Auf der anderen Erde

Kristallabenteuer 1

529 Seiten

Für Leser ab zehn Jahren

 

Taschenbuch

ISBN 9781508814795

 

E-Book

 


Leseprobe

 

Teil 1: Die aufgabe

 

»Verflixt und zugenäht«, schimpfte Frau Oboss, als das Licht erst immer stärker flackerte und schließlich ganz ausging. »Aber an diesen Stromschwankungen seht ihr, ich übertreibe wirklich nicht. Wir müssen ganz dringend etwas unternehmen. Wo hab ich denn bloß die Streichhölzer? Autsch! Wer zum Teufel hat den Stuhl mitten in den Raum gestellt? Na bitte, da sind sie ja«, sagte sie schließlich erleichtert. Lilli hörte es ratschen und sah dann das angestrengte Gesicht ihrer Patentante, die sich über eine Kerze beugte. Die Brille war ihr bis auf die Nasenspitze gerutscht. Es gelang Frau Oboss gerade noch, die Kerze anzuzünden, bevor das Streichholz erlosch. Sie steckte den Finger, den sie sich dabei ein kleines bisschen verbrannt hatte, in den Mund und unterdrückte einen weiteren Fluch. Schließlich waren Kinder in ihrem Büro.

Wie zur Belohnung für diesen Verzicht flackerte das elektrische Licht erneut und strahlte dann wieder, ganz so, als ob nichts gewesen wäre. Frau Oboss blickte es strafend an, als hätte die Lampe Schuld an allem. 

Sie pustete die Kerze wieder aus, nahm sie und die Streichhölzer aber vorsichtshalber mit und setzte sich wieder hinter den großen Schreibtisch in ihrem Amtszimmer. Vor ihr auf den unbequemen Besucherstühlen saßen Lilli und Paul mit einigermaßen angespannten Gesichtern. Besonders Paul war es nicht gewohnt, zur Bürgermeisterin gerufen zu werden. Lilli dagegen hatte bereits früh gelernt, Abwehrmechanismen gegen Frau Oboss strenge Zuneigung zu entwickeln. Frau Oboss war eine Art Respektsperson und keine Kuschelpatentante. Was hatten sich ihre Eltern damals bloß bei dieser Wahl gedacht? 

»Ich hoffe, ihr habt verstanden, um was es geht und warum ich der Meinung bin, dass ihr die Richtigen für dieses Unternehmen seid«, sagte Frau Oboss und rang sich dabei ein, wie sie fand, freundliches Lächeln ab. Lilli sah die Grimasse und schloss für einen Moment gequält die Augen. Das konnte doch alles nicht wahr sein. Ausgerechnet sie sollte Retterin der Welt werden, na ja zumindest Retterin des Ortes Neustadt an der Knister. Und damit nicht genug, an ihrer Seite sollte dieser dämliche Paul der zweite Retter werden. 

Immer noch bemüht, die Mundwinkel oben zu halten, beendete Frau Oboss ihren Monolog mit dem Satz. »Morgen lernt ihr den Dritten eurer Gruppe kennen.« Dabei erhob sie sich, um anzudeuten, dass die Audienz beendet sei.

Lilli bekam Panik. Alles schien über ihren Kopf hinweg bereits beschlossene Sache zu sein. Sie wurde überhaupt nicht gefragt, ob sie eine Heldin werden wollte. Wenn sie gefragt worden wäre, hätte sie vermutlich sogar zugestimmt, aber zu ihren Bedingungen und bestimmt nicht mit Paul. Lilli fühlte sich eigentlich immer verantwortlich und war stets diejenige, an der unangenehme aber notwenige Aufgaben hängen blieben. Jetzt stand sie auf und verließ schweigend mit Paul das Arbeitszimmer der Bürgermeisterin. Wer Frau Oboss auch nur ein klitzekleines bisschen kannte, wusste, dass Widerspruch sowieso zwecklos gewesen wäre. Auch Paul, der zwar eigentlich überhaupt nicht dazu neigte, erst nachzudenken und danach zu handeln, wusste, wann eine Situation völlig aussichtslos war und hielt den Mund.  

Hinter Lilli ging er aus dem Büro und schloss leise die Tür. Immer noch schweigend liefen sie die breite, knarrende Holztreppe hinunter und verließen das Rathaus. Sie hatten keinen Blick für seine schöne Backsteinfassade. Die Kirchturmuhr schlug neunmal und nur die Straßenlaternen erhellten Neustadts Kopfsteinpflaster. 

Lilli übernahm die Initiative und funkelte Paul ärgerlich an: »Wir müssen reden!« Paul nickte. Eine gewisse Kommunikation mit der ewig alles besser wissenden Lilli würde unumgänglich sein. »Und, was sagst du dazu?«, bohrte sie.

»Cool.«

»Was???«

»Was an cool verstehst du nicht?«

Lilli starrte Paul fassungslos an. Anscheinend war er jetzt völlig übergeschnappt. Obwohl, so ungewöhnlich war seine Reaktion jetzt doch nicht, wahrscheinlich hatte er im Büro von Frau Oboss wieder mal nur die Hälfte verstanden und die auch noch falsch. Paul funkelte zurück. 

»Wo ist dein Problem? Unsere Stadt braucht uns. Das hat Frau Oboss doch ganz klar gesagt. Also haben wir überhaupt keine Wahl. Außerdem finde ich es einfach cool.«

»Ja, das sagtest du schon. Entschuldige, dass ich deine Begeisterung trotzdem immer noch nicht teilen kann.«

Paul suchte nach Worten, solchen Worten, die es selbst Lilli, dieser ewigen Bedenkenträgerin ermöglichen würde, seinen Visionen zu folgen.

»Wir müssen nicht in die Schule, wir machen eine tolle Reise, wir erleben Abenteuer, wir retten Neustadt, wir werden Helden, wir brauchen deshalb auch danach nie mehr in die Schule, wir werden reich und berühmt.«

»Träum weiter.«

»Wenn du nicht mitmachen willst, umso besser. Ich verstehe sowieso nicht, wieso sie ausgerechnet dich ausgesucht hat. Ich würde mit jedem anderen lieber fahren als mit dir.«  

»Wahrscheinlich hat sie gedacht, es wäre besser, wenn jemand dabei ist, der mehr als eine Gehirnzelle hat.«

»Dann verstehe ich nicht, wieso sie ausgerechnet auf dich gekommen ist.«

 

*

 

Frau Oboss hatte tatsächlich etwas ganz Ähnliches überlegt, als sie die Expedition zur Rettung des Ortes Neustadt an der Knister zusammengestellt hatte. Lilli, ihr Patenkind, hatte den berechtigten Ruf, erst zu handeln, wenn sie gedacht hatte, was dazu führte, dass sie relativ viel dachte und wenig handelte. Paul dagegen würde den Motor der Gruppe bilden, der sich ohne langes Nachfragen mutig in jedes Abenteuer stürzen würde. Außerdem hatte sie ihn neulich beim Schulfest bewundert, wo sie im Hinblick auf die nächste Wahl Elternhände geschüttelt und er als Star der Zirkus-AG seine akrobatischen Fähigkeiten eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte. Lilli und Paul würden sich schon zusammenraufen, dachte sie optimistisch. Frau Oboss war Politikerin, deshalb neigte sie zum Optimismus. Sie hatte allerdings, obwohl sie Politikerin war, ein feines Gespür für Stimmungen und so war ihr die Kaltfront zwischen Lilli und Paul nicht entgangen.

Frau Oboss nahm einen Stapel Papiere in die Hand und schob ihre Brille, die immer Richtung Nasenspitze rutschte, in die Ausgangsposition zurück. Sie würde noch ein Stündchen arbeiten müssen, auch wenn es schon spät war. Aber die Expedition musste extrem gut geplant werden, besonders weil ihre Teilnehmer so jung sein würden. Sie hätte deutlich lieber Erwachsene zur Ahorninsel geschickt, aber das war natürlich völlig ausgeschlossen. Mit wenig Freude sah sie der unweigerlich auf sie zukommenden Auseinandersetzung mit Lillis Eltern entgegen. Sie sah ihre beste Freundin, Lillis Mutter, deutlich vor sich und hörte ihre Stimme: »Marieluise, wie konntest du nur? Warum ausgerechnet Lilli? Sie ist doch erst zwölf. Sie schafft das nicht. Wenn ihr etwas passiert, rede ich nie wieder mit dir.« Paul, der mit Lilli in einer Klasse war, war Waise und lebte bei seiner Großmutter. Auch die würde nicht glücklich sein, aber andererseits, wer seinem Enkel erlaubte, auf dem Hochseil zu balancieren, würde wahrscheinlich nicht ganz so empfindlich reagieren. 

Frau Oboss dachte noch einen kleinen Moment darüber nach, wie ungerecht es doch war, dass sie als Bürgermeisterin die ganze Verantwortung allein zu tragen hatte, und wandte sich dann der Frage zu, wen sie den beiden Menschheitsrettern am besten als Dritten des Teams an die Seite stellen könnte, jemanden fürs Grobe sozusagen, als sich nach einem kurzen Klopfen ihre Bürotür öffnete. Da sie keine Chance gehabt hatte, »herein« zu rufen, runzelte sie die Stirn. Herr Kenneden betrat unaufgefordert den Raum, ging zu ihrem Schreibtisch und setzte sich auf einen der Besucherstühle. Immerhin waren sie unbequem, dachte Frau Oboss mit einer gewissen Genugtuung.

Herr Kenneden, der Führer der Oppositionspartei in Neustadt, hatte Frau Oboss an diesem Abend nämlich gerade noch gefehlt. Außerdem fand sie es unverschämt, dass er einfach so hereinplatzte, als ob es sich um sein Büro handelte, was der Himmel auch künftig verhüten möge, dachte sie fromm. 

»Was verschafft mir das unerwartete Vergnügen?«, fragte sie streng, während ihre Brille schon wieder der Schwerkraft folgte und nach unten rutschte, was ihr ein etwas verhuschtes Aussehen gab. Herr Kenneden kannte sie jedoch zu gut, um darauf hereinzufallen.

»Ich glaube nicht, dass es ein Vergnügen für Sie wird, Frau Kollegin.«

»Habe ich irgendetwas nicht mitbekommen? Sind Sie im Nachbarort zum Bürgermeister gewählt worden, Herr, ähm, Kollege?«

»Reden Sie keinen Unsinn. Sie wissen genau, wie ich das gemeint habe. Wir sind Politikerkollegen, leider, muss ich sagen.«

»Kommen Sie zur Sache. Ich sitze hier um diese Uhrzeit nicht zum Vergnügen.«

Herr Kenneden war ein großer, gut aussehender Mann, Ende vierzig, stammte aus einer wohlhabenden Familie und hatte nur ein einziges Ziel, nämlich Frau Oboss als Bürgermeister von Neustadt abzulösen. Für ihn wäre es also ein Vergnügen gewesen, selbst abends um Viertel nach neun auf Frau Oboss Stuhl zu sitzen und über den Geschicken der Neustädter Bürger zu brüten. Aber wenn sie nach Hause wollte, je eher desto besser.

»Ich habe die vergangene Stunde nebenan in der Stadtbibliothek verbracht und konnte daher nicht umhin, das eine oder andere Ihrer Unterhaltung mit den Kindern mitzuhören«, begann er. 

»Die Bücherei ist seit Stunden geschlossen.«

»Ich habe einen Schlüssel. Ich arbeite hier oft abends.«

Frau Oboss verfluchte die klamme Finanzlage der Stadt, die es ihr unmöglich gemacht hatte, eine Schallschutztür zwischen ihrem Büro und der Bücherei einbauen zu lassen. Normalerweise lief der Informationsfluss umgekehrt. Sie hörte unfreiwillig die nervtötenden Beratungsgespräche zwischen dem Bibliothekar und seinen Kunden, während sie sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren versuchte. Also wusste sie, es war leider nur zu wahr, man verstand jedes Wort, besonders wenn man sein Ohr an die Tür presste, was sie bei Herrn Kenneden voraussetzte. Jetzt galt es erst einmal, den Gegner kommen zu lassen, um herauszubekommen, was er gehört und was er sich zusätzlich zusammengereimt hatte. »Ja und?«, fragte sie daher.

Herr Kenneden packte seinen ganzen Frust in einen einzigen, wenn auch langen Satz: »Offensichtlich haben Sie die Bürger im Unklaren darüber gelassen, wie verzweifelt die Lage in Neustadt ist und außerdem setzen Sie jetzt das Leben Minderjähriger aufs Spiel, um dann hinterher als Retterin dazustehen und das alles nur, um wiedergewählt zu werden.«

Frau Oboss überlegte einen Moment, bevor sie antwortete, denn Herr Kenneden hatte in einigen Punkten recht: Die Lage war verzweifelt, denn Neustadts Kristallenergien wären vor dem Winter aufgebraucht und das hätte Dunkelheit und Kälte für alle zur Folge. Sie war gezwungen, die Lösung des Problems Minderjährigen zu übertragen, weil, wie jeder, also auch Herr Kenneden wusste, Erwachsenen wegen der zunehmenden Kristalldiebstähle das Reisen verboten und daher lebensgefährlich war und aus diesem Grund nur noch Kinder und Jugendliche unterwegs sein durften. 

