Teil I Ermittlungen
Kapitel 1
Manchmal ist es verblüffend, wie ein einziger Tag das Leben eines Menschen verändern kann. Dieser 12. Juli hatte es in sich. An ihm wurden gleich fünf Protagonisten dieser Geschichte wie Schachfiguren von einem Feld auf ein anderes geschoben, in einem Spiel mit ganz besonderen Regeln. Regeln, die sie nur zum Teil beherrschten.
Luzie wurde durch ihren ersten richtigen Job nicht nur in neue Karrieresphären katapultiert. Auch persönlich befreite sie dieser Tag von viel altem Ballast. Für Christoph verbesserte sich die Work-Life-Balance gleich um gefühlt mindestens zweihundert Prozent. Für Florian begann die aufreibendste Zeit seines bisherigen Lebens und für Nicola war der Tag der Start einer bösen Affäre. Aber das alles bedeutete wenig gegen das, was dieser Freitag in Iris’ Dasein markierte: den Übergang vom Leben zum Tod.
*
Luzie Holm hatte sich entschieden, den Weg von ihrer Wohnung auf der Kaiserswerther Straße bis zu ihrem Ziel, der Anwaltskanzlei von Christoph Hill auf der Bäckerstraße in der Carlstadt, zu Fuß zurückzulegen. Das Wetter war trotz gegenteiliger Vorhersage sonnig. Und als Fußgängerin durfte sie sich schon etwas früher auf den Weg machen. Damit versuchte sie, ihrer Nervosität ein Schnippchen zu schlagen. Zu Hause wurde der Klumpen in ihrem Magen nämlich von Minute zu Minute größer.
Luzie, die wenig dem Zufall überließ, hatte selbstverständlich vorher die erforderliche Zeit für diesen Spaziergang ermittelt. Google Maps veranschlagte sechsundvierzig Minuten. Luzie beschloss, um zehn Uhr aufzubrechen. Eine Stunde später wurde sie von Christoph Hill erwartet. Das würde ihr noch die Gelegenheit geben, ein paarmal tief Luft zu holen, bevor sie sich in die Höhle des Löwen begeben musste.
Ein letzter prüfender Blick in den Spiegel zeigte ihr, dass sich ihr graues Business-Kostüm und ihre weiße Bluse immer noch ebenso makellos wie langweilig präsentierten. Ihr Anblick war für sie selbst nicht gerade aufregend. Allerdings war dies wohl genau der richtige Dresscode für das Vorstellungsgespräch einer frischgebackenen Juristin mit nicht allzu überragendem Notendurchschnitt bei einem Anwalt, den sie nicht kannte.
Und der sie ganz sicher nicht einstellen würde. Warum sollte er auch? Schließlich gab es junge Juristen wie sie ohne Prädikatsexamen wie Sand am Meer, überlegte Luzie pessimistisch. Er hatte also die freie Auswahl. Sie dagegen konnte froh sein, überhaupt zu einem Gespräch eingeladen worden zu sein. Das verdankte sie natürlich nicht ihrem eigenen Enthusiasmus und Engagement, sondern wieder mal - wie so vieles in ihrem Leben - ihrem Vater, dem göttergleichen Rasmus Holm, von dessen Dienstzeit vor seiner kürzlich erfolgten Pensionierung sich das Düsseldorfer Oberlandesgericht immer noch luftschnappend zu erholen versuchte.
Rasmus Holm war vor vielen Jahren ein Studienfreund Friedrich Hills gewesen, der sich als Anwalt niedergelassen und vor ein paar Jahren seine Kanzlei seinem Sohn Christoph übergeben hatte. Rasmus dagegen hatte sich seinerzeit sofort für die Richterlaufbahn entschieden. Er füllte seine jeweilige Position ebenso autoritär wie charismatisch aus und beendete seine Karriere als vorsitzender Richter am Oberlandesgericht. Der einzige Wermutstropfen seines beruflichen Lebens bestand darin, dass nicht einmal ein zarter Ruf aus Karlsruhe, mit dem er eigentlich fest gerechnet hatte, erfolgt war. Ansonsten konnte man mit Fug und Recht behaupten, dass der einzige Unterschied zwischen Rasmus und Gott darin bestand, dass Gott nicht glaubte, ein Jurist zu sein.
