Anke und ihm, wusste er natürlich nicht. Er wünschte beiden Singles jedenfalls von Herzen alles Gute, falls sich aus dieser Freundschaft mehr ergeben würde. 

   Aber irgendwie konnten weder er noch Luzie sich solch eine Beziehung vorstellen. Immerhin bot der Besuch Ankes bei Cem oder wo auch immer Anlass für jede Menge wilder Spekulationen, die die beiden lachend bis zu einer möglichen Hochzeit hochschraubten, bei der sie sich selbstverständlich als Trauzeugen sahen.

   Luzie sah auf ihre Uhr und stellte bedauernd fest, dass sie sich wieder auf den Weg in die Bäckerstraße machen musste, wo die Räume der Kanzlei Hill lagen. Axel bestand darauf, für beide zu zahlen und verabschiedete sich liebevoll von seiner Freundin.

   »Eigentlich haben wir doch den gleichen Weg. Wenn du ein Stück schiebst, könnten wir bis zur Bäckerstraße noch gemeinsam laufen«, schlug Luzie vor.

   »Lach mich nicht aus, aber ich habe tatsächlich gerade überlegt, mir einen dieser alten Zorro-Filme zu besorgen. Ich habe noch nie einen gesehen. Vielleicht sollte ich das aber getan haben, wenn wir uns erfolgreich auf die Jagd nach seinem Nachfolger machen wollen. Schaden kann es jedenfalls nicht, sich diesen alten Schinken mal anzusehen. Deshalb fahre ich jetzt zur Kö und versuche, ihn bei Saturn zu ergattern. Das dürfte der nächste Laden sein, der solche DVDs führt.«

   Luzie lachte, unbeeindruckt von Axels Ankündigung, sich dieser detektivischen Fleißarbeit zu unterziehen. Sie schlug vor, dass Axel den Abend dann doch lieber mit einem der Poirots beginnen sollte, so lange, bis sie es zu ihm geschafft hätte. Auch sie würde nämlich liebend gern zusammen mit Axel auf der Couch ihre bislang eher flüchtige Bekanntschaft mit dem maskierten Helden vertiefen.

 

*

 

Otto Justice Tjombe, Hauptkommissar und Chef des KK11, saß mit einem nicht gerade besonders glücklichen Gesichtsausdruck im Sprechzimmer des Polizeiarztes. Gut, sein Belastungs-EKG hätte etwas besser ausfallen können, sein Blutdruck etwas niedriger und sein Body-Mass-Index ein paar Punkte geringer, aber er war schließlich nicht krank. Bisher war er sogar optimistisch davon ausgegangen, für seine achtundvierzig Jahre noch recht fit zu sein. Sein Oberkörper wies zwar keine Sixpacks mehr auf, aber er war doch nun wirklich nicht dick.

   »Jetzt schauen Sie mich nicht so entsetzt an«, sagte der Polizeiarzt. »Wir haben doch nichts Dramatisches festgestellt. Aber ein paar Blutwerte sind durchaus verbesserungsfähig. Und Ihre Fitness lässt wirklich zu wünschen übrig. Aber das ist doch nichts, was sich nicht in ein paar Monaten deutlich verbessern ließe. Jetzt achten Sie mal auf Ihre Ernährung, trinken keinen Alkohol und treiben so viel Sport wie möglich. Dann sehen wir uns in einem Vierteljahr wieder und alles wird gut sein.« 

   Er schrieb ein paar Sätze in seinen Bericht, drückte Otto eine Broschüre über das 16:8-Fasten in die Hand und nickte ihm verabschiedend zu. »Lassen Sie sich einen neuen Termin geben für Ende September, Anfang Oktober. Bis dahin schieben wir die Frage Ihrer uneingeschränkten Diensttauglichkeit auf.«

   »Was ist eigentlich mit dem BMI unserer Kriminalrätin?«, fragte Otto rebellisch. »Frau Steiner hat bestimmt einen schlechteren als ich. Wann ist die denn zur nächsten Hauptuntersuchung fällig?«

   »Sie wissen genau, dass der BMI Ihrer Vorgesetzten unter die ärztliche Schweigepflicht fällt«, grinste der Arzt, der sich noch genau an ein ähnlich gelagertes Gespräch mit eben dieser Dörte Steiner erinnerte, das noch gar nicht so lange her war, und in dem er den weitgehenden Verzicht auf Kuchen gefordert hatte. Frau Steiner hatte vergeblich versucht, ihm die Unmöglichkeit dieser Anordnung klarzumachen. Genauso gut konnte man versuchen, einen Fisch zu ertränken, wie Frau Steiner vom Bäcker ihres Vertrauens fernzuhalten. Es handelte sich übrigens nicht um Herrn Kaul, anderenfalls wäre der Zorro-Fall vermutlich auf ihren Druck hin schon gelöst.