Ja, die Rolle der Retterin würde bei den Wahlen im kommenden Jahr sicherlich für den einen oder anderen Prozentpunkt zu ihren Gunsten sorgen. Folgerichtig sagte sie: »Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden«, und schob dabei lässig ihre Brille nach oben.

Herr Kenneden grinste betont ungläubig: »Wen wollen Sie hier für dumm verkaufen?«

Frau Oboss, die bereits seit einiger Zeit unter Druck stand, öffnete ihr Gefühlsventil und wurde extrem ärgerlich. »Wenn Sie nicht nur alles wissen, sondern selbstverständlich auch wieder mal alles besser wissen, machen Sie doch mal einen Vorschlag, wie wir mit dem Kristallproblem fertig werden sollen. Soll ich die Neustädter in Angst und Schrecken versetzen? Was glauben Sie, wäre hier los, wenn die Leute wüssten, wie dicht wir vor dem Energiekollaps stehen? Eine Völkerwanderung in die Nachbarorte würde stattfinden. Und dabei stehen alle vor dem gleichen Problem. Die Kristalle sind demnächst ausgebrannt, in Neustadt genauso wie in den anderen Orten in Siebenstreich, die einen trifft es nur vielleicht ein paar Monate früher als die anderen. Unsere einzige Chance besteht darin, neue Kristalle zu besorgen, und diese Chance lasse ich mir von Ihnen nicht kaputtmachen.«

Herr Kenneden, der all dies natürlich gewusst oder zumindest befürchtet hatte, zauberte einen mitfühlenden Ausdruck auf sein Gesicht: »Als ob ich den Bürgern meiner geliebten Stadt die Chance zum Überleben rauben wollte? Ganz im Gegenteil: Ich will sie verdoppeln, nein sogar vervielfachen. Ihre Idee, eine Gruppe von Jugendlichen zur Ahorninsel auszusenden, hatte ich selbstverständlich auch bereits. Ich bin nur der Meinung, man sollte es nicht bei einer Gruppe belassen. Machen Sie einen Wettbewerb daraus und schicken Sie mehrere Gruppen. Mein Sohn Linus ist sicherlich dabei.«

»Sie wollen also das Leben Ihres Sohns aufs Spiel setzen, nur um dann später die Lorbeeren einzuheimsen«, stellte Frau Oboss bitter fest.

»Es geht mir selbstverständlich nicht um Lorbeeren. Außerdem habe ich vier Söhne«, antwortete Herr Kenneden, »die sicher alle patriotisch genug wären, sich für das Wohl unserer Stadt zu opfern. Und diese Lilli ist ihr Patenkind, oder irre ich mich?«

Frau Oboss dachte zähneknirschend nach. Das dauerte ein bis zwei Minuten. Dann hatte sie einen Entschluss gefasst. In dieser lokalen Existenzkrise musste sie in gewissem Maße mit der Opposition zusammenarbeiten. Es wäre eine Katastrophe, wenn Herr Kenneden am nächsten Morgen die gesamte Stadt rebellisch machen würde. »In Ordnung. Da es für das Wohl der Bevölkerung sinnvoll ist, bin ich mit ihrem Vorschlag einverstanden. Wir werden eine Art Ausschreibung veranstalten und, sagen wir mal, drei Dreiergruppen losschicken, alle mit den gleichen Mitteln und Informationen ausgestattet und dann können wir nur hoffen, dass eine der Gruppen Erfolg haben wird.«

»So viel Vernunft hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut«, sagte Herr Kenneden lächelnd. Er wusste schon, welche Gruppe gewinnen würde. Schließlich hatte Linus seine Erfolgsgene geerbt.

 

*

 

Rund zweihundert Jahre bevor Herr Kenneden zufrieden mit dem Verlauf des Abends nach Hause eilte, um seinen Ältesten von seiner künftigen Heldenrolle in Kenntnis zu setzen, raste ein ziemlich riesiger unaufmerksamer Komet mit mangelhaftem Orientierungssinn durchs All, ohne zu ahnen, dass sich ihm wenige Sekunden später ein großer Himmelskörper in den Weg stellen würde. Es gab einen gewaltigen Krach, der selbst einige Planeten weiter noch zu hören war – wenn auch wegen der Schallgeschwindigkeit erst einige Jahre später – und ein seltsames Phänomen fand statt. Der runde Himmelskörper teilte sich wie eine Zelle in zwei runde Planeten, von denen einer nach ein paar unkoordinierten Bewegungen wieder in seine Umlaufbahn schaukelte, während der andere Fahrt aufnahm und verschwand. Der Planet, der nur ein bisschen außer Kontrolle geraten war, wird von den Bewohnern Erde genannt, der andere, der seinen Bestimmungsort auf der gleichen Umlaufbahn um die Sonne exakt auf der gegenüberliegenden Seite gefunden hat, heißt dagegen bei seinen Bewohnern Erde. Weil die beiden Erden immer die Sonne genau zwischen sich haben, wissen die Bewohner bis heute nichts voneinander. 

Auf der neuen, zusätzlich entstandenen Erde war der Meteor eingeschlagen und in viele kleine und größere Kristalle zersplittert. Ein Großteil dieser Kristalle blieb in der Nähe des Einschlagkraters liegen, aber kleinere Bröckchen verteilten sich über die gesamte Fläche des Planeten. Im Krater stieg das Grundwasser hoch und es bildete sich ein großer See mit einer Insel in der Mitte aus Kristallgestein. Im Laufe der Zeit wehte Erde auf die Insel und verdeckte den Kristalluntergrund. Ahornsamen fanden ihren Weg dorthin und so erhielt die Insel ihren Namen, die Ahorninsel.

Durch einen Zufall entdeckten die Menschen auf dieser zweiten Erde, dass die blauen, roten und weißen Meteorkristalle verblüffende Eigenschaften hatten. Während es reichlich blaue und rote Kristalle gab, kamen die weißen ziemlich selten vor. Daher dauerte es eine, wenn auch nicht allzu lange Zeit, bis ein Erfinder herausfand, dass die weißen Kristalle, wenn man sie entweder mit den roten oder den blauen in direkte Verbindung brachte, eine erstaunliche Wirkung entfalteten. Die roten Kristalle gaben Wärme und Licht ab, die blauen ließen Quellen besten Trinkwassers sprudeln.

Dieser geniale Erfinder namens Theo Tütenknall sorgte dafür, dass innerhalb weniger Jahre auf der neuen Erde überall kleine Kristallkraftwerke entstanden, die die Orte mit Wärme, Licht und Wasser versorgten. Es gelang ihm, diesen Strom mittels Leitungen in die Haushalte zu bringen und das lange, bevor man auf Erde 1 damit begann, Elektrizität sinnvoll zu nutzen. Leider folgten aber auf diesen Tütenknall keine weiteren begnadeten Erfinder. Woran es genau lag, dass der Forschergeist der Menschen auf der neuen Erde nicht allzu ausgeprägt war und sie sich mit ihrem Energie-Schlaraffenland zufrieden gaben, ist nicht überliefert. Tatsache aber ist, dass weder nach weiteren Nutzungsmöglichkeiten noch nach anderen Energiequellen gesucht wurde, nachdem Tütenknall so prächtig für Licht, Wärme und Wasser gesorgt hatte.

Und so traf es die ersten Orte mit besonders kleinen Kristallen völlig unvorbereitet, als deren Wirkung anfing, nachzulassen. Weil die Menschen ohne Wasser und Wärme nicht überleben konnten, wichen sie in Nachbargemeinden aus. Das ging so lange gut, bis diese Wanderungen überhand nahmen, Kristalldiebstähle an der Tagesordnung waren und ein tiefes Misstrauen zwischen den Bürgern von Städten und den Fremden, die dort Zuflucht suchen wollten, herrschte. Erwachsene, die zwischen den Städten pendelten, befanden sich in höchster Lebensgefahr. Der Handel zwischen den Orten kam praktisch zum Erliegen. Informationen, wie es denn auf anderen Kontinenten so lief, hatte man in Siebenstreich zum Beispiel überhaupt nicht. Es musste also dringend etwas geschehen. Und das wussten auch Frau Oboss und Herr Kenneden.

 

*

 

Linus bastelte in seinem Zimmer an einer eigenartigen Apparatur, und versuchte gerade hoch konzentriert, zwei Drähte an einem anderen Bauteil zu befestigen, als es kurz an der Tür hämmerte. Sein Vater hatte wie üblich nur pro forma geklopft und stand schon im Zimmer, bevor Linus auch nur reagieren konnte. Linus war klug genug, den Mund zu halten und sah seinen Vater nur schicksalsergeben an. Herr Kenneden setzte sich auf Linus Bett. »Du hast wahrscheinlich bemerkt, dass die Stromausfälle immer schlimmer werden.« Linus nickte und deutete auf die Apparatur. »Jap. Ich versuche gerade, ein Gerät zu bauen, das den Strom speichert, damit man ihn auch dann benutzen kann, wenn die Kristalle mal wieder spinnen.« 

»Und, funktioniert es?« 

»So weit bin ich noch nicht. Morgens hält mich die Schule auf und nachmittags geben die verdammten Kleinen keine Ruhe.« 

Herr Kenneden wusste sehr genau, wen Linus mit den verdammten Kleinen meinte, nämlich seine drei weiteren Hoffnungsträger Magnus, Rufus und Justus. 

»Wie wäre es, wenn du die drei mal für eine Weile los wärst?«, fragte Herr Kenneden heiter. 

»Genial. Sperrst du sie ein oder ich?«

»Nein, nein, aber du könntest eine Reise machen, natürlich ohne sie.« 

Linus sah seinen Vater prüfend an. Eigentlich neigte der so überhaupt nicht zu spaßhaften Bemerkungen. Und jeder wusste, dass Reisen mittlerweile so lebensgefährlich geworden waren, dass sogar Trips in die Nachbarorte nicht mehr in Frage kamen. Was sollte also diese blöde Bemerkung?

»Ich habe den Witz nicht verstanden«, sagte Linus. »Kann ich jetzt weitermachen? Ich bin nämlich ganz gespannt, was passiert, wenn die beiden Drähte den Kristall mit dem Metallstück verbinden.«  

Herr Kenneden sah genauer hin. »Woher hast du die Kristallbröckchen?«

Linus blickte an seinem Vater vorbei und schwieg. Herrn Kennedens Achtung vor seinem Erstgeborenen stieg noch ein wenig. Sein Sohn, seine Gene! »Ich nehme an, du hast sie gefunden.« 

Linus nickte. »So ungefähr.«

»Und jetzt suchst du eine Lösung für Neustadts Probleme.«

Linus, der eigentlich eher versucht hatte, eine Lösung für seine höchstpersönlichen Energieprobleme zu finden, etwa, weil er abends nicht mehr vernünftig lesen konnte ohne Licht, nickte wieder und wiederholte sich. »So ungefähr.«

»Sehr lobenswert, aber ich fürchte, wir müssen globaler denken. Mit einem Energiekonservierer ist es leider nicht getan. Wir brauchen dringend neue Kristalle. Die alten sind fast am Ende. Und ich setze meine ganze Hoffnung in dich. Neustadt braucht dich. Du musst die Kristalle besorgen.«

»Wie stellst du dir das vor? Du sagst doch selbst, die Kristalle sind am Ende. Da bringt es doch nichts, wenn ich noch mal welche, ähm, finde. Außerdem ist das verdammt schwierig. Du weißt, dass sie ständig bewacht werden.«

»Es geht nicht um unseren Kristallvorrat. Jenseits der Westsee gibt es riesige Vorkommen von unbenutzten Kristallen. Nur damit können wir langfristig überleben.«

Linus war sprachlos, was bei ihm wirklich nicht häufig vorkam und definitiv nie lange anhielt.

»Ich komme gerade von einem Gespräch mit Frau Oboss. Ausnahmsweise sind wir einmal einer Meinung. Ohne neue Kristalle werden wir alle erfrieren. Und du weißt, Erwachsene können nicht reisen. Sie wären tot, bevor sie den nächsten Ort erreicht hätten. Frau Oboss schickt ihr Patenkind Lilli los zusammen mit Paul, dem Hochseilakrobaten. Kennst du die beiden?«

»Ja, aber nicht gut. Sie sind zwei Klassen unter mir.«

»Ein Grund mehr, warum du sie abhängen wirst.«

Linus konnte kaum glauben, was er da hörte. Er atmete tief durch. Was für ein Abenteuer! Was für eine Gelegenheit, lebenslang zum Helden zu werden!

»O.K. Soll ich alleine los?«

»Nein, ich und Frau Oboss haben beschlossen, dass Dreiergruppen am effektivsten sind. Wir müssen sehr genau überlegen, wen wir dir an die Seite stellen. Schließlich sollt ihr gewinnen. Hast du Vorschläge?«

»Auf jeden Fall Albert.«

Vor Herrn Kennedens innerem Auge tauchte Alberts freundliches Gesicht und seine muskulöse Gestalt auf. Er nickte. »Eine gute Wahl. Du denkst für ihn und er macht dir den Weg frei. Außerdem wird er nicht lange diskutieren, sondern tun, was du von ihm willst. Und wer soll der Dritte sein?«

»Keine Ahnung. Ich denke, wir brauchen keinen Dritten.«

»Doch, doch. Dreierteams sind vereinbart. Und wir werden den anderen keinen Vorteil überlassen. Denk doch mal nach. Jeder kann irgendetwas. Wir müssen einfach jemanden finden, der euch beide ergänzt.« Linus konnte sich nicht vorstellen, wie das funktionieren sollte. Aber phhh, sollte sich doch sein Vater darum kümmern, das war schließlich nicht sein Problem. 