Für Rasmus gab es von Anfang an überhaupt keinen Zweifel an der beruflichen Laufbahn seiner Tochter Luzie. Dass sie Jura studieren würde, stand bereits vor ihrem Eintritt in die Kita für ihn fest. Fairerweise muss man sagen, dass er sie nicht in eine Richtung drängte, die ihr gänzlich zuwider gewesen wäre. Folgsam erledigte sie ihr Abitur und machte ihr erstes Examen noch mit einer halbwegs annehmbaren Note.
Schon beim Gedanken an das zweite Staatsexamen jedoch wurde sie wegen der Erwartungshaltung und des dadurch hohen Drucks derart von Prüfungsangst geschüttelt, dass sie zunächst die Examina auf den St. Nimmerleinstag verschob, dann ohne jede Hoffnung an den Start ging und zum Paradebeispiel für die sich selbst erfüllende Prophezeiung wurde. Sie schaffte die Prüfungen gerade mal so mit Ach und Krach. Daher war außer ihrem Vater niemand wirklich erstaunt, als sie auch noch einen Verbesserungsversuch völlig vergeigte.
Aber sogar Rasmus Holm musste sich damit abfinden, dass sie wegen ihrer unterdurchschnittlichen Noten niemals Urteile sprechen oder sich als Partner in einer Großkanzlei zwar aufreiben, aber auch profilieren würde. Ihr blieb die juristische Alltags-Spielwiese. Und so hatte er dann ziemlich enttäuscht dieses Vorstellungsgespräch bei der Feld-, Wald- und Wiesenpraxis von Christoph Hill vermittelt.
Luzie war mittlerweile am Rhein angekommen und bremste ihr unwillkürlich stetig steigendes Tempo ab. Wenn sie so weiterlief, würde sie eine halbe Stunde zu früh, dafür aber mit Schweißflecken unter den Achseln in der Carlstadt angetrabt kommen.
Sie blieb einen Moment lang stehen, blickte auf die gegenüberliegende Niederkasseler Rheinfront und holte tief Luft.
»Wo ist das Problem, wenn es nicht klappt?«, fragte sie sich halblaut, nachdem sie sich umgeschaut und festgestellt hatte, dass wirklich niemand in der Nähe war, der ihren Monolog hätte hören können.
»Ich habe meinen Kellnerjob. Mit dem kann ich die Miete bezahlen und in Ruhe nach etwas Besserem suchen. Ich bin nicht auf diesen Christoph Hill angewiesen. Ich schaffe es auch ohne ihn und Papas Protektion. Vielleicht wäre es sogar ganz gut, wenn ich den Job nicht bekäme. Schließlich wollte ich doch noch für ein paar Monate durch die Welt reisen, bevor ich hier endgültig festsitze.«
Luzie seufzte und ging weiter Richtung Altstadt. So richtig überzeugt hatte sie sich nicht. Daher wuchs erneut die Nervosität parallel zu ihrer Geschwindigkeit.
Um Viertel vor elf stand sie vor einem Haus in der Bäckerstraße. Ein modernes Plexiglasschild teilte ihr mit, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Luzie stellte nach einem Blick auf ihre Armbanduhr fest, dass es völlig unmöglich wäre, jetzt schon zu klingeln. Sie ging die wenigen Meter zurück zur Rheinuferpromenade und setzte sich dort auf eine Bank.
*
Christoph Hill warf zur gleichen Zeit wie Luzie einen Blick auf seine Uhr. Hoffentlich erschien diese Bewerberin wenigstens pünktlich. Ihm war die ganze Situation mindestens so unangenehm wie seiner potenziellen neuen Mitarbeiterin. Einerseits wuchs ihm die Arbeit total über den Kopf, was langsam aber sicher zu Spannungen mit seiner Frau Elisabeth führte, andererseits würde er diese Luzie Holm aber auch nicht um jeden Preis einstellen, und wenn sein Vater noch so warme Worte für das Mädchen gefunden hatte. Wenn sie auch nur annähernd so furchteinflößend wäre wie ihr schrecklicher Vater, dann würde eine Zusammenarbeit in eine Katastrophe münden. Christoph hatte Rasmus Holm mehr als einmal im Gerichtssaal erlebt und schloss für einen Moment gequält die Augen.