   »Für heute sind Sie jedenfalls vom Dienst befreit. Gehen Sie nach Hause und organisieren Sie von dort aus Termine im Fitnessstudio oder stürmen den nächsten Biomarkt, um dort Obst und Gemüse einzukaufen. Seien Sie so nett und schicken mir den nächsten Kollegen aus dem Wartebereich herein.«

   Betreten trottete Otto den Flur entlang und unterrichtete die Kollegin, die dort saß, dass sie an der Reihe sei. Die junge schlanke Frau hüpfte wie ein Tennisball hoch und ging elastischen Schrittes in Richtung Sprechzimmer.

   Otto reichte es tatsächlich für diesen Tag. Eigentlich war es erst halb drei, aber bitte sehr, wenn er zu krank war für den Dienst, dann war es eben so. Er rief im KK11 an und informierte seinen Stellvertreter Martin Anger, der Arzt sei der Meinung, er sei für den Rest des Tages arbeitsunfähig. Damit jagte er Martin einen ordentlichen Schrecken ein. »Hey, Otto, lass das! Den Job des Kranken im Kommissariat habe ich. Und von dem lasse ich mich von dir auch nicht verdrängen. Was hat der Arzt denn gesagt? Was ist denn los?«

   »Ich bin zu alt, ich bin zu dick, mein Blutdruck und meine Cholesterinwerte sind zu hoch und ich bin nicht fit genug«, jammerte Otto.

   »Ich sehe außer dem Alter nichts, an dem du nicht arbeiten könntest«, kommentierte Martin gnadenlos.

   Otto beendete sicherheitshalber das Gespräch, bevor er das Wort ›Blödmann‹ murmelte. Damit meinte er übrigens sowohl Martin als auch den Arzt. Beide stritten sich gerade um den obersten Platz auf Ottos schwarzer Liste. Das war Martin Anger gegenüber allerdings ungerecht. Denn der quälte sich seit vielen Jahren mit einer nicht ausgeheilten, chronischen Malaria herum, die in gewissen Abständen immer wieder schubweise über ihn hereinbrach. Das war tatsächlich eine andere Hausnummer als Ottos nicht ganz optimales Blutbild und seine quälende Langsamkeit auf dem Ergometer.

   Otto beschloss, sofort mit dem Fitnesstraining zu beginnen, und verzichtete als erste Aktion auf den Aufzug. In diesem Fall musste er nur die Treppe hinunter, also trat die Erdanziehungskraft seinem guten Willen unterstützend zur Seite. Und so schnellte der Puls des Hauptkommissars bei dieser moderaten Belastungsprobe nicht gerade  katapultartig in die Höhe. Otto öffnete ruhig atmend die Autotür und fragte sich beim Einsteigen, ob vielleicht noch ein Fahrrad in seinem Keller herumstand. 

   Axel König redete seit Wochen von nichts anderem als seinen täglichen Fahrten auf seinem vermutlich ebenso hochpreisigen wie hoch gepriesenen Rad. Damit tat Otto Axel allerdings Unrecht. Der hatte nämlich sein altes Fahrrad in vielen Stunden selbst mühevoll wieder auf Vordermann und zum Glänzen gebracht. 

   Otto warf einen Blick auf den Kilometerstand, bevor er nach Hause fuhr, und stellte bei der Einfahrt in die heimische Tiefgarage fest, dass es sich bei der einfachen Strecke lediglich um sechs Kilometer handelte. Die würde er wohl auf dem Zweirad bewältigen. Und zwölf Kilometer pro Tag, das war doch immerhin schon mal ein Anfang. Von Fitnessstudios hielt Otto schon allein wegen der anderen Mitglieder, die einen beim Sport beobachten konnten, überhaupt nichts. Lieber würde er ohne Zuschauer Treppensteigen, durch den Park joggen oder in die Pedale seines Fahrrads treten.

   Angefüllt mit diesen guten Vorsätzen hoffte er auf liebevolles Mitgefühl seiner Ehefrau Rita, die momentan ausschließlich im Home Office tätig war. Rita war Dozentin für Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität, an der die Präsenzvorlesungen des Sommersemesters dem Virus zum Opfer gefallen waren. Rita hatte sich jedoch in den letzten Monaten erfolgreich mit den Tücken des Videounterrichts auseinandergesetzt und fühlte sich mittlerweile ganz gut gerüstet, ihren Studentinnen und Studenten die englische Literatur unter besonderer Berücksichtigung des Lebens und Wirkens der Dichterin Jane Austen auch übers Internet näherzubringen.

   »Ist etwas passiert?«, fragte sie irritiert. »Was machst du denn um diese Zeit zu Hause?«

   »Hast du etwa vergessen, dass ich heute den Termin zur Diensttauglichkeitskontrolle beim Polizeiarzt hatte?«

   Ja, das hatte Rita in der Tat vergessen. »Bis heute Morgen habe ich dich durchaus für tauglich gehalten, nicht nur für den Dienst«, erklärte sie und schob ihre Brille auf die dafür vorgesehene Nasenstelle.