Dieser Gedanke sollte sich als einer der größten Irrtümer seines bisherigen vierzehnjährigen Lebens erweisen, aber das konnte Linus zu diesem Zeitpunkt nun wirklich nicht ahnen. 

Herr Kenneden nickte seinem Ältesten freundlich zu und verließ den Raum. Er fand, er hatte den ersten Teil seiner Mission tadellos erfüllt. Linus war bereit. Aber das lag natürlich auch an seiner Erziehung und den hervorragenden Genen, seinen Genen. Jetzt stand ihm allerdings die deutlich schwierigere Hälfte seiner Mission bevor. Er betrat das Wohnzimmer und sah, dass seine Frau mit Rufus und Magnus am Tisch saß. Ein Brettspiel war aufgebaut. Offenbar war Justus bereits ins Bett verfrachtet worden, sicherlich nicht ohne Protest, wenn er an dessen Gene dachte. Rufus hatte eine Karte in der Hand und las von ihr ab: »Gehe in den Kerker. Begebe dich direkt dorthin. Gehe nicht über Los. Ziehe keine 4000 Taler ein. Schei…« - »Rufus!!! Noch einmal solch ein Ausdruck, und bist im Bett«, fiel ihm seine Mutter ins Wort. »…benkleister, wollte ich sagen. Aber ich hab sowieso keine Lust mehr«, heulte er. »Keiner kommt auf meine Straßen. Keiner will in meinen Gasthof!« 

Magnus protestierte. »Eben hab ich dir erst 1000 Taler Miete gezahlt, weil ich auf deinen blöden roten Kristall gekommen bin.« Der rote Kristall erinnerte Herrn Kenneden an seinen heiklen Auftrag. »Ihr beide geht jetzt sowieso ins Bett. Ich muss mit eurer Mutter reden.«

»Es ist erst kurz nach zehn«, maulte Magnus. »Und morgen kommst du wieder nicht aus dem Bett«, stellte Frau Kenneden fest. Sie wusste, wovon sie sprach.

Ein paar Minuten später hatten Linus Brüder aufgegeben und Frau Kenneden packte Gasthöfe, Kristalle, Würfel und Ereigniskarten zurück in den Karton. »Du wolltest etwas mit mir besprechen?« Herr Kenneden räusperte sich unbehaglich. Er konnte sich ziemlich genau vorstellen, wie die nächste Viertelstunde ablaufen würde und er täuschte sich nicht. Am Ende dieser relativ kurzen Zeit war seine Frau in Tränen aufgelöst und verweigerte sich immer noch allen Argumenten. Herr Kenneden war am Ende seiner Geduld. »Mein Gott, Rosi, du wirst die Mutter eines Helden!« 

»Und wenn ihm etwas passiert, bin ich die Mutter eines toten Helden.«

»Aber Rosi. Denk doch mal nach. Linus hat schließlich meine Gene, ähm, unsere Gene, meine ich natürlich. Wer wäre geeigneter, uns alle zu retten? Außerdem, was ist denn schließlich schon dabei? Keiner wird ihm etwas tun. Denk an das Kinderschutzabkommen. Er fährt zur Ahorn-Insel, kauft die Kristalle und kommt damit zurück. Wo ist das Problem? Außerdem ist Albert dabei. Der wird ihn schon beschützen.«

Frau Kenneden hatte viel mehr Phantasie und Realitätssinn, was sich in diesem Fall überhaupt nicht gegenseitig ausschloss, und sah daher eine Menge Probleme, die ihrem Mann offenbar überhaupt nicht in den Sinn kamen. »Wenn es so einfach wäre. Aber es ist eine weite Reise, auf der alles Mögliche passieren kann. Sie müssen über die Westsee, da gibt es Stürme und Piraten. Und selbst wenn sie es bis ans andere Ende des Ozeans schaffen, was erwartet sie da? Wo liegt eigentlich diese Ahorninsel genau?«

Damit hatte Frau Kenneden den Finger auf eine wunde Stelle gelegt, die ihr Mann eigentlich vor ihr verbergen wollte. »Tja, sie liegt halt in Betterland.«

»Und wo da genau?«

»Das Kartenmaterial ist leider etwas ungenau. Aber sie werden sich schon durchfragen. Und sie bringen uns dadurch auch jede Menge Informationen für die nächste Reise mit.«

»Das heißt also, du schickst unseren Sohn auf eine Expedition mit ungewissem Ziel. Und was weiß man über die Leute, die da wohnen?«

Herr Kenneden improvisierte. »Ein nettes, friedliches Völkchen, Kaufleute. Sie werden begeistert sein, ein paar Kristalle gegen harte Devisen abgeben zu können. Und außerdem Rosi, jetzt gib endlich Ruhe. Einer muss es machen und du und ich können es nicht tun. Es gibt keinen Besseren als Linus. Oder willst du etwa dafür verantwortlich sein, wenn Justus demnächst erfriert?« 

Frau Kenneden schluchzte noch einmal kurz und beugte sich dann diesem unwiderlegbaren Argument. 

»Du hast gesagt, sie fahren zu dritt. Wer ist der Dritte?«

»Ähm, wir prüfen momentan noch die Optionen.«

Frau Kenneden richtete ihren ziemlich üppigen Oberkörper auf, schnaubte einmal kräftig in ihr Taschentuch und verlangte: »Wenn du willst, dass ich mit dieser verrückten Angelegenheit einverstanden bin, dann bestimme ich, wer die beiden begleitet.«

»Wen hast du im Sinn?«, fragte Herr Kenneden vorsichtig.

»Maximiliane natürlich!«

»Aber Liebes, Linus braucht doch keinen Babysitter.«

Frau Kenneden war anderer Ansicht, war aber klug genug, in diesem Punkt ihre Meinung für sich zu behalten.

»Darum geht es nicht. Außerdem ist sie Justus Babysitter und war nie der von Linus. Das wäre ja auch gar nicht möglich gewesen. Schließlich ist sie ein Jahr jünger als er. Aber sie ist äußerst sprachbegabt, was den Jungen in der Fremde zugute kommen wird und außerdem ist sie vorsich… ähm hat sie eine hohe soziale Kompetenz. Und Schluss jetzt, entweder sie begleitet Linus und Albert oder es fährt niemand nach Betterland.«

Herr Kenneden wusste, wann er verloren hatte. Außerdem war die Idee vielleicht gar nicht so schlecht. Nur, wie würde Linus reagieren und natürlich Maximiliane selbst? Er beschloss, jetzt erst einmal schlafen zu gehen. Für einen Tag hatte er an genügend Fäden gezogen. Er küsste seine Frau freundlich auf die Wange, sagte ihr, sie habe wie immer recht und begab sich ins Badezimmer, wo zwar Licht brannte, aber leider kein Wasser aus dem Hahn floss. Diesmal hatte der blaue Kristall eine Verschnaufpause eingelegt. Herr Kenneden legte sich ungewaschen ins Bett und wusste, es war höchste Zeit gewesen, etwas zu unternehmen.

 

*

 

Am nächsten Morgen strahlte die Sonne über dem kleinen idyllischen Ort Neustadt. Die Knister floss glitzernd durch den Ort bis zur Westsee, in die sie mündete. Zwischen Neustadt und dem Strand lagen nur die Dünen, bewachsen mit Sanddornsträuchern und Strandhafer. Oben auf den Dünen verlief ein schmaler Weg, von dem aus man einen guten Blick auf das Städtchen und in der anderen Richtung auf den kleinen Naturhafen und das große Meer hatte. Über diesen Dünenweg liefen Frau Oboss und ihre normalerweise beste Freundin Frau Stöckelbrock. Beide verschwendeten keinen Blick auf die Schönheiten der Natur und die Fachwerkidylle des Ortes.

Frau Oboss trat zur Seite, um Lillis Mutter, die ein Stückchen hinter ihr hatte laufen müssen, weil der Weg auf den letzten Metern so eng gewesen war, wieder an ihre Seite zu lassen. Frau Stöckelbrock schloss auf, schwieg aber eisern. »Ich erinnere dich nur sehr ungern daran, aber du lässt mir keine andere Wahl«, zischte Frau Oboss entschlossen. »Ich sage nur Balthasar.« Was immer sie damit meinte, Frau Stöckelbrock schien die Bedeutung zu verstehen und zischte nun ihrerseits: »Das ist Erpressung!« 

»Nenn es wie du willst. Noch mal: Ich. Habe. Keine. Andere. Wahl.« Frau Stöckelbrock schnaubte ungläubig wie ein Pferd, dem sie im Übrigen auch ziemlich ähnlich sah mit ihrem langen Gesicht und ihren großen Zähnen. 

Frau Oboss änderte die Taktik. Nach dem Einsatz der verbalen Peitsche war jetzt wieder ein wenig Zuckerbrot angebracht, fand sie. »Lilli und Paul sind einfach das optimale Team für diese Aufgabe. Lilli ist ein Supermädchen und das liegt an dir ganz allein. Du hast sie zu dem gemacht, was sie jetzt ist. Dein Vorbild und deine Erziehung sind beispielhaft! Und du glaubst doch nicht etwa, ich würde mein geliebtes Patenkind losschicken, wenn ich Angst hätte, sie würde das nicht schaffen. Wir bereiten die Gruppe optimal vor. Sie bekommen sämtliche Informationen, die uns zur Verfügung stehen, wir statten sie mit ausreichenden Münzen aus und außerdem habe ich einen dritten Teilnehmer im Kopf, der Lilli und Paul vor allen Gefahren beschützen wird. Mehr können wir nicht tun. Außerdem frag doch Lilli. Ich habe gestern mit ihr gesprochen. Sie will fahren und darauf kommt es doch letztendlich an.«

»Aber nur weil du sie überredet hast«, schnappte Frau Stöckelbrock. »Wer soll denn dieser Bodyguard sein?«

Frau Oboss konnte ihre Erleichterung kaum verbergen. Sie hatte, wie bereits festgestellt, ein gutes Gespür für Stimmungen und ihr war klar, ihre Freundin war kurz davor, ihre Zustimmung zu geben. Ihre letzte Frage deutete darauf hin, dass ihr Widerstand bröckelte und sie jetzt das Beste aus der schlechten Situation machen wollte.

»Da kommt nur einer in Frage, Emil Weißenpflüger. Er ist knapp 16, fällt also noch gerade eben unter das Kinderschutzabkommen. Er ist Auszubildender bei der Wache, kann segeln, was für die Überfahrt wichtig ist, und ist bereits Meister in der Selbstverteidigung. Er hat letzte Woche beim Ringboxen sogar seinen Ausbilder geschlagen. Wie gesagt, einen geeigneteren, na ja sagen wir ruhig schon mal Mann, gibt es für diesen Job nicht.«

Frau Oboss merkte, der Widerstand ihrer Freundin schwand, legte den Arm um ihre Schulter und sah sie mitfühlend an. »Ach, Alma komm, was soll ich denn machen?« Frau Stöckelbrock gab auf und murrte: »Das mit Balthasar war unfair!«

»Du hast ja recht. Ich nehme das zurück. Ich hätte die Sache nie publik gemacht. Es bleibt unser Geheimnis. Ich verspreche es hoch und heilig.«

Der Wind frischte auf. Sie drehte sich in Richtung Neustadt. Der Ort tat ihr den Gefallen und sah in diesem Moment aus wie in einem Werbeprospekt für den optimalen Urlaub. »Schau mal, das können wir doch nicht aufgeben. Das ist unser Zuhause. Wir müssen es retten.«

Alma Stöckelbrock hatte dem nichts entgegenzusetzen. Und so gingen die Frauen schweigend, aber wieder halbwegs versöhnt, den steilen Weg hinunter in den Ort. Vor Stöckelbrocks großzügiger Villa am Stadtrand verabschiedeten sie sich, indem sie sich stumm umarmten. Alma öffnete das quietschende Gartentörchen. Die Suche nach dem Ölkännchen würde sie für die nächsten Minuten ablenken. Marieluise Oboss schritt zügig aus und beschloss, da sie einmal so gut in Fahrt war, Pauls Oma einen Besuch abzustatten. Dann hätte sie das Schlimmste hinter sich. Als Emils oberste Dienstherrin konnte sie nämlich den dritten Expeditionsteilnehmer einfach abordnen. Mit dessen Eltern würde sie sich also nicht herumschlagen müssen. Wenigstens etwas, wofür man dankbar sein durfte.