Es klingelte. Immerhin: Pünktlich war sie auf die Minute. Christoph öffnete selbst die Tür. Seine feste Mitarbeiterin war in Urlaub und die Auszubildende erhielt an diesem Tag ihr Zeugnis im Berufskolleg. Er bemühte sich um ein freundliches Lächeln.
Sein Blick fiel auf eine junge Frau mit einem nicht nur im ersten Moment strubbelig wirkenden Kurzhaarschnitt. Sofort fielen ihm die dunklen ausdrucksstarken Augen und der etwas zu große Mund auf. Der Rest war eher durchschnittlich. Etwa 1,70 Meter groß, normale Figur und ein langweiliges Outfit.
Die dunklen Augen sahen ihn forschend an. Ihre Hände zitterten ein wenig. Sie bemühte sich um ein Lächeln. Sie wirkte auf ihn wie ein Häufchen Elend.
Spontan vergaß Christoph seine Bedenken, streckte Luzie die Hand entgegen, lächelte nicht mehr ausschließlich bemüht und sagte: »Du bist also Luzie und unsere Väter wollen uns verkuppeln. Komm rein. Ich freue mich, dass du da bist. Ich brauche ganz dringend Hilfe.«
Luzie sah ihn einen Moment irritiert an. Das war so gar nicht der konservative Typ, mit dem sie gerechnet hatte. Christoph war offenbar nur ein paar Jahre älter als sie. Er trug an diesem Freitag Jeans und ein Hemd, aber keine Krawatte. Über seinem Schreibtischstuhl hing ein Jackett.
»Soll ich erst erzählen, oder möchtest du anfangen?«, fragte der Anwalt.
»Ich höre erst mal zu«, antwortete Luzie geschickt, weil sie so noch einen Moment Zeit gewann, um zu entscheiden, ob sie ihr doch nicht ganz so furchteinflößendes Gegenüber tatsächlich auch duzen sollte.
»Dann lege ich mal los. Ich habe die Kanzlei vor vier Jahren von meinem Vater übernommen. Vorher haben wir ein paar Jahre zusammengearbeitet. Nach seinem Ausscheiden habe ich einen Rechtsanwalt eingestellt, weil es für einen allein zu viel zu tun gibt. Wir hatten das so aufgeteilt, dass der Kollege in erster Linie für Strafrecht zuständig war und ich mich um Vertragsrecht, Arbeitsrecht und andere Zivilrechtssachen gekümmert habe.
Dann hat der Kollege eine Berlinerin kennengelernt, die er vor Kurzem auch geheiratet hat, und ist in die Hauptstadt gezogen. Die Folge ist, dass ich dringend wieder jemanden fürs Strafrecht brauche. Könntest du dir das vorstellen oder liegen deine Interessen auf einem anderen Gebiet?«
»Das hier wäre mein erster Job nach dem Examen. Also so richtig spezialisiert bin ich wirklich noch nicht.«
»Das musst du auch nicht sein. Du kannst dich ja einarbeiten. Die Frage ist, könntest du dich grundsätzlich mit Strafrecht anfreunden und natürlich auch mit den entsprechenden Klienten?«
Luzies Nervosität hatte sich durch Christophs lockere Art mittlerweile in Wohlgefallen aufgelöst.
»Ich weiß nicht, ob ich mich mit Axtmördern und Brandstiftern anfreunden möchte«, sagte sie vorsichtig grinsend. »Aber das muss ich ja wohl auch nicht. Ich finde, sie sollten fair behandelt und gut verteidigt werden, und das würde ich tatsächlich gerne machen.«
»Hiermit hast du den Job. Wann kannst du anfangen?«, fragte Christoph erleichtert.
»Willst du denn gar nichts von mir wissen oder meine Zeugnisse sehen?«
Christoph grinste. »Dein Vater hat meinem Vater gesagt, du wärst viel besser, als es nach deinen Zeugnissen aussähe. Und da dein Vater eine Autorität in jeder Hinsicht ist, glaube ich das jetzt einfach mal. Wie sieht es mit deinen Fremdsprachenkenntnissen aus?«
»Ich spreche Englisch und ein bisschen Französisch. Und natürlich Schwedisch. Mein Opa ist Schwede.«
»Ich kann mich ehrlich gesagt an keinen schwedischen Mandanten erinnern«, stellte Christoph bedauernd fest. »Na, dann zeig mal her, was du an Unterlagen mitgebracht hast.«
In der folgenden Viertelstunde nahm Christoph die Zeugniskopien zu seinen Akten, ein für beide erträgliches Gehalt und eine Probezeit wurden vereinbart, ein vorbereiteter Vertrag unterschrieben und als Arbeitsbeginn wurde eben dieser Moment der Vertragsunterzeichnung vereinbart. Christoph drohte nämlich unter Aktenstapeln zu ersticken, was Luzie aus berechtigtem Interesse an ihrem neuen Job unter allen Umständen verhindern wollte.