   »Ich mich auch«, bestätigte Otto in ernstem Ton. »Aber der Arzt sieht das leider etwas anders.«

   Durch Ritas Kopf schossen Schreckensbilder, die mit Corona, Krebs und anderen üblen Krankheiten zu tun hatten und daher mindestens auf Intensivstationen endeten. Otto las im Gesichtsausdruck seiner Frau und beeilte sich, sie ein wenig zu beruhigen.

   »Nein, nein, nichts wirklich Schlimmes, jedenfalls jetzt noch nicht. Aber ich soll mich bemühen, etwas gesünder zu leben, ohne Stress und mit mehr Bewegung. Außerdem soll ich gelegentlich mal einen Apfel essen und meinen Alkoholkonsum ein klein wenig reduzieren.«

   Rita war schon ziemlich lange mit Otto verheiratet und daher durchaus in der Lage, die Worte ihres Mannes in die Diagnose des Arztes zu übersetzen: »Also viel Sport, gesundes Essen und kein Alkohol«, stellte sie lakonisch fest. Otto nickte widerstrebend und drückte ihr die Broschüre des Arztes in die Hand. »Vielleicht kannst du in der nächsten Zeit danach kochen«, schlug er vor. 

   Rita überflog das bunte Heftchen. Ihr war das 16:8-Fasten durchaus ein Begriff. Sie hatte bereits selbst mit dem Gedanken gespielt, es mal damit zu versuchen. »Das hat nicht das Geringste mit Kochrezepten zu tun. Es geht vielmehr darum, dass du sechzehn von vierundzwanzig Stunden am Tag nichts zu dir nimmst und nur in den restlichen acht Stunden essen darfst.«

   »Wie soll das denn funktionieren?«, fragte Otto verwundert. »Das hieße ja, wenn ich wie immer um sieben Uhr morgens frühstücke, dass ich ab drei Uhr nachmittags nichts mehr essen dürfte.«

   Dieses unerfreuliche Rechenexempel wurde von Rita bestätigt, die aber sofort versuchte, die Schrecken dieser Maßnahme in etwas wärmeren Farben darzustellen. »Niemand schreibt dir vor, in welchen Zeitraum du deine Essensphase legst. Du könntest zum Beispiel auch auf das Frühstück verzichten und deine Mahlzeiten zwischen zwölf und zwanzig Uhr zu dir nehmen. Das würde ich sogar vorschlagen, weil damit unser gemeinsames Abendessen möglich wäre.«

   »Und was soll das bringen? Ich schaffe es locker, in acht Stunden fünftausend Kalorien zu mir zu nehmen.«

   »Das wäre wahrscheinlich nicht gerade Sinn der Sache. Jedenfalls habe ich mich neulich mit einer Kollegin darüber unterhalten. Die macht das schon seit Monaten und sagt, sie habe in der Zeit zehn Kilo abgenommen. Deshalb hatte ich auch schon darüber nachgedacht, ob ich es mal ausprobieren sollte.«

   »Du bist doch nicht dick, Rita«, sagte Otto verwundert.

   »Stimmt, aber zu unserer Hochzeit hatte ich ungefähr fünf Kilo weniger auf den Rippen.«

   »Das ist siebzehn Jahre und zwei Kinder her.«

   »Ja und?«

   »Existiert eigentlich mein altes Fahrrad noch? Hast du es nach dem Umzug noch irgendwo gesehen?«

   »Nein, das haben wir vor ein paar Jahren in Krefeld mit dem Sperrmüll rausgestellt. Und ich erinnere mich, es stand am anderen Morgen immer noch da. Es war in so schlechtem Zustand, dass es niemand haben wollte. Aber die Idee finde ich prima. Warum kaufst du dir nicht ein neues Rad und fährst damit zur Arbeit?«

   »Vielleicht schau ich mal in eine Versteigerung des Fundbüros herein.«

   »Unsinn! Warum nutzt du nicht den freien Nachmittag und kaufst irgendwo ein richtig schönes neues Rad, das gut läuft.«

   Otto stöhnte. »Jetzt mache ich mir erst mal einen Kaffee.«

   »Aber ohne Milch und Zucker«, forderte Rita konsequent. Otto, ein Freund des Milchkaffees, suchte sein Heil in der Ablenkung seiner Gattin.