Oma Pulp war für ihr Alter fit wie ein Turnschuh. Ihr einziges Problem war ihr schlechtes Gehör. Aus diesem Grund hatte sie den Gemischtwarenladen des Ortes, den sie immer noch mit Energie und Engagement führte, in eine Art Selbstbedienungsgeschäft umgebaut. Anstatt ihr ihre Wünsche zuzubrüllen und dann trotzdem statt Mehl Gel ausgehändigt zu bekommen, konnten sich die Neustädter einen der Weidenkörbe, die neben der Tür standen, schnappen und sich aus den Regalen bedienen. Oma Pulp saß an einem Tischchen auf der anderen Seite des Eingangs, besah sich den Inhalt des Korbes, überlegte einen Moment und sagte dann eine Zahl. Da Diskussionen über diese geschätzte Summe ohnehin zu nichts führten, weil Oma Pulp dann eher noch etwas tauber wurde als sowieso schon, legte man am besten die geforderten Taler auf den Tisch und tröstete sich damit, dass sich Oma Pulp genauso oft nach unten wie nach oben verschätzte. 

Frau Oboss schlug zwei Fliegen mit einer Klappe. Sie betrat mit dem, was sie für ein freundliches Lächeln hielt, den Laden und erledigte erst einmal ihren Wocheneinkauf.

»Guten Morgen Frau Pulp«, schrie sie die alte Frau an und stellte ihren randvollen Korb zur Begutachtung auf den Tisch. »Tach Marieluise«, erwiderte Oma Pulp und musterte den Korb. Sie schien einen Moment zu überlegen und nannte dann einen exorbitant hohen Betrag.« Frau Oboss schluckte. Oma Pulp sah sie an, grinste und sagte: »Bei dir muss man immer aufpassen. Du tust immer die teuren Sachen nach unten.«

Frau Oboss Gesicht überzog eine feine Röte. Dann zückte sie ihr Portemonnaie und zahlte ohne Diskussionen. »Frau Pulp, ich brauche den Paul für ein paar Wochen. Er soll mit Lilli Stöckelbrock ein paar Kristalle besorgen. Ich wollte ihnen nur Bescheid sagen, damit sie sich keine Sorgen machen«, brüllte sie so laut, dass selbst Oma Pulp zusammenzuckte. 

»Ich mach mir nie Sorgen um den Paul. Warum sollte ich?«, fragte die Oma, die froh war, wenigstens einen Teil der Rede verstanden zu haben. »Dann ist es ja gut«, schrie Frau Oboss. Sie hatte alles gesagt, was zu sagen gewesen war. Wahrscheinlich konnte der halbe Ort das sogar bestätigen, wenn es darauf ankäme. Fluchtartig verließ sie mit ihren Einkäufen den Laden, während Oma Pulp sich immer noch wunderte. War etwas mit Paul? Warum sollte sie sich Sorgen machen? 

 

*

 

Ein lauter Gong hatte das Ende der vierten Stunde angezeigt und die Schüler der Neustädter Gemeinschaftsschule strömten auf den Hof und packten Butterbrote, Springseile und Neuigkeiten aus. Linus und Albert hatten sich in einen stillen Winkel verzogen. Linus wickelte seine Brote aus, musterte sie kritisch und reichte zwei von dreien an Albert weiter. »Magst du die wirklich nicht?«, fragte Albert ungläubig und bereits kauend. Sie waren üppig belegt und sahen einfach lecker aus. »Zu viel«, sagte Linus. »Meine Mutter schließt immer von ihrem eigenen Appetit auf den anderer. Und das sieht man ihr mittlerweile auch an. Sie wächst schließlich nicht mehr. Oder doch, aber in die Breite.« 

»Bist du etwa eitel?«, fragte Albert, dem man dieses Laster nun wirklich nicht unterstellen konnte. Auch ihm begann man nämlich langsam anzusehen, dass er bereits seit Jahren als Linus Schulbrotmülleimerersatz fungierte. Man konnte ihn noch nicht dick nennen, aber wenn er nicht sehr schnell ein paar Zentimeter Höhe zulegte, würde sich das bald ändern. Seine Frisur war kurz und praktisch und seine Kleidung eher strapazierfähig als modisch.

»Schöne Menschen haben es nicht nötig, eitel zu sein.« Linus Mund lächelte. Albert fragte sich zum hundertsten Mal bei irgendwelchen Linus-Sprüchen, ob der das tatsächlich so meinte oder ob er einfach nur witzig sein wollte. Er entschied sich zu grinsen, um seinem Freund zu zeigen, dass er diesen Spaß verstanden hatte. Linus, groß für seine 14 Jahre, schlank, dunkelhaarig und ausgesprochen gut aussehend, war sich durchaus bewusst, dass ihm seit einiger Zeit einige Mädchen einige Blicke hinterher warfen. Er entschloss sich, Alberts Grinsen zu ignorieren. Er würde es sowieso nicht verstehen. Albert verstand nie etwas, es sei denn, die Sätze bestanden nur aus Subjekt und Prädikat und waren möglichst in der Befehlsform gehalten. 

Trotzdem war Albert das, was man Linus besten Freund nennen konnte. Wenn Linus überhaupt ein Problem hatte, dann war es, dass er keine ernst zu nehmenden Rivalen in seinem Umfeld duldete. Und so war er durchaus einverstanden damit, dass das neben ihm sitzende Kraftpaket ihn bei seiner Mission unterstützen würde. Er hatte Albert bereits in der ersten Pause in das Unternehmen eingeweiht. Albert hatte natürlich seine Teilnahme ohne Zögern zugesagt. Eine Einwilligung seiner Eltern war reine Formsache, da sein Vater in Herrn Kennedens Mühle arbeitete und von Linus Vater ein Angebot erhalten würde, das er nicht würde ablehnen können.  

Albert hatte innerhalb einer Minute beide Brote vernichtet. Linus dagegen hatte erst eine Ecke abgebissen, als ein Knäuel kleiner Jungen um die Ecke schoss, weil sie einem außer Kontrolle geratenen Ball hinterher jagten. Das Knäuel rempelte Linus an, wobei das angebissene Brot auf den nicht sehr sauberen Schulhof fiel. Das Knäuel bemerkte den Unfall nicht, sondern schlingerte weiter. »Hol sie«, befahl Linus mit leiser Stimme. Albert gehorchte und stand kurz danach mit den drei kleinen Jungen vor Linus. Den Ball hatte er unter den Arm geklemmt. »Ey, gib uns sofort den Ball zurück«, forderte der winzige Anführer. Linus zog die schön geschwungenen Augenbrauen hoch. »Wie war das?«, fragte er.

Der Kleine schob trotzig die Unterlippe nach vorn und sagte: »Können wir bitte den Ball zurück haben?« Linus deutete stumm auf das angebissene Brot zu seinen Füßen. »Du hast mir das aus der Hand geschlagen. Also iss es!« Der Kleine sah ihn ungläubig an. »Ich kann es in den Mülleimer werfen«, schlug er vor. »Iss!« Zwei Augenpaare starrten sich einen Moment lang an, dann hatte Linus gewonnen, Kunststück, er war ungefähr doppelt so alt wie sein Gegenüber. Der Kleine bückte sich, hob das Brot auf, versuchte so gut es ging, den Dreck abzukrümeln und schob das Ganze mit Todesverachtung in den Mund. Er würgte es hinunter. Dann streckte er die Hand aus. Linus Lippen umspielte ein Siegerlächeln. Dann deutete er auf den Ball in Alberts Hand. Der warf ihn dem Kleinen zu.  

Der Kleine rannte außer Hörweite, bevor er mit einem einzigen Wort ausdrückte, was er von Linus hielt. Linus konnte zwar nicht von den Lippen ablesen, aber ihm war ziemlich klar, was da gesagt worden war. Der Kleine war auf einem guten Weg. Er grinste zufrieden. Sehr viel Hunger hatte er ohnehin nicht gehabt.

Lilli hatte die Szene aus einiger Entfernung beobachtet. Es gab also noch größere Idioten als Paul. Immerhin etwas, für das man dankbar sein durfte. Lilli, die nach außen das starke Mädchen gab, war an diesem Morgen in Wirklichkeit ziemlich verunsichert. Natürlich hatte sie nicht nein gesagt, als Tante Marieluise ihr und Paul gestern Abend ihren Plan eröffnet hatte. Das wäre überhaupt nicht in Frage gekommen, schon gar nicht vor Paul, diesem Blödmann. Aber so richtig konzentrieren konnte sie sich an diesem Vormittag nicht, was zu einer Drei in einer kurzen mündlichen Geschichtsprüfung geführt hatte: einer DREI, eine für Lilli absolut indiskutable Note. 

Lillis Falte auf der Stirn wurde sichtbar, was immer dann passierte, wenn sie angestrengt nachdachte. Und weil Lilli viel dachte, befürchtete Frau Stöckelbrock bereits, dass sie demnächst ihre teure Anti-Aging-Creme mit Lilli würde teilen müssen. 

Auch durch angestrengtes Nachdenken löste sich der Klumpen in Lillis Magen nicht auf. Aber sie sah auch keine andere Lösung. Neue Kristalle mussten her. Erwachsene konnten sie nicht beschaffen und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie niemanden kannte, dem sie eher zugetraut hätte als sich selbst, diese Aufgabe zu erfüllen.

Es wäre sehr ungerecht, wenn man Lilli für überheblich gehalten hätte. Frau Oboss hatte sie tatsächlich nicht ohne Grund ausgesucht. Hinter Lillis engelhaftem Aussehen - blonde Locken, dunkelblaue Augen, ein feingeschwungener Mund - verbargen sich Intelligenz, ein eisenharter Wille und ganz viel Verantwortungsgefühl. Und dieses Verantwortungsgefühl siegte über ihre Angst vor dem, was sie bei diesem Abenteuer erwarten würde. Sie ergab sich in diesem Moment endgültig in ihr Schicksal, weil Tante Marieluise eine gute Wahl getroffen hatte. ›Aber warum Paul?‹, fragte sie sich zum hundertsten Mal. Ihr Klassenkamerad Paul redete viel und das meiste war kompletter Unsinn, fand sie. Wenn er eine Aufgabe zu bewältigen hatte, stürmte er planlos als Erster los und verhedderte sich meistens irgendwo im Gestrüpp der Möglichkeiten. Was also fand die Bürgermeisterin an ihm? Sie würde nicht nur die Aufgabe allein bewältigen, sondern auch noch Paul vor allen möglichen Dummheiten bewahren müssen. Verdammter Mist. Aber noch war es nicht zu spät. Sie würde am Nachmittag ihrer Tante im Rathaus einen erneuten Besuch abstatten und dabei versuchen, ein paar wichtige Details zu klären. Wann sollte die Expedition starten? Mit welchem Verkehrsmittel sollten sie reisen? Welche Informationen gab es über die Ahorninsel und die Reiseroute? Wer sollte der dritte Mann sein? Und warum ausgerechnet Paul???  

 

*

 

Frau Oboss hatte ihrem Haus einen kurzen Besuch abgestattet und ihre Einkäufe verstaut, bevor sie sich auf den Weg zum Rathaus machte. Ihr schöner alter Amtssitz hatte eine rote Backsteinfront, einen hübschen Giebel und ein großes, reich mit Schnitzereien verziertes Holztor. Das Rathaus lag am Marktplatz gegenüber der kleinen gedrungenen Kirche, die jedoch einen hohen Turm hatte, was das ganze Bauwerk etwas merkwürdig wirken ließ. Die Proportionen machten jedenfalls deutlich, dass den Neustädtern das Weltliche mehr am Herzen lag als ihr geistliches Wohl, was natürlich besonders Pfarrer Bohnenbusch bedauerte, sozusagen von Amts wegen.

An diesem Vormittag war Wochenmarkt und so musste sich Frau Oboss ein wenig durchs Gedränge schieben, um das Rathaustor zu erreichen. Sie grüßte beim Hereinkommen ihren Pförtner und Hausmeister Herrn Kragenknopf, ihren Mann für alles Technische, und bat ihn, in einer halben Stunde in ihr Amtszimmer zu kommen. Herr Kragenknopf hatte es sich gerade erst hinter seinem Empfangspult gemütlich gemacht, nachdem er einige kleinere Reparaturen erledigt hatte, die sich wirklich nicht länger hatten aufschieben lassen. Herr Kragenknopf neigte ein wenig zur Bequemlichkeit und seufzte leise. Frau Oboss war manchmal wirklich ein klein bisschen anstrengend.

Die Bürgermeisterin erreichte ihr Zimmer, warf ihre Handtasche auf einen Stuhl, setzte sich und streifte unter dem Schreibtisch erleichtert ihre neuen Schuhe von den Füßen. Sie setzte ihre Lesebrille auf, griff nach Papier und Stift und begann eine To-Do-Liste. Frau Oboss liebte To-Do-Listen, besonders mochte sie es, Häkchen an erledigte Aufgaben zu machen. Sie schrieb:

Emil informieren

Plakate für die Ausschreibung aufhängen

Mit Akki wegen des Segelschiffs verhandeln

Schiff reparieren? 

Proviant besorgen

Karten von Betterland finden und abmalen

Bartholomäus Betters Reisebericht zusammenfassen

Ratssitzung wegen der Kosten einberufen

Sie nickte zufrieden und schob ihre wieder einmal auf die Nasenspitze gerutschte Brille nach oben. Das sollte in ein paar Tagen erledigt sein. Wo zum Teufel blieb Kragenknopf?