   »Und wie läuft es bei dir? Hattest du eine angenehme Online-Vorlesung mit ungekämmten Studenten und den üblichen WLAN-Aussetzern?«

   Rita schüttelte gequält den Kopf. »Nein, aber ein lästiges Telefonat mit der Fakultätsleitung. Man hat mir einen richtig dämlichen Auftrag aufs Auge gedrückt. Ich soll ein Seminar fürs Wintersemester vorbereiten.«

   »Das machst du doch dauernd. Das hört sich doch eigentlich genau nach deiner Stellenbeschreibung an.«

   Rita seufzte. »Ein Seminar an sich ist natürlich kein Problem. Es ist das Thema, das mir büschelweise graue Haare bescheren wird. Ein Sponsor aus Düsseldorfer Wirtschaftskreisen, der der Heinrich-Heine-Universität verbunden ist, möchte seiner Frau, die ein paar Filme mit Emma Thompson und Keira Knightley gesehen hat und seitdem höchst kenntnisreich dem Jane-Austen-Fanclub angehört, eine Art Präsent machen. Und da die schon alles hat, finanziert er in ihrem Namen einen Forschungsauftrag zum Thema ›Heine und Austen - ein Vergleich‹. Ich habe die wundervolle Aufgabe bekommen, mit diesem Thema ein paar unwillige Studenten in einem Seminar zu quälen.«

   »Wo ist das Problem? Das hört sich für mich ganz vernünftig an.«

   Rita riss sich zusammen. Otto meinte das nicht böse. Er konnte die Problematik nur genauso wenig verstehen, wie sie seinen Berufsalltag. Warum zum Beispiel war es unbedingt erforderlich, einem Täter ein Geständnis zu entlocken, wenn man doch sowieso schon wusste, dass kein anderer die Tat begangen haben konnte?

   »Interessiert es dich wirklich oder möchtest du nur von der Milch im Kaffee ablenken?«

   Otto lächelte Rita an. Es interessierte ihn allein deshalb, weil er trotz ihrer langen Ehe und dem damit verbundenen Alltagstrott immer noch verliebt war in diese tolle Frau, die bereits vor knapp zwei Jahrzehnten, als dies noch nicht unbedingt den allgemeinen Wertvorstellungen entsprochen hatte, ihrer Familie und ihrem Freundeskreis sehr cool die Stirn geboten hatte, als sie ihn, den Mann aus Namibia mit dem Ebenholzteint, als Liebe ihres Lebens präsentiert hatte.

   »Es interessiert mich wirklich.«

   »Gut. Dann will ich versuchen, dir nur die allerersten Hindernisse zu schildern, denen ich mich momentan gegenübersehe. Jane Austens Werk ist quantitativ sehr überschaubar und ich kenne es beinahe auswendig. Schließlich beschäftige ich mich schon seit etlichen Jahren intensiv damit. Heinrich Heine ist mir natürlich auch nicht fremd. Schließlich arbeite ich an einer Universität, die seinen Namen trägt, und bin in Düsseldorf geboren, genau wie er. Aber ich bin alles andere als eine Expertin für seine Werke. 

   Um einen vernünftigen Vergleich zustande zu bringen, sollte ich alles von ihm gelesen haben, mindestens diagonal. Vorhin habe ich festgestellt, dass Heine deutlich fleißiger war als Jane Austen. Er bringt es auf ungefähr zehntausend Seiten Gesamtleistung. Die muss ich mir jetzt erst einmal zu Gemüte führen. Aber schon bei meinem derzeitigen Kenntnisstand weiß ich, dass ein Vergleich sehr mühsam wird, weil es kaum Gemeinsamkeiten gibt, abgesehen davon, dass sie Zeitgenossen waren. Jane Austen hat von 1775-1817 gelebt und Heine von 1797-1856.«

   »Na bitte. Da hast du doch den Club der toten Dichter. Immerhin haben beide zur gleichen Zeit Texte geschrieben. Das ist doch schon mal eine Gemeinsamkeit.«

   »Hitler und Gandhi waren auch Zeitgenossen und konnten schreiben. Aber das macht sie doch nicht vergleichbar. Jane Austen hat in Dörfern und Kleinstädten in England gelebt und über diesen Mikrokosmos geschrieben. Etwas anderes hat sie nie kennengelernt. Du findest praktisch keine politischen Aussagen in ihren Romanen. Heine dagegen war ein äußerst politischer Mensch, der mit seinen Schriften derartig aneckte, dass er ins Exil nach Frankreich gehen musste.« 

   Rita verzog Mitleid heischend das Gesicht, bevor sie zu ihrer üblich optimistischen Grundhaltung zurückkehrte. »Ach, irgendwelche Gemeinsamkeiten werde ich schon finden. Man muss nur lange genug graben.«

   »Wenn ein Mensch die beiden vergleichen kann, dann bist du das«, behauptete Otto, seine Frau liebevoll aufbauend. Er selbst hätte nicht die geringste Lust gehabt, zehntausend Seiten zu durchforsten auf der Suche nach Gemeinsamkeiten mit der von seiner Frau so sehr geschätzten englischen Dichterin. Ritas Job hätte ihn sowieso in den Wahnsinn getrieben. Auch ohne die Pandemie, die sie jetzt ins Home-Office zwang, fand für seinen Geschmack ihre Arbeit viel zu oft am Schreibtisch statt. Er brauchte den Umgang mit Menschen, selbst wenn es sich bei seiner Klientel häufig nicht gerade um nette Menschen handelte.