 

*

 

Paul hatte einen Riesenhunger. Deshalb hatte er es nach der Schule eilig, nach Hause zu kommen. Als es gongte war er also wie der Blitz zur Tür hinaus und auf dem Heimweg. Lilli sah ihm nach. Schnell war er immerhin, stellte sie objektiv fest. Insgesamt war er sehr sportlich und seine Spaziergänge über das Drahtseil musste man einfach bewundern. Aber das war es dann auch wirklich. Und über wie viele Drahtseile würden sie auf dem Weg zur Ahorninsel laufen müssen? Die Zahl würde überschaubar sein, vermutete sie. Tante Marieluise würde ihr in diesem Punkt einiges zu erklären haben. Außerdem musste sie mit ihrer Mutter reden, Was wäre, wenn sie die ganze Aktion verbieten würde?

Lilli schnappte sich ihren wie immer viel zu schweren Rucksack und machte sich auf den Heimweg. Die Schule lag ziemlich genau zwischen dem Markt und der Straße am Stadtrand, wo sich das Haus ihrer Familie befand. Insgesamt war es kein weiter Weg. Neustadt war ein ziemlich kleiner Ort. In ganz Siebenstreich gab es übrigens keine großen Städte, weil die Kristallkraftwerke nur eine gewisse Anzahl von Haushalten versorgen konnten und auch nicht zu dicht beieinander liegen durften, weil sie sich sonst gegenseitig in ihrer Wirkung gestört hätten. 

Lilli öffnete das Gartentörchen und stutzte, weil es plötzlich nicht mehr quietschte. »Hast du das Tor geölt?«, fragte sie ihre Mutter, die in der Küche stand und Pflaumenpfannkuchen backte. Frau Stöckelbrock nickte und ließ einen Pfannkuchen auf einen Teller gleiten, den sie an Lillis Platz auf den Küchentisch stellte. Lilli wusch sich flüchtig in der Spüle die Hände und setzte sich, entschlossen, ihr Lieblingsgericht noch einmal zu genießen. Sie hatte schließlich keine Ahnung, wovon sie sich in der nächsten Zeit würde ernähren müssen. Frau Stöckelbrock schaltete den Herd aus und setzte sich Lilli gegenüber. Sie nahm sich einen der vorher gebackenen Pfannkuchen. »Ich muss mit dir reden-reden«, sagten Lilli und ihre Mutter beinahe zeitgleich. Und das taten sie dann auch.

*

Maximiliane Müller hatte so etwas wie eine Vorladung erhalten. Als sie von der Schule nach Hause gekommen war, hatte ihre Mutter sie ganz unglücklich angeschaut und dann erklärt, Herr und Frau Kenneden wünschten sie nach dem Essen zu sprechen. Maximiliane rutschte das Herz in die Hose. Es hatte dabei eine verhältnismäßig lange Wegstrecke zu überwinden, denn Maximiliane war mit Abstand die Größte in ihrer Klasse. Sie kämpfte gegen dieses Phänomen an, indem sie versuchte, sich so klein wie möglich zu machen, um nicht ständig aufzufallen. Maxis Mutter bezeichnete ihre Tochter in deren Abwesenheit gern als das hässliche Entlein, weil die mütterliche Hoffnung, dass sich aus einer langen, dünnen, krummen und bebrillten Tochter doch noch ein stolzer Schwan entwickeln könnte, bekanntlich zuletzt stirbt. 

Maxi erforschte ihr Gewissen. Es konnte sich nur darum handeln, dass bei ihrem letzten Babysitter-Termin bei den Kennedens irgendetwas schief gelaufen war. Aber was? Sie hatte mit Justus Bilderbücher angesehen, dann mit ihm auf seinen Wunsch oder besser gesagt wegen seines Gequengels die Ritterburg hervorgekramt und sie nach dem Spiel auch wieder weggeräumt, Justus dann noch etwas vorgelesen und ihn ordnungsgemäß schlafend seinen Eltern übergeben. Magnus hatte die ganze Zeit versucht, sie zu ärgern, aber sie war nicht darauf eingegangen. Rufus hatte sie gar nicht gesehen und Linus leider auch nicht. 

Linus, dachte sie sehnsüchtig und der Knubbel in ihrem Magen drehte sich einmal um die eigene Achse. Hoffentlich hatte niemand bemerkt, wie ihre Gefühle für ihn waren. War sie zu aufdringlich gewesen? Aber das konnte doch nicht sein. Gerade weil sie so heftig in Linus verliebt war, traute sie sich ja überhaupt nicht mehr, ihn auch nur anzusprechen. Und da Linus sie überhaupt nicht zu bemerken schien und ihr höchstens mal ein uninteressiertes Hallo zuwarf, wenn sie sich im Kennedenschen Haus über den Weg liefen, konnte das eigentlich auch nicht sein. 

Hastig aß sie ein paar Bissen und ging dann unverzüglich drei Häuser weiter zu den Kennedens, um das, was da auf sie zukommen würde, wenigstens so schnell wie möglich hinter sich zu bringen. Auf ihr Klingeln öffnete eine breit lächelnde Frau Kenneden. Maxi fasste vorsichtig wieder ein klein wenig Mut. Frau Kenneden sah wirklich nicht so aus, als würde sie sie gleich anschreien. 

»Komm rein, Maxi, mein Mann wartet schon auf dich.«

»Bin ich etwa zu spät?«

»Nein, nein, wir haben nicht früher mit dir gerechnet. Hat deine Mutter schon mit dir gesprochen?«

Maxis Magenknubbel rotierte wieder. Ihre Mutter wusste also Bescheid - und hatte unglücklich geguckt und nichts gesagt.

»Ähm nein, hat sie nicht.« 

Frau Kenneden ging voran ins Wohnzimmer, wo ihr Mann am Fenster stand und sein Gesicht auch zu einer Lächelgrimasse verzogen hatte.

»Ahh Maximiliane, wie schön, dass du kommen konntest. Mach bitte die Tür hinter dir zu.«

Maxi beeilte sich zu gehorchen und schloss die Tür etwas zu schnell und zu laut. 

»Entschuldigung«, sagte sie unsicher. Herr Kenneden winkte ab und begann eine lange Rede, die natürlich niemand unterbrach. Am Ende sah er das Mädchen erwartungsvoll an. Maximiliane war verwirrt und versuchte, das Gehörte ein klein wenig zu sortieren. Herr Kenneden wollte also Neustadt retten, das ohne ihn offenbar verloren war. Deshalb war er auf die Idee gekommen, neue Kristalle zu besorgen. Und nur weil die Gefahr zu groß war, dass ihm auf dieser Reise etwas geschehen konnte und Neustadt auch in Zukunft keinesfalls auf ihn verzichten konnte, sollten andere für ihn die Kristalle besorgen. Und diese anderen sollten sie und Linus sein. Sie und Linus - Linus und Maxi…und Albert offenbar.

»Irgendwie beneide ich euch«, seufzte Herr Kenneden. »Wenn ich doch bloß nicht so viel Verantwortung hier hätte. Und wenn Erwachsene gefahrlos reisen könnten, würde ich natürlich selbst gehen. Was ihr alles erleben werdet, neue Länder, neue Menschen, Abenteuer, ach ja, aber manchmal muss man eben zurückstecken.«

Maxis Gedanken purzelten durcheinander. Offenbar war schon alles entschieden. Und ihre Eltern hatten zugestimmt. Aber wieso hatte man sie ausgesucht? Linus klar, den konnte sie sich sehr gut in seiner Rolle als künftigen Helden vorstellen. Albert, in Ordnung, der war groß und stark, aber wieso sie? Sie war weder klug noch heldenhaft noch stark. So schätzte sie sich jedenfalls selbst ein. Sie war eindeutig die falsche Besetzung für diese Rolle, aber wie wunderbar war das? Sie würde mit Linus zusammen sein, über Wochen, vielleicht Monate. Wenn er sie näher kennenlernte, würden sie vielleicht Freunde? Oder aber er würde erst recht merken, was für eine Versagerin sie war?

»Nur der Form halber, liebe Maximiliane, du bist doch wohl einverstanden?«, fragte Herr Kenneden. »Was meint denn Linus dazu?«, wollte Maxi wissen. »Den werden wir jetzt informieren«, antwortete Herr Kenneden. »Rosi, holst du ihn bitte mal?«

Ein paar Minuten später betrat Linus den Raum und zog bei Maxis Anblick fragend eine Augenbraue hoch. Maxi fand das total cool, immer schon. Wie konnte man nur eine Augenbraue bewegen?

Herr Kenneden räusperte sich und begann mit der Stimme, die er normalerweise für Parteiversammlungen reserviert hatte: »Lieber Linus, ich freue mich, dir den Dritten eurer Gruppe präsentieren zu können.« Linus blickte sich um, sah aber nur seine Mutter und Justus Babysitter. 

»Und, wer ist es?«

Sein Vater lächelte gewinnend und deutete auf die langweilige Maximiliane. Linus erstarrte. »Das ist jetzt nicht dein Ernst?« Frau Kenneden sah ihre Felle schwimmen und versuchte zu retten, was zu retten war. »Komm Maximiliane, wir lassen die beiden jetzt allein. Justus hat ein tolles Bild gemalt. Das möchtest du dir bestimmt anschauen und außerdem habe ich gerade einen Kuchen gebacken. Mal sehen, ob er dir schmeckt.«

Maxi hatte keinen Hunger. Dafür sorgte schon der Kreisel in ihrem Magen. Und Justus Bild übte auch nicht die geringste Anziehungskraft auf sie aus. Aber das tat Frau Kennedens Hand, die sie freundlich aber bestimmt aus dem Zimmer zog, bevor Linus noch etwas sagen konnte, das es dem künftigen Team unmöglich machen würde, zusammenzuarbeiten.

Zwei Stück Kuchen später, die sie sich hineinwürgte - was übrigens nicht am Gebäck selbst lag, wie sie fairerweise feststellen musste, denn Frau Kenneden war eine ausgezeichnete Hausfrau und Backen war ihre besondere Stärke - betraten Linus und sein Vater die Küche. Man hätte sie für die beiden Wettermännchen in einem altmodischen Barometerhäuschen halten können, wenn Linus noch einen Schirm in der Hand gehalten hätte. Linus blickte finster, während der Gesichtsausdruck seines Vaters ausgesprochen sonnig war.

»Alles ist geklärt«, sagte Herr Kenneden. »Bist du sicher?«, fragte Linus, die eine Augenbraue schon wieder in der Höhe. »Sehr sicher«, sagte Herr Kenneden fest. »Wie schön«, freute sich Frau Kenneden. »Wollt ihr auch ein Stück Kuchen?« Linus drehte sich um und verließ wortlos den Raum. 

»Ich glaube, er hätte lieber jemand anderen dabei«, stellte Maximiliane unglücklich fest. »Unsinn. Du bist genau die Richtige«, sagte Frau Kenneden. »Und das wird er auch noch feststellen«, ergänzte Herr Kenneden in einem Ton, der hoffnungsvoller klang als ihm selbst zumute war. Er hatte in dem Gespräch mit Linus klar gesagt, dass seine Frau der Reise nur zustimmen würde, wenn Maximiliane die Dritte sein würde. Linus hatte daraufhin natürlich erwidert, er wünsche keinen Babysitter, worauf sein Vater ihn vor die Alternative stellte, entweder Maximiliane zu akzeptieren oder er werde ein komplett anderes Team zusammenstellen. 

Linus hatte zähneknirschend geschwiegen. Er wollte mittlerweile unbedingt diese Reise machen. Aber er gab sich noch nicht ganz geschlagen. Allerdings wusste er aus Erfahrung, wenn seine Eltern sich wirklich einig waren, würde es sehr schwer werden, sie noch umzustimmen. Aber versuchen würde er es.

 

*

 

Zur gleichen Zeit, als sich Maxi mit einem aufgedrängten Kuchenpaket für die Lieben daheim die paar Meter nach Hause bewegte und nur noch den Wunsch hatte, in ihrem Zimmer in Ruhe über diese sensationelle Entwicklung in ihrem Leben nachzudenken, klopfte Lilli entschlossen an die Tür des Amtszimmers ihrer Patentante. Nach einem eher unfreundlichen »Herein« öffnete sie die Tür und sah Frau Oboss über ein Plakat gebeugt. Die Brille drohte gerade, die Nase vollends zu verlassen. Neben Frau Oboss stand ein missmutig aussehender Herr Kragenknopf.

Frau Oboss hielt einen Rotstift in der Hand, mit dem sie sich, so wie das Plakat aussah, offenbar schon ausgetobt hatte.

»Hallo Tante Marieluise«, eröffnete Lilli das zu erwartende Gefecht.

»Was gibt’s?«

»Ich habe über deinen Plan nachgedacht. Erstens möchte ich mehr Informationen über die Reise und zweitens will ich nicht mit Paul zusammen fahren.«

Frau Oboss stand kurz vor einer Explosion. Wirklich ganz kurz davor. »Ich fasse es nicht«, schrie sie. »Bin ich denn nur noch von Idioten umgeben? Zuerst versaut mir dieser Kerl mit seiner mangelhaften Orthografie das schöne Plakat und ich kann wieder von vorn anfangen und jetzt kommst du mit solchen Bagatellen.«

Herr Kragenknopf brüllte zurück: »Dann malen Sie doch Ihre dämlichen Plakate alleine. Ich bin hier als Hausmeister angestellt und nicht als Künstler. Und wenn Ihnen meine Ottogafie nicht passt, dann stecken Sie sie sich sonst wo hin. Ich bin doch nicht ihr Himbeertoni!«

»Mein was?«, fragte Frau Oboss irritiert, aber Herr Kragenknopf hatte bereits türenknallend den Raum verlassen und war auf dem Weg zu seinem gemütlichen Plätzchen an der Eingangstür des Rathauses. Irgendwer musste der Alten mal die Meinung sagen. Jetzt war Schluss mit lustig. 