   »Soll ich dir einen Kaffee mitbringen? Ich würde dir sogar freistellen, ob du Milch und Zucker möchtest. Beides hebt die Laune, habe ich mir sagen lassen.«

   Rita lächelte ihren Mann an und versuchte unauffällig, die Tafel Schokolade, die sie sich für genau diesen Zweck aus der Speisekammer besorgt hatte, vor den Blicken Ottos zu verbergen, indem sie ein paar Computerausdrucke um wenige Zentimeter verschob. Wenn der Ärmste jetzt besonders gesund leben musste, wäre es gemein, ihm eine angebrochene Tafel Schokolade zu präsentieren.

   Nach dem gemeinsamen Kaffee, der beide ein wenig aufbaute, beschloss Otto tatsächlich, ein Fahrradgeschäft aufzusuchen, um sich dort beraten zu lassen, während sich Rita erneut den ›Englischen Fragmenten‹ zuwandte, einer ihr bislang unbekannten Reisebeschreibung, die, wie sie fand, nicht gerade zu Heines literarischen Glanzlichtern gehörte.

   Gut zwei Stunden später quälte sie sich gerade durch dessen Beurteilung der englischen Staatsverschuldung des Jahres 1828, als ihre Kernfamilie in vollständiger Dreierformation ihr Arbeitszimmer enterte. Dankbar nahm sie die Unterbrechung zur Kenntnis. 

   Otto hatte seine beiden Kinder vor der Haustür getroffen und ihnen sofort stolz das neue Fahrrad vorgeführt. Danach waren die drei gemeinsam die Treppe hochgelaufen, statt den Fahrstuhl zu nehmen: Otto wegen seiner guten Vorsätze, die vierzehnjährige Elinor, weil es für die Umwelt besser war, den Strom des Lifts zu sparen, und der sechzehnjährige Fitz, weil vier Etagen ihm überhaupt nichts ausmachten.

   »Mama, Papa hat sich ein E-Bike gekauft«, rief Elinor anklagend.

   »Über ein Moped hättest du noch mehr gemeckert«, sagte ihr Bruder.«

   »Na klar. Aber ein einfaches Fahrrad wäre umweltfreundlicher gewesen.«

   »Nicht nur das. Hätte es nicht auch deutlich besser zu deinem Fitnessprogramm gepasst?«, fragte Rita grinsend.

   »Unsinn«, erwiderte Otto genervt. Mit genau dieser Reaktion seiner Familie hatte er gerechnet. »Man ist schließlich nicht gezwungen, die elektrische Unterstützung einzuschalten. Wenn ich nicht gerade in schrecklichen Gegenwind gerate, kann ich es wie ein ganz normales Fahrrad benutzen. Außerdem erweitert es meinen Radius ganz erheblich, sodass ich jetzt auch zu beruflichen Terminen mit dem Fahrrad fahren kann. Und außerdem war es ein Sonderangebot. Es wäre eine Schande gewesen, das nicht auszunutzen.«

   Fitz lächelte seinen Vater überlegen an und hielt ihm sein Handy vor die Nase. »Da, schau mal. Im Internet hat es nur drei Sterne, unter anderem, weil es ein Auslaufmodell ist. Die Akkus der neueren Baureihe sind nämlich viel leistungsfähiger. Und außerdem hättest du es bei diesem Anbieter im Netz für knapp zweihundert Euro weniger bekommen.«

   Otto verließ wortlos das Arbeitszimmer seiner Frau, lief in die Küche, schnappte sich ein kaltes Bier aus dem Kühlschrank und ging damit auf den Balkon, von dem aus er einen wunderschönen Blick über Düsseldorfs Dächer bis hin zum Rheinturm hatte. Er ließ sich, bedient vom Tag, in einen bequemen Liegestuhl fallen, trank einen tiefen Schluck des eiskalten Bieres und rechnete nach, wie lange es noch dauern würde, bis seine Kinder nach dem Abitur ihr Elternhaus verlassen würden. Bis dahin würde er jedenfalls locker zehn Kilo abgenommen haben und der Polizeiarzt würde den Kopf schütteln darüber, wie schnell er es doch geschafft hatte, alle seine Werte wieder in den grünen Bereich zu bringen.

   Als Rita ein paar Minuten später auf den Balkon trat, fand sie ihren Ehemann leise schnarchend vor und löste vorsichtig die Bierflasche aus seiner Hand. Schließlich brachten Scherben nicht immer und ausschließlich Glück und mehr noch, irgendjemand würde sie auffegen müssen.

 

*

 

Rasmus Holm, Verkörperung einer seiner eigenen Meinung nach durchaus gottähnlichen Daseinsform, ehemaliger vorsitzender Richter am Oberlandesgericht und Luzies Vater in Personalunion, betrat nach einem Spaziergang durch das sonnige Gerresheim mäßig gelaunt wie häufig in diesem Juni das Treppenhaus, das er durchqueren musste, um in seine Wohnung zu gelangen. 

   Seine Stimmung, die permanent zwischen gereizt und gelangweilt schwankte, wurde täglich aufs Neue verhagelt durch die für ihn schwer erträglichen Einschränkungen, die ihm die Pandemie auferlegte. Mit siebenundsechzig Jahren gehörte er offenbar dieser Risikogruppe an, die es besonders schlimm erwischte, wenn sie denn erkrankte. Und das hatte Rasmus nicht vor. Er war zu intelligent, um die erschreckenden Bilder von Menschen auf Intensivstationen, die die Medien täglich präsentierten, zu ignorieren. 

   Also überlegte er sich dreimal jeden Schritt, bevor er sich irgendeinem unkalkulierbaren Risiko aussetzte. Aber einer solchen Anstrengung musste man sich nicht auch noch gut gelaunt unterziehen.

   Er hatte die Globalisierung immer schon für einen Fehler gehalten, vielleicht gerade mal abgesehen von der Möglichkeit eigener preiswerter Fernreisen oder dem günstigen Erwerb von Waren, an denen fleißige Kinderhände in der dritten Welt eifrig gewerkelt hatten. Was hätte es auch schon genutzt, nur Produkte Made in Germany zu kaufen? Die armen Kinder mussten schließlich auch von irgendetwas leben. Aber diese Chinesen hätten nun wirklich besser aufpassen können, anstatt auf dubiosen Märkten Fledermäuse zu verzehren, wahrscheinlich zu allem Überfluss auch noch mit Koriander gewürzt.

   Und was die Regierung in Berlin so trieb, war ja wohl auch alles andere als zielführend. Warum zum Teufel bekam sie diese Bedrohung nicht endlich in den Griff? Gut, die Zahlen waren gerade ganz annehmbar in diesen Sommertagen, aber wer wusste schon, wie es weitergehen würde. 

   Rasmus' bereits im Vorjahr gebuchte Nilkreuzfahrt war jedenfalls abgesagt worden. Eigentlich hätte er an genau diesem Tag durchs Tal der Könige wandern wollen und nicht durch die Benderstraße, auf der weit und breit kein Grab Tutanchamuns zu finden war. Dazu kamen diese verflixten Masken, die für Brillenträger einfach eine Zumutung waren. Sie stellten auch den gutwilligsten kurzsichtigen Menschen vor das Problem, entweder verseuchte Aerosole einzuatmen oder zumindest in der kälteren Jahreshälfte wegen beschlagener Gläser gegen das nächste Regal zu laufen.

   Rasmus wäre auch gern mal wieder ins Theater gegangen oder ins Stadion. Aber nichts war möglich in diesem Sommer. Der Erwerb des Terminplaners für dieses Jahr war so ungefähr die unsinnigste Ausgabe seines Lebens gewesen.

   Und wenn er sich auch nur milde beschwerte, reagierten Menschen wie seine Tochter sogar gereizt und wiesen auf Familien in Existenznot mit drei schulpflichtigen Kindern in einer sechzig Quadratmeter-Wohnung ohne Balkon hin. »Du hast doch nur Luxusprobleme, Papa«, hatte Luzie doch tatsächlich mitleidslos geäußert. Was wusste die schon von seinen Befindlichkeiten? Luzies Generation hatte schließlich noch Jahrzehnte vor sich. Ihm dagegen lief die Zeit davon. Aber das akzeptierte natürlich niemand.

   Rasmus öffnete den Briefkasten und entnahm ihm eine postkartenähnliche, amtlich aussehende Mitteilung, man habe ihn leider nicht angetroffen. Na und? Wurde jetzt auch noch von ihm erwartet, sich nur noch in seinen vier Wänden aufzuhalten? Jedenfalls bat man ihn, sich am nächsten Vormittag mit der für ihn zuständigen Polizeidienststelle in Verbindung zu setzen. 

   Rasmus witterte behördliche Schikanen. Gut, er würde da anrufen, aber falls man keinen sehr guten Grund für diese Belästigung eines unbescholtenen Bürgers hätte, würde sich sein Gesprächspartner warm anziehen müssen, auch wenn das Thermometer dreißig Grad anzeigte. 

  Er war mittlerweile in seiner Wohnung angekommen und inspizierte dort missmutig den wenig ansprechenden Inhalt seines Kühlschranks. Es würde wohl wieder auf das Angebot des Lieferservice hinauslaufen. 