Frau Oboss merkte, dass sie ein klein wenig über ihr Ziel hinausgeschossen war und sammelte sich. »Also noch mal, was möchtest du, Liebes? Du siehst ja, was hier los ist.«

»Ich möchte alles über unsere Expedition wissen, weil ich mich so gut es eben geht vorbereiten will. Wann soll es losgehen? Wo liegt die Ahorninsel überhaupt? Wie kommen wir dahin? Und warum hast du ausgerechnet Paul ausgesucht, diese Flasche?«, fragte Lilli. »Und was ist mit dem Plakat?«

Frau Oboss schob die Brille nach oben und deutete auf den Tisch. »Fangen wir mit dem letzten Punkt an. Lies selbst.«

Und Lilli las:

Ausschreibunk

Wer will Neustadt retten?

Für die Beschaffunk von dringent gebrauchten Gristallen

werden Kindergruppen gesucht, die wo zur Ahorninsel fahren sollen und die da holen. Hohe Belonunk. Interesenden bitte melden bei Herrn Kragenknopf oder Frau Oboss. Einsendeschlus nächsten Dinstag.

Gezeichnet: Eugen Kragenknopf, Hausmeister

»Ich schreib es dir neu«, bot sie an. »Aber ich verstehe das nicht ganz. Ich dachte, wir wären die einzige Gruppe, die du losschickst.«

»Das habe ich gestern Abend auch noch gedacht. Aber leider gibt es hier am Ort jemanden, dem es wichtiger ist, die nächste Bürgermeisterwahl zu gewinnen, als die Stadt zu retten, jemanden mit einer ausgeprägten Profilneurose, nämlich Herrn Kenneden.«

»Wie kurzsichtig«, stellte Lilli fest. »Wenn es den Ort nicht mehr gibt, sind auch die Wahlen sinnlos.«

Frau Oboss nickte. »Du hast es erfasst. Aber Herr Kenneden hat gestern unser Gespräch belauscht und setzt mich jetzt unter Druck. Er will, dass sein Sohn Linus auch eine Chance bekommt, die Kristalle zu holen. Und dagegen kann ich mich nicht wehren. Denn sonst sähe es so aus, als wollte ich unbedingt die nächsten Wahlen gewinnen und ließe daher keine anderen Kandidaten zu. Und so haben wir uns dann darauf verständigt, dass du eine Gruppe anführst und Linus die zweite. Und damit sich hinterher niemand beschweren kann, er sei übergangen worden, haben wir uns auf die verflixte Ausschreibung geeinigt, um maximal noch eine dritte Gruppe auszurüsten.«

Lilli nickte. »Das verstehe ich. Aber warum bürdest du mir diesen Idioten von Paul auf?«

»Dann mach mal einen Gegenvorschlag.«

Lilli überlegte. Damit hatte sie jetzt nicht gerechnet. Verdammt, auf diese Frage hätte sie sich vorbereiten müssen. »Ähh, Tim vielleicht?«

Frau Oboss kramte aus ihrer Schublade eine Liste und studierte sie. »Geht nicht, der wird schon auf dem Flussboot seekrank«, sagte sie.

»Anne?«

Frau Oboss suchte auf der Liste Annes Namen und schüttelte den Kopf. »Sie hat unzählige Allergien.«

»Kevin?«

»Das meinst du nicht ernst.«

Stimmt, dachte Lilli, dann schon lieber Paul als Kevin. Frau Oboss reichte ihr die Liste mit den möglichen Kandidaten und den Gründen, warum dieser oder jene nicht in Frage kam.

»Sieh selbst. So viel Auswahl haben wir gar nicht. Das Mindestalter habe ich bei zehn Jahren angesetzt und bei 16 ist die Grenze nach oben wegen der internationalen Kinderschutzkonvention. Das sind zwar sieben Jahrgänge, aber überlege mal. Die meisten sind bei dir auf der Schule und so wirklich viele Namen sind dir eben auch nicht eingefallen. Ich habe mich für Paul entschieden, weil ich finde, dass er ein gutes Gegengewicht zu dir ist. Er ist körperlich wirklich sehr geschickt und er wird tun, was du sagst. Du wirst keine endlosen Diskussionen mit ihm führen müssen, aber er wird die Aufgaben bewältigen, bei denen du bestimmt mehr Schwierigkeiten hättest.«

»Zum Beispiel Seiltanz«, sagte Lilli schnippisch. 

»Ja, zum Beispiel Seiltanz«, bestätigte Frau Oboss. »Wer weiß, wofür diese Fähigkeit noch gut sein wird. Und nun zu deiner nächsten Frage. Ihr werdet mit Akkis Segelyacht fahren mit Emil Weißenpflüger als Kapitän. Er wird euch sicher über die Westsee bringen und ob und wie ihr ihn danach einsetzt, ist euch überlassen. Auf der anderen Seite der Westsee liegt wie du weißt Betterland und ehrlich gesagt, ab da ist unser Kartenmaterial eher etwas vage. Was ich herausgefunden habe, ist, dass ihr dort die Hafenstadt Westsea City erreichen müsst. Dort fließt ein großer Fluss ins Meer. Und diesem Fluss müsst ihr ins Landesinnere folgen. Irgendwo da muss in einem großen See die Ahorninsel liegen. Ich verlasse mich darauf, dass ihr euch durchfragt.«

»Aber mit Akkis Segelyacht ist doch seit Jahren niemand mehr unterwegs gewesen«, wandte Lilli ein. »Sie ist ganz morsch und die Segel sind kaputt.«

»Es ist das einzige hochseetüchtige Schiff, das wir noch haben. Akki ist schon dabei, es zu reparieren. Er wird bis nächste Woche damit fertig.«

»Und wie kommen die anderen nach Betterland? Die Yacht ist doch überhaupt nicht groß genug für drei Gruppen.«

Frau Oboss nahm ihre rutschende Brille ab und grinste ihr verschwommen aussehendes Patenkind an. »Das ist nicht unser Problem. Ich bin sehr gespannt, wie Herr Kenneden das lösen wird.«

 

*

 

Emil Weißenpflüger nahm das Leben wie es kam. Er war mittlerweile knapp 16 Jahre alt und hatte vor zwei Jahren, als sich die Frage nach seiner weiteren Ausbildung stellte, für sich beschlossen, dass die Schule in Zukunft auf ihn würde verzichten müssen. Er war eher praktisch als intellektuell veranlagt und schätzte das auch richtig ein. Er bewarb sich bei der Wache von Neustadt und galt seit seiner Einstellung als viel versprechender Azubi. In seiner Freizeit segelte er auf dem direkt hinter Neustadt liegenden Lottersee mit seinem kleinen Katamaran oder trainierte im Ringboxverein. Emil war mit sich und der Welt zufrieden, als ihn Frau Oboss Ruf ereilte, die Welt zu retten oder zumindest seine kleine Welt, Neustadt an der Knister.

Für Emil gab es keine Diskussionen. Das war ein Befehl und damit war er auszuführen. Der Leiter der Wache war auch sofort einverstanden und stellte ihn augenblicklich dazu ab, sich bei Bootsbesitzer Akki zu melden und unter dessen Leitung den Zweimaster Maiblume wieder hochseetauglich zu machen. Für Emil war das sozusagen eine Art Ferienprogramm. Mit Feuereifer machte er sich daran, Lecks abzudichten, das Boot zu kalfatern, das Tauwerk zu sortieren und die Segel zum Flicken zu Clara Erdreich zu bringen, der Schneiderin des Ortes, die nach einem entsetzten Aufschrei über den Zustand des Tuches dann doch beherzt zu Nadel und Faden griff und versprach, ihr Möglichstes zu tun.

Er war gerade dabei, ein loses Bullauge wieder zu befestigen, als ihn Paul und Lilli, die auf dem Kai standen, ansprachen. Es war Mittwochmittag. Die erste Unterredung mit Frau Oboss hatte am Montagabend stattgefunden.

»Ja?«, fragte Emil, was übersetzt heißen sollte: »Wer stört und warum?«

Emil kannte Lilli und Paul sehr flüchtig vom Sehen. Sie waren vier Jahre jünger als er, vier sehr trennende Jahre, wenn man knapp 16 ist. 

»Hallo Emil«, sagte Lilli freundlich. »Wir sind deine Crew auf dem Weg zur Ahorninsel.« Emil musterte die beiden und fragte sich, was sich Frau Oboss wohl dabei gedacht hatte, ihm diese kleinen Fuzzis mitzugeben. Er war doch kein Kindergärtner. »Aha«, sagte er. »Können wir an Bord kommen?«, fragte Paul, der darauf brannte, die Maiblume zu erkunden. »Mhh«, brummte Emil und meinte damit, wenn es sein muss. Lilli und Paul kletterten an Bord, Paul leichtfüßig und Lilli deutlich mühsamer. Paul hielt es nicht am Boden. Sofort stieg er in die Wanten und kletterte mühelos bis zur Mastspitze, dahin, wo man den Ausguck vermutet hätte.

»Cool«, rief er von oben. »Man kann bis Schluderhausen gucken. Ich sehe den Kirchturm.« Schluderhausen war der nächste Ort. Von Neustadt aus waren es etwa 15 Kilometer, aber wegen der besonderen Umstände hätten es genauso 1500 Kilometer sein können. Schluderhausen war unerreichbar für die erwachsene Bevölkerung von Neustadt. Und es gab bisher auch keinen Grund, die minderjährigen Bewohner dem nicht wirklich kalkulierbaren Risiko solch einer Reise auszusetzen. 

Emil betrachtete Paul mit einem leisen Anflug von Bewunderung. Vielleicht war der Kleine doch nicht so übel. Klettern konnte er jedenfalls. Aber was das Mädchen da sollte? Warum spielte sie nicht zu Hause mit ihren Puppen? Zum Glück für das künftige Verhältnis ließen sich all diese Gedanken nicht in einer Silbe unterbringen und blieben daher ungesagt. 

»Ich schau mir mal die Kajüten an«, sagte die praktische Lilli und kletterte eine Treppe hinab in den Bauch des Schiffes. Dort war es geräumiger, als man von außen gedacht hätte. Es gab so etwas wie einen Aufenthaltsraum, zwei kleine Schlafkajüten mit je zwei übereinanderliegenden Betten und eine winzige Küche. Ein Bad suchte Lilli vergeblich. Überall waren Schränke eingebaut, die Lilli öffnete. Sie erstellte in groben Zügen im Kopf eine Inventarliste. Töpfe, Besteck und Teller waren zwar da, starrten aber vor Schmutz. Das gleiche galt für die vorhandene Wäsche. Lilli seufzte. Da war noch viel zu tun, und sie wusste genau, dass die Jungen sich ans Rollenklischee halten würden und wichtige technische Aktivitäten vorschieben würden. 

Sie tauchte wieder an Deck auf. »Gibt es hier kein Badezimmer?« Emil und Paul sahen sie verächtlich an. Lilli seufzte und kramte Papier und Stift aus ihrer Tasche. Auch sie schätzte die Vorteile von To-Do-Listen. Sie kletterte wieder nach unten und begann damit, das vorhandene Inventar aufzuschreiben, während Paul und Emil einen ersten vorsichtigen Kontakt zueinander aufnahmen. 

»Meinst du, du kriegst das hin?«, fragte Paul.

»Klar.«

»Was kann ich tun?«

Emil blickte nach oben. Paul folgte seinem Blick. »Jau, wenn die Segel so weit sind, bring ich sie an, aber bis dahin?«

Emil deutete auf die verknoteten Taue und Paul nickte und machte sich an die Arbeit, sie zu entknoten und aufzurollen. Etwa eine Stunde später hatte er die Taue, die noch zu gebrauchen waren, ordentlich zu Achten gerollt und die Stücke, die ersetzt werden mussten, auf einen Haufen geworfen. Lilli war gerade leicht verschmutzt und mit Spinnweben in den blonden Locken aus den Tiefen der Kajüten wieder aufgetaucht. Sie schwenkte ihren Notizblock und wandte sich an Emil: »Also, ich kümmere mich darum, dass wir da unten während der Reise wohnen können. Wer ist für die Beschaffung des Proviants zuständig?« 

Emil zuckte mit den Schultern. Seiner Meinung nach war da unten eigentlich alles in Ordnung. Und der Proviant würde schon kommen. Schließlich war Frau Oboss der Kopf des Unternehmens.

»Hallo. Was macht ihr denn da?«, rief eine sonore Stimme vom Kai her.

Lilli drehte den verstaubten Kopf und sah Herrn Kenneden. Zu Lillis Stärken gehörte die Tatsache, dass sie blitzschnell vorhandene Informationen miteinander verknüpfen konnte. So bildete sich innerhalb weniger Sekunden die Gedankenkette: Herr-Kenneden-Linus-zweite-Expeditionsgruppe-Westsee-Maiblume-einziges-Transportmittel-Konkurrenz-Vorsicht!!! 