   Und im Fernsehen gab es natürlich auch nichts. Konnten die nicht wenigstens in diesen Corona-Zeiten vernünftige Filme oder anspruchsvolle Quizshows oder so etwas bringen? Nein, natürlich hatten sich alle feinen Damen und Herren der Sendeanstalten in die Sommerpause begeben, anstatt den Menschen wenigstens Brot und Spiele zu bieten. Wieso zahlte er eigentlich diese Zwangsgelder an die GEZ? Vielleicht war es an der Zeit, einen erneuten Versuch anzustoßen, diese Gebühr für rechtswidrig erklären zu lassen. Und wer wäre für so einen Rechtsstreit prädestinierter als er?

   Nicht mal mehr Geisterspiele in der Bundesliga würde es in den nächsten Wochen geben. Und natürlich war die Fortuna noch am letzten Spieltag abgestiegen, weil deren nach Rasmus' Meinung viel zu hoch bezahlte Akteure an der Alten Försterei in Berlin Schlafwagenfußball gespielt hatten, während sich der Effzeh von Werder Bremen hatte abschlachten lassen - und das nur, damit der Feind von der anderen Rheinseite zweitklassig spielen musste in der nächsten Saison. Aber selbst die war noch weit weg. Hatte sich denn die ganze Welt gegen ihn verschworen? 

   Er studierte noch einmal die Aufforderung der Polizei und schnaubte erbittert. Glücklicherweise ahnte er noch nicht, was sich gerade über ihm zusammenbraute, und konnte sich daher an diesem Abend noch einmal ungestört an seiner nahezu grundlos schlechten Laune erfreuen. 

 

*

 

Axel hatte Glück. Er ergatterte tatsächlich das letzte vorhandene Exemplar der DVD mit dem vielversprechenden Titel ›Die Maske des Zorro‹ aus dem Jahr 1998. Er überlegte, ob es wohl sinnvoll sei, die Quittung für die nächste Spesenabrechnung aufzuheben, befürchtete aber, die entsprechende Dienststelle werde ihn eher auslachen, als das Geld auszuzahlen. Außerdem hatte es sich um ein stark reduziertes Exemplar gehalten, weil die Firma Saturn im Zeitalter von Streamingdiensten wohl kaum noch mit der Möglichkeit gerechnet hatte, diese in mehrfacher Hinsicht angestaubte DVD noch an irgendeinen Kunden zu bringen. Bei der Preisgestaltung hatte niemand mit den Kapriolen des Corona-Zorro und dem Diensteifer der Düsseldorfer Kripo rechnen können.

   Axel fuhr mit seinem Rad zurück ins Präsidium und widmete sich den Rest des Nachmittags der Akte, die ihm Cem Arat in die Hand gedrückt hatte. Er machte sich verschiedene Notizen, wie und wo er in den nächsten Tagen ansetzen wollte, um diesen Unruhestifter aus dem Verkehr zu ziehen. Sein Verdacht, dass dieser Zorro irgendwie Zugriff auf behördliche Dateien haben musste, verstärkte sich beim Lesen der einzelnen Fälle. 

   Während Zorro das Schild in der Bäckerei noch durchaus als Passant hätte wahrnehmen können, war das beim zweiten Fall, der Corona-Party, schon sehr unwahrscheinlich. Selbst wenn er zufällig als Nachbar von dieser Veranstaltung erfahren hatte, wären ihm ganz sicher die Daten der beteiligten Personen nicht bekannt geworden. Es musste also eine undichte Stelle bei der Polizei oder beim Ordnungsamt geben. Axel malte ein dickes Fragezeichen auf seinen Block. Er würde überprüfen, wem innerhalb der Stadtverwaltung der Zugriff auf wessen Daten möglich war. 

   Vielleicht konnte sogar jemand vom Garten- und Friedhofsamt die Namen und Adressen der Beteiligten einsehen, die das Ordnungsamt ermittelt hatte. Auf das Gartenamt stieß er, weil die Absperrgitter für die Baustelle vor der Bäckerei aus dem eigentlich verschlossenen Areal im Hofgarten stammten. 

   Axel sah auf die Uhr. Es war nach sechzehn Uhr. Deshalb würde er bei der Stadtverwaltung jetzt niemanden mehr erreichen. Er würde sich am nächsten Tag um diese Frage kümmern. 

   Außerdem würde er mit dem Opfer der Pfeffersprayattacke reden. Vielleicht hatte diese Frau Stolte doch irgendetwas bemerkt, was ihr einfallen würde, wenn man sie nur entsprechend sorgfältig befragte. 

   Axel hielt einen Moment inne. Verdiente dieser Zorro mit seinen Aktionen nicht doch ein Quentchen Sympathie oder selbst das nicht? In seiner Eigenschaft als Polizist war ihm natürlich bewusst, dass er das verneinen musste. Jede Form von Selbstjustiz war strikt abzulehnen. Aber so ganz Axel-intern? Nein, auch da nicht. 

   Hätte es Zorro bei den ersten beiden Streichen belassen, wäre das anders gewesen. Aber jede Form von Körperverletzung ging Axel einfach zu weit. Spätestens als Zorro den Angriff auf die Augen dieser ebenfalls unmöglichen Fahrradfahrerin unternommen hatte, hatte sich die möglicherweise latent vorhandene Sympathie für ihn erledigt.

   Am Ende seines Arbeitstages war Axel mit dem Lesen der Akte durch und fuhr mit der Zorro-DVD im Gepäck nach Hause. Er wusste genau, Luzie würde es wieder mal nicht schaffen, sich irgendetwas zum Abendessen zu besorgen, bevor sie ihn besuchte. Deshalb machte er einen Abstecher zur Immermannstraße und kaufte dort eine ordentliche Portion Sushi, von der er wusste, dass sie ihm jede Menge Pluspunkte bei seiner Freundin einbringen würde.

   Er stibitze nur ein einziges Maki-Röllchen, bevor er die Tüte im Kühlschrank verstaute. Er wusste, wenn er erst einmal so richtig anfangen würde, würde für Luzie nicht viel übrigbleiben. Also setzte er sich mit knurrendem Magen und einer Flasche Feierabendbier auf den Balkon. Er hatte das Glück, nicht allzu lange auf seine Freundin warten zu müssen. Bereits gegen Viertel nach acht stand sie vor ihm. Ihr Begrüßungslächeln wurde breiter, als sie von Axel Stäbchen und Sojasoße ausgehändigt bekam. 

   »Woher hast du gewusst, auf was ich heute Abend am meisten Appetit habe?«

   »Schwingungen und mentale Kraft«, behauptete Axel. Ich habe einfach gleichzeitig an dich und das Abendessen gedacht. Dann habe ich mein Fahrrad entscheiden lassen, wo es hinwollte. Es hat einmal gewiehert, ist dann losgaloppiert und hat mich in die Immermannstraße gebracht.« 

   »Wahrscheinlich hat dich Zorro bei deinem Ritt inspiriert«, vermutete Luzie und schnappte sich mit den Stäbchen routiniert ein Lachs-Nigiri, tunkte es in ein kleines Schälchen mit Sojasoße, und schob es sich mit Genuss in den Mund. Sie seufzte voller Wohlbehagen.

   »Hast du schon angefangen mit dem Film?«

   »Natürlich nicht. Du hast doch gesagt, du wolltest auch Zorros Bekanntschaft machen.«

   »Worauf warten wir dann noch? Ich esse am liebsten, wenn der Fernseher läuft.«

   In der ersten Szene im Jahre des Herrn 1821 sollten drei unschuldige kalifornische Bauern vom bösen Don Rafael Montero exekutiert werden, und zwar einfach nur deshalb, weil er es konnte. Dabei mochte aber der maskierte Don Diego de la Vega, alias Zorro, alias Anthony Hopkins, nicht einfach zuschauen. Nur mit der Hilfe zweier unschuldiger Knaben gelang es ihm, in einer sehenswerten One-Man-Show, eine ganze Armee zu besiegen und die Bauern zu befreien. 

   Als er mit einem einzigen Peitschenhieb sämtliche Gewehre des Exekutionskommandos auf einmal von den Delinquenten ablenkte, musste Luzie lachen. »Das erinnert mich gerade an Asterix und Obelix und die Römer«, sagte sie zu Axel. 

   Axel gähnte. Er hatte keine fünf Minuten gebraucht, um festzustellen, dass dieses Epos so überhaupt nicht die Sorte Film war, die den cineastischen Teil seines Herzens höherschlagen ließ. Auch die verfolgte Unschuld Catherine Zeta-Jones konnte ihn nicht mit dem Film-Abend versöhnen. Luzie entsprach deutlich mehr dem Frauentyp, den er hätte retten wollen. 

  Und so bekamen die beiden den Showdown am Ende des Films schon nicht mehr so richtig mit, weil sie sich spätestens seit der Sequenz, in der Anthony Hopkins Antonio Banderas zu einem erfolgreichen Rächer der Enterbten ausbildete, mehr aufeinander konzentrierten als auf die maskierten Helden. 

   Axel stellte verdrossen fest, dass er sich das Geld für die DVD hätte sparen können, denn alle Informationen, die eventuell für den Fall des Corona-Zorro interessant waren, hätte er sich auch ohne Kosten und Probleme bei Wikipedia besorgen können. Ein maskierter Held half den Guten und unschuldig Verfolgten, indem er über die Leichen der Bösen ging und denen am Ende auch noch mit seinem Degen ein Z in die Haut ritzte, damit auch dem Letzten klar wurde, wer dieser Retter war. Da Zorro als Einzelkämpfer operierte, war er gezwungen, mit List und Tücke zu agieren, damit sich ein einziger Degen gegen im Schnitt hundert bewaffnete Gegner durchsetzen konnte. 

   Mit Zorros Tricks und dessen Psyche würde er sich am nächsten Tag im Dienst beschäftigen, nahm sich Axel vor und stattdessen lieber seine Freundin in den Arm.

 

  

 

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