Leider stellte sich dieser Gedankengang weder bei Emil Weißenpflüger noch bei Paul Pulp ein. Bei Emil war das kein Problem, weil er selten mehr als eine Silbe auf einmal von sich gab. Aber Paul war freundlich und mitteilsam.

»Wir machen die Maiblume startklar für unsere Reise zur Ahorninsel. Wir wollen…«

»Das reicht jetzt Paul. So genau will Herr Kenneden das bestimmt gar nicht wissen«, fuhr ihm Lilli über den Mund. Paul funkelte sie wütend an. Diese überhebliche blöde Kuh.

»O doch, das interessiert mich sehr«, sagte Herr Kenneden grimmig. Auch er konnte nämlich Kausalketten bilden. »Für wie viele Personen ist denn da unten Platz?«

Lilli stand ihm mittlerweile genau gegenüber. Und weil das Deck der Maiblume etwas höher lag als der Kai, begegnete sie Herrn Kenneden in mehrerer Hinsicht auf Augenhöhe. 

»Für genau drei«, sagte sie kriegerisch und reckte ihr Kinn vor. 

Herr Kenneden schnaubte und ging wortlos den Kai entlang Richtung Neustadt. Das durfte einfach nicht wahr sein. Da war diese alte Hexe Oboss ihm zuvorgekommen. Aber noch war nicht alles verloren. Er eilte ein paar Straßen weiter und bog einige Minuten später in die Matratzengasse ein, in der Akki wohnte, seines Zeichens Bauunternehmer und Eigner der Maiblume. Herr Kenneden folgte dem Lärm einer kreischenden Säge und betrat Akkis Werkstatt ohne zu klopfen, weil der Lärmpegel ohnehin zu hoch war, als dass man diese Höflichkeit überhaupt hätte wahrnehmen können.

Er machte sich bemerkbar, indem er vor Akki stehend mit den Armen wedelte. Akki hörte auf zu sägen und blickte seinen Besucher fragend an. 

»Hallo Akki, na wie gehen die Geschäfte?«

Akki wollte sich lieber nicht festlegen. Wer konnte schon wissen, wer nach der nächsten Wahl für das Eintreiben der Steuern zuständig sein würde. »Guten Tag, Herr Kenneden. Tja, mal so, mal so.«

»Ich möchte dir einen Handel vorschlagen. Ich will die Maiblume chartern.«

Jahrelang hatte die Maiblume am Kai unbenutzt vor sich hin geschaukelt und war dabei immer mehr verrottet. Und jetzt auf einmal diese Nachfrage. Akki konnte es kaum glauben. 

»Tut mir wirklich leid, Herr Kenneden. Ich hab sie gestern an Frau Oboss vermietet, auf unbestimmte Zeit übrigens.« 

»Ich biete das Doppelte, was dir Frau Oboss versprochen hat.«

»Das kann ich doch nicht machen«, erwiderte Akki unglücklich, Talerzeichen in den Augen. Taler war die Währung in Siebenstreich.

»Gibt es einen schriftlichen Vertrag?«

»Nein, aber das geht wirklich nicht, Herr Kenneden. Ich bin ein zuverlässiger Geschäftspartner. Ich stehe zu meinem Wort. Das wissen die Leute und das soll auch so bleiben.«

»Ich biete das Dreifache, egal wie viele Taler Frau Oboss zahlt.«

»Wissen Sie was, Herr Kenneden, mir ist es völlig egal, wer die Maiblume mietet. Einigen Sie sich einfach mit Frau Oboss. Aber sie hat mich zuerst gefragt, daher hat sie die erste Wahl, so gern ich Ihnen helfen würde.«

»Das Vierfache.«

Akki schüttelte den Kopf. »Und wenn Sie mir das Zehnfache bieten würden. Es geht nicht. Ich bin immer ein ehrlicher Geschäftsmann gewesen und das werde ich auch bleiben. Wie gesagt, wenden Sie sich an Frau Oboss. Wenn sie zurücktritt, können Sie die Maiblume sofort haben.«

Herr Kenneden wusste, wann er geschlagen war. Er nickte, verabschiedete sich und verließ Akkis Werkstatt. Die Säge begann wieder mit ihren unangenehmen Geräuschen. Herr Kenneden war ein klein wenig ratlos, ein ungewohntes Gefühl. Ihm war völlig klar, dass Frau Oboss die Maiblume mit Zähnen und Klauen verteidigen würde. Eine Einigung war da einfach nicht möglich. Verhandlungen würden nur zu einer Demütigung für ihn führen. Und für beide Gruppen auf einmal war sie wirklich zu klein. Eine andere Lösung musste her. Aber was für eine? 

 

*

 

Am nächsten Tag nach der Schule und einem schnellen Mittagessen machten sich Lilli und Frau Stöckelbrock mit einem voll beladenen Bollerwagen auf in Richtung Maiblume. Auf dem Wagen türmten sich Putzmittel, Schrubber, eine Spülwanne und ähnliche Gerätschaften. Lilli hatte ihrer Mutter am Abend zuvor eindeutig mitgeteilt, dass ihre Hilfe bei der Rettungsaktion für Neustadt darin bestehen würde, klar Schiff zu machen und Frau Stöckelbrock fügte sich. Niemand sollte behaupten können, es habe an ihr gelegen, wenn der letzte Kristall erlöschen sollte, bevor Nachschub da sein würde. Emil, der gerade ein Stück kaputte Reling reparierte, als die Putzkolonne Stöckelbrock anrückte, versuchte sich zu ducken, wurde aber von der befehlsgewohnten Alma Stöckelbrock sofort dazu abgestellt, den Inhalt des Bollerwagens in die Kombüse zu schaffen. Lilli und ihre Mutter kletterten die steile Treppe hinunter und erlaubten Emil großzügig, jetzt mit seiner Arbeit fortzufahren. Emil bekam einen ersten Eindruck davon, was ihn während der Überfahrt befehlsmäßig erwarten würde. Er krabbelte so schnell er konnte wieder an Deck und hoffte, dass man ihn für den Rest des Nachmittags vergessen würde.

»Wo ist eigentlich das Badezimmer?«, fragte Frau Stöckelbrock nach einem kurzen Rundgang durch die überschaubaren Räumlichkeiten.

»Anscheinend gibt es keins«, vermutete Lilli. »Ich habe auch schon gefragt, aber irgendwie keine vernünftige Antwort bekommen. Frau Stöckelbrock beschloss, dieses Problem noch vor der Abreise zu lösen, und machte sich zunächst einmal mit Lilli an die Arbeit.

Am Abend strahlte die Maiblume in neuem Glanz, zumindest was das Unterdeck betraf. Das Geschirr stand gespült in den Schränken, zahllose Spinnen hatten ihr Heim verloren und befanden sich mit Kind und Kegel auf der Flucht. Sämtliche Decken, Kissen und Schlafsäcke türmten sich auf dem Bollerwagen, weil Frau Stöckelbrock es praktischer fand, sie bei sich zu Hause zu waschen. Emil hatte sich zum Ärger von Lillis Mutter rechtzeitig verdrückt.

»Wo ist eigentlich dieser Paul?«, fragte Alma Stöckelbrock ihre Tochter.

»Keine Ahnung. Aber er ist nie da, wenn man ihn braucht,« sagte Lilli ein klein bisschen ungerecht, denn Paul hatte den ganzen Nachmittag damit verbracht, zusammen mit Akki in dessen Werkstatt an einem Ausguck zu bauen, der oben am Ende des Mastes angebracht werden sollte. Paul war sich zu Recht ziemlich sicher, dass dieser Ausguck während der Seereise sein persönliches Refugium werden würde und deshalb war er sehr an dessen Gestaltung interessiert. Am Ende des Nachmittags war es ihm mit Akkis Hilfe gelungen, eine halbwegs bequeme und statisch sichere Plattform zu bauen, die er am nächsten Nachmittag zusammen mit dem Schiffseigner an der Spitze des Mastes anbringen wollte. 

Er verabschiedete sich gut gelaunt und zufrieden mit seiner Tagesleistung von Akki und machte sich auf den Heimweg, wobei es sich mehr um die Nachmittagsleistung handelte, auf die er stolz sein konnte, denn in der Schule war er unfähig gewesen, den Kurvendiskussionen des Mathelehrers zu folgen. Vielmehr hatte er die ganze Zeit aus dem Fenster nach Westen gestarrt, was ja wohl die grobe Richtung zur Ahorninsel war.

Ganz wohl war ihm auf dem Heimweg aber nicht, weil er sich vorgenommen hatte, an diesem Abend mit Oma Pulp über die bevorstehende Reise zu sprechen. Frau Oboss hatte zwar erwähnt, dass sie das schon erledigt hatte, aber Paul war klar, dass da irgendetwas in der Kommunikation zwischen der Bürgermeisterin und seiner Großmutter schief gelaufen sein musste. Oma Pulp hatte nämlich offenbar keine Ahnung vom Abenteuer, das auf ihren Enkel wartete. Das hatte Paul einer Unterhaltung am frühen Morgen vor der Schule entnommen. Oma Pulp hatte ihm nämlich von ihren Plänen berichtet, den Laden in den nächsten Wochen zu renovieren und Paul spielte bei diesem Vorhaben eine wichtige Rolle, besonders, wenn es um die oberen Regale und die Decke des Geschäftes ging. 

So holte Paul noch einmal tief Luft, als er den Laden betrat. Oma Pulp war gerade damit beschäftigt, Inventur zu machen. Das ging relativ fix, weil die Regale nicht besonders voll waren.

»Hallo Paul, gut, dass du kommst. Klettere doch bitte mal eben auf die Leiter. Ich kann von hier unten nicht genau sehen, wie viel Zucker wir noch haben. Und die Päckchen mit den Nägeln und Schrauben da hinten kann ich auch nicht zählen.«

Paul war für eine Verzögerung seines Vorhabens mehr als dankbar und kletterte mühelos die Leiter hoch. »Es sind noch vier Pakete Zucker da Oma, und ein großer Karton mit Nägeln. Schrauben gibt es nicht mehr.«

»Ach Junge, ich verstehe dich doch nicht, wenn du da oben so vor dich hin brabbelst. Komm wieder runter und sprich deutlich.«

Paul sauste die Leiter herab, baute sich unmittelbar vor seiner Großmutter auf und brüllte: »Vier Päckchen Zucker, ein Karton Nägel und keine Schrauben mehr.«

»Danke Junge, du musst dir wirklich dieses Flüstern abgewöhnen, das ist unhöflich. Ich verstehe gar nicht, wieso du so schüchtern bist. Von mir hast du das jedenfalls nicht.« Paul nickte schicksalsergeben. Die Oma sah auf die halbleeren Regale. »Wir brauchen wirklich dringend neue Ware. Andererseits ist es fürs Renovieren ganz gut, wenn wir nicht so viel ausräumen müssen.«

Oma Pulps geschäftliche Probleme bestanden in der Tat nicht darin, ihre Waren an die Kunden zu verkaufen. Ihr Laden war der einzige seiner Art in Neustadt und somit abgesehen von den Marktständen, die den Bauern gehörten, ziemlich konkurrenzlos. Die Schwierigkeit lag vielmehr darin, Waren zu beschaffen, die nicht in Neustadt selbst hergestellt wurden. Der Handel mit anderen Gemeinden war durch die Kristalldiebstähle der letzten Jahre praktisch eingeschlafen.

Nur ganz selten erreichte ein Schiff den Neustädter Hafen. Die Besatzungen dieser seltenen Schiffe waren wilde Haufen todesmutiger Seeleute, die sich trotz ständiger Lebensgefahr über die Weltmeere bewegten und denen die Fracht überall förmlich aus den Händen gerissen wurde. Danach war man aber sehr froh, wenn das Schiff wieder in See stach, weil man Angst vor diesen wilden Kerlen hatte.

»Wann wolltest du denn mit dem Renovieren beginnen?«, fragte Paul ziemlich laut. »Was meinst du mit verrinnen? Stimmt etwa etwas mit dem Zucker nicht?«, fragte die Oma leicht verwirrt. »Alles in bester Ordnung Oma«, schrie Paul. »Wann willst du den Laden streichen?« 

»Du hast recht, dann werden die Maden weichen. Aber meinst du wirklich, da sind überhaupt welche? Das kann ich mir nicht vorstellen. Andererseits gehen sie gerne an den Zucker.«

Paul gab auf. Heute war Oma wirklich extrem schwerhörig. Er beschloss, einen Brief zu hinterlassen, wenn er mit der Maiblume in See stechen würde. In dem Brief würde unter anderem stehen, dass Frau Oboss gerne alle Fragen beantworten würde. Das war am einfachsten, wenigstens für ihn.

 

*

 

Herrn Kenneden war völlig klar, dass er vor eine Mauer rennen würde und diese Mauer stand im Rathaus. Trotzdem machte er sich mit gehöriger Wut im Bauch auf, um Frau Oboss wenigstens ganz deutlich klarzumachen, was er von der Tatsache hielt, dass sie sich für ihre Gruppe das einzig funktionierende Verkehrsmittel unter den Nagel gerissen hatte. Apropos gerissen, das war sie nämlich, gerissen und falsch. Von wegen Ausschreibung und Chancengleichheit. Da konnte Herr Kenneden nur müde lachen.

Das tat er auch noch einmal demonstrativ, als er das Rathaus stürmte, vorbei an einem vom Tage erschöpften Hausmeister Kragenknopf, der ihm nur hinterher starren konnte und dann mit den Schultern zuckte. Wer sich nicht anmelden lassen wollte, war selbst Schuld. Frau Oboss würde Herrn Kenneden schon in seine Schranken weisen, wenn er ihr Büro in solch einem Affenzahn stürmte.

Genau das geschah auch wenige Minuten später. »Was fällt Ihnen ein?«, fragte Frau Oboss ziemlich schrill und laut, als Herr Kenneden ohne anzuklopfen die Tür aufriss und auf sie zulief. Herr Kenneden erwiderte etwas weniger schrill, aber genauso laut: »Genau das wollte ich Sie fragen. Wie kommen Sie dazu, für Ihre Kristallgruppe die Maiblume zu reservieren? Wie sollen bitte sehr meine Leute auf die Ahorninsel kommen? Sollen sie vielleicht fliegen?«

Auf Frau Oboss Gesicht breitete sich ein schadenfrohes Lächeln aus. Selbst Herr Kenneden, der ihrer Meinung nach nicht gerade schnell war, hatte das Problem endlich bemerkt. Triumphierend schob sie ihre Brille hoch. »Tja, das ist doch immerhin eine Idee. Ihr Sohn sollte vielleicht vorher ein paar Stunden bei den Möwen nehmen.«

Herrn Kennedens Wut erreichte den Siedepunkt. Beinahe hätte es bei der nächsten Wahl keinen Bürgermeisterkandidaten mehr gegeben, weil die eine auf dem Friedhof und der andere wegen Mordes im Gefängnis gewesen wäre. Aber es gelang ihm noch so gerade, seine Erregung zu zügeln. »Sie werden schon sehen, wer den Wettkampf gewinnt, Sie alte Hexe.« Er hatte Schaum vor dem Mund, als er sich umdrehte und die Tür so laut er konnte, hinter sich zuknallte. Auch die Rathaustür pfefferte er ins Schloss. Herr Kragenknopf schreckte hoch, schüttelte erbost den Kopf und versuchte es erneut mit einem Nickerchen im Dienst. Frau Oboss hörte auch das zweite Türenknallen in einiger Entfernung und sagte leise zu sich selbst: »Wenn ich eine Hexe wäre, hätten wir alle keine Probleme mehr. Dann hätte ich längst riesige Kristalle herbeigezaubert. Dieser Blödmann kapiert einfach nicht, dass es mir nur um die Sache geht.«

Das glaubte Herr Kenneden in der Tat nicht. Im Gegenteil, er unterstellte Frau Oboss nur eigennützige Motive, genau wie sie ihm übrigens auch und natürlich hatten beide damit recht.

Herr Kenneden schritt schnell aus, weil er seine Wut und seinen Frust irgendwie abreagieren musste. Während er nach Hause trabte, zermarterte er sein Gehirn nach einer Lösung für sein Problem. Wie zum Teufel sollten Linus, Maxi und Albert diese verdammte Ahorninsel erreichen, wie die Westsee überwinden? Er hatte immer noch keinen Schimmer einer Ahnung, als er sein Heim erreichte. Die nächste Tür fiel ziemlich laut ins Schloss.

»Ach, da bist du ja«, sagte seine Frau noch erfreut. Er nickte grimmig. 

»Ist was?«

»Du merkst auch alles«, knurrte er.

›O je‹, dachte Frau Kenneden und hätte sich am liebsten in die Küche verzogen. Aber sie wusste, das hätte die gereizte Stimmung des Vaters ihrer Kinder noch angeheizt.

»Möchtest du über deinen Ärger reden?«, flötete sie daher vorsichtig.

»Diese alte Oboss-Hexe denkt, sie hätte mich ausmanövriert. Aber die wird sich noch wundern.« 

»Wie schön, dass du alles im Griff hast«, sagte Frau Kenneden. Das war natürlich nicht gerade die glücklichste Antwort, aber das konnte sie schließlich beim besten Willen nicht wissen.

»Die blöde Kuh hat sich die Maiblume unter den Nagel gerissen für ihre dämliche Crew und ich stehe jetzt da und kann sehen, wie ich Linus auf die Ahorninsel bringe. So ein verdammter Mist!«

Unbemerkt hatte Linus den Raum betreten und die Unterhaltung mitbekommen. Ein leises Lächeln umspielte seine Lippen. »Hallo Vater. Ich glaube, du siehst da ein Problem, wo keins ist. Ich hatte ehrlich gesagt nie die Absicht, die Westsee mit einem Schiff zu überqueren.«

Herr Kenneden drehte sich um und sah seinen Ältesten ungläubig an. »Und wollte der Herr etwa fliegen oder was?«, fragte er, sich mühsam beherrschend.

Linus nickte. »Wie du dich vielleicht erinnerst, werde ich schon auf einem Paddelboot auf der Knister seekrank. Die Überfahrt nach Betterland möchte ich meinem Magen möglichst ersparen.«

»Das heißt also, du nimmst ein paar Flugstunden bei den Möwen?«, fragte Herr Kenneden. Schließlich wusste ja niemand im Raum, dass dieser Scherz nicht in seinem Gehirn entstanden war. »Oder«, ergänzte er bösartig, »du suchst in Frau Oboss Abstellraum nach ihrem Besen.«

»Weder noch. Ich beabsichtige, mit deiner Hilfe eine Montgolfière zu bauen.«

»Eine was?«  

»Warte einen Moment. Ich zeige es dir.« Linus verließ den Raum und kehrte wenig später mit einem dicken alten Buch in der Hand zurück. Es trug den Titel »Menschliche Erfindungen«. Sein Inhalt war eine Zusammenfassung technischer Errungenschaften, die bis zur Trennung der Erden nach dem Meteoreinschlag gemacht worden waren. Ein langes Kapitel war den Brüdern Montgolfier gewidmet, die im Jahre 1783 einen Heißluftballon zunächst mit einigen Tieren hatten in die Luft steigen lassen. Da dieses Experiment gut geklappt hatte, rüsteten sie den nächsten Ballon mit einer menschlichen Crew aus. Und auch die hatte überlebt. 

»Schau dir das Kapitel mal an«, schlug Linus vor. »Vielleicht können wir eine modernere Version dieser Montgolfière bauen. Ich denke, sie wäre auch viel schneller als ein Segelboot. Und wir wollen doch die Ersten sein, die die Kristalle nach Neustadt bringen.«

Herr Kenneden sah so aus, als sähe er den berühmten Silberstreif am Horizont. Er nahm das Buch, das Linus ihm hinhielt. »Verrückte Idee. Aber was soll’s? Ich schaue es mir einmal an.« Er ging langsam und ziemlich erschöpft in sein Arbeitszimmer. Linus sah ihm hinterher und fragte dann seine Mutter: »Und was gibt es zum Abendessen?«

 

*

 

Lena hatte jetzt endgültig die Nase voll, die Faxen dicke, sie hatte genug, GENUG, G!E!N!U!G! Es reichte. So ging es nicht mehr weiter. Schluss mit dieser verdammten Situation! Sie konnten sie alle mal gernhaben, und das sofort und gleich mehrfach. Was dachte sich ihre Mutter überhaupt dabei? Das konnte doch wohl nicht wahr sein. 

Erschöpft durch diese Gedankenflut ließ sie sich auf ihr Bett fallen. Aber es blieb dabei, Lena war entschlossen, die Zumutung nicht länger hinzunehmen. Und weil sich von allein nichts ändern würde, musste sie aktiv werden. Aber wie?

Lena dachte an ihre Brüder Mika und Matti, von ihr immer die Kletten genannt, und ihr Herz krampfte sich zusammen. Wie sollten die beiden ohne sie klarkommen? Aber eigentlich war das nicht ihre Sache, sondern die ihrer Mutter. Nur, dass die das überhaupt nicht interessierte, sondern nett lächelnd die Verantwortung wieder mal Lena übertrug. Und damit war sie wieder am Ausgangspunkt ihrer Überlegungen angekommen. So ging das einfach nicht.

Vor einer guten Stunde war Lena aus der Schule nach Hause gekommen und hatte ihre Mutter dabei vorgefunden, wie sie letzte Vorbereitungen für eine Reise traf. Lenas Mutter stopfte gerade ein knitterfreies Badekleid in einen unordentlich gepackten pinkfarbenen Hartschalenkoffer, als Lena von der Tür aus »Bin wieder da« rief. »Ich bin hier«, brüllte Frau Bottich lauter als es in der kleinen Wohnung erforderlich gewesen wäre. Lena betrat das Zimmer ihrer Mutter und sah verblüfft den Koffer an.

»Verreisen wir?«

Lenas Mutter lächelte freundlich. »Beinahe. Nicht wir, sondern ich. Gut, dass wir uns noch treffen. Dann brauche ich dir keinen langen Brief zu schreiben. Ich bin nämlich etwas in Eile. Bernie hat vorhin angerufen. Er muss geschäftlich nach Asien und nimmt mich mit. Nach einer Woche Singapur fliegen wir noch drei Wochen nach Bali. Ist das nicht traumhaft?« 

Lena schluckte. »Und was ist mit den Kletten und mir?«

»Gar kein Problem. Ich hab euch 50 Euro in die Küche gelegt. Und du bist doch schon so groß und vernünftig. Manchmal denke ich, du bist vernünftiger als ich.«  

Das dachte Lena übrigens nicht nur manchmal. Sie war erst 14, eigentlich nicht gerade das optimale Alter, um vernünftig zu sein, aber die Umstände in Form eines dauerhaft abwesenden geschiedenen Vaters, einer stark zur Verantwortungslosigkeit neigenden Mutter und zweier sie bedingungslos liebender elfjähriger Zwillingsbrüder hatten das aus ihr gemacht, was sie war: Die Lena, gegen die eine Heilige eine gedankenlose Egoistin gewesen wäre.

›Aber jetzt nicht mehr‹, dachte sie ›und nicht mehr mit mir‹. Sie hatte noch versucht, ihre Mutter von der Reise abzubringen oder wenigstens den Unterhalt für sie und ihre Brüder für die kommenden vier Wochen aufzustocken, aber vergeblich.

Mit einem hoffnungsvollen »Du machst das schon« war ihre Mutter vor ein paar Minuten etwas zu intensiv und zu süß duftend aus der Wohnung entschwebt, nachdem sie alle Energie, deren sie fähig war, auf das Schließen des überquellenden Koffers gerichtet hatte. Das knitterfreie Kleid hing noch ein wenig aus dem Kofferspalt heraus und war das Letzte, das Lena von ihrer Mutter gesehen hatte, als sie die Wohnung verließ. 

Lena hatte größtes Mitleid mit sich selbst, als sie so auf ihrem Bett lag und sich die Tränen aus den Augen wischte, weil sie in diesem Moment realisierte, dass sie es natürlich wieder mal nicht fertig bringen würde, Mika und Matti ihrem Schicksal zu überlassen und dass ihre Mutter genau dieses Verantwortungsbewusstsein bei ihrer Urlaubsplanung einkalkuliert hatte. 

Seufzend griff sie zu ihrem Buch. Sie hatte es vor ein paar Tagen aus der Stadtbücherei entliehen, eigentlich gegen besseres Wissen, weil es schon so alt und abgegriffen ausgesehen hatte. Da sie aber gerade mit dem letzten Harry Potter Band fertig gewesen war und dieses Buch laut Klappentext eine spannende Geschichte voller Zaubersprüche und Phantasiewelten bieten sollte, hatte sie es mit geringen Erwartungen mitgenommen und am Abend vorher von Seite zu Seite immer begeisterter die ersten Kapitel gelesen. 

Das Buch war mittlerweile megaspannend, auch wenn es ohne Voldemort, Dumbledore und Harry auskommen musste. Auf Seite 52 befand sich gerade die Gruppe, bestehend aus einem Zauber-Azubi, einem kleinen verdreckten, aber flugtauglichen Drachen und drei Kindern, die auf der Suche nach ihren von einem Monster entführten Eltern waren, vor einer Höhle, in oder hinter der sie den Eingang zu einer anderen Welt vermuteten, in der hoffentlich ihre Eltern auf Rettung warteten.

Der Zauber-Azubi im ersten Lehrjahr blätterte in seiner Zauberspruchsammlung, um das Grüppchen in die andere Welt zu beamen und wurde endlich fündig. Die Gruppe fasste sich bei den Händen und der kleine Magier murmelte einen komplizierten Spruch. Und natürlich klappte es. Es war ja schließlich nur ein Buch. Die Gruppe befand sich plötzlich in einer Art Auenland, jedenfalls sah es auf den ersten Blick ansprechend aus, leicht hügelig mit sattgrünen Wäldern, wogenden Feldern und den üblichen Landschaftsklischees.

Lena seufzte. Wenn es im wirklichen Leben nur auch so leicht funktionieren würde, in eine bessere Welt zu kommen, na ja, was war schon besser, aber wenn es nur eine andere Welt wäre, wäre das auch schon nicht schlecht, an manchen Tagen jedenfalls, zum Beispiel an einem wie heute.  

Lena strich die Seite ihres Buches glatt und murmelte spielerisch den Zauberspruch. 

 

*

 

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