Christoph zeigte Luzie ihre künftige Wirkungsstätte und warf eine erste Akte auf den ansonsten leeren Schreibtisch. Es ging um einen Verkehrsunfall, bei dem Christophs Mandant auf seiner allerersten Tour mit einem E-Scooter ungeschickt agierend einen Fußgänger über den Haufen gefahren hatte. Fremdsprachenkenntnisse waren hier nicht erforderlich. Der Rollerfahrer lebte seit seiner Geburt in Flingern, der Fußgänger stammte aus Himmelgeist.
Luzie arbeitete sich in Unfallskizzen und den bisherigen Schriftverkehr ein und formulierte erste Gedanken, dass nämlich eigentlich der Unfallverursacher das Opfer sei, ein Opfer des immer unübersichtlicheren Straßenverkehrs und der vom Gesetzgeber unzureichend geforderten Ausbildung am neuen Gerät. Sie lächelte und fühlte sich seit langer Zeit mal wieder als Glückskind. Das war dann doch etwas anderes, als Helikoptermüttern und nicht immer gut gelaunten Geschäftsleuten Latte Macchiato zu servieren.
Ihr Mobiltelefon machte Pling. Sie hatte eine WhatsApp-Nachricht ihres Vaters erhalten mit dem Wortlaut: »Melde dich endlich, ob es geklappt hat. Sitze hier und warte. Heute 18 Uhr Bericht bei mir beim Abendessen!«
Luzie seufzte. Eigentlich hatte sie sich am Abend mit einer Freundin treffen wollen. Sie antwortete kurz und knapp: »Hab den Job. 18 Uhr geht klar.« Schließlich wurde sie von Christoph nicht für Chats mit ihrem Vater bezahlt.
Aber auch eine längere Mail hätte der ohne mit der Wimper zu zucken toleriert. Christoph war einfach nur erleichtert, dass sich mit etwas Glück seine berufliche Stresssituation entspannen würde. In den letzten Wochen, die er bis auf kurze Stippvisiten in seiner Wohnung zwischen Mitternacht und sechs Uhr meistens im Büro verbracht hatte, war ihm endgültig klar geworden, dass Erfolg im Beruf und eine Menge Geld, die man damit verdiente, nicht alles im Leben sein konnten.
Sein vierzigster Geburtstag - und damit der noch diffus wirkende Lebensabschnitt des fortgeschrittenen Alters - stand massiv drohend vor der Tür und seine eigentlich glückliche Ehe mit seiner Frau Elisabeth war durch die Tatsache, dass man sich kaum noch sah, ein wenig strapaziert worden. Auch Elisabeth schob als Steuerberaterin in einer Großkanzlei nicht gerade eine ruhige Kugel, aber das war nichts im Vergleich zu Christoph, seit dessen Kollege sich nach Berlin abgesetzt hatte. Leider war nämlich dieser Entschluss ein wenig plötzlich gekommen. Der Jurist entschwand, seine Fälle jedoch blieben liegen.
Christoph konnte Luzies Effizienz natürlich überhaupt noch nicht einschätzen, aber sie war ihm vom ersten Augenblick an sympathisch gewesen und für den Rest gab es schließlich die Probezeit. Es würde schon alles klappen. Glücklicherweise schien sie auf ihre Mutter zu kommen. Sie hatte dem gefürchteten Rasmus Holm weder äußerlich noch in ihrem Auftreten geähnelt. Das wäre allerdings auch ein K.-o.-Kriterium für die Einstellung gewesen. Aber es konnte nicht schaden, die neue Mitarbeiterin etwas besser kennenzulernen.
Christoph steckte den Kopf in Luzies Büro. »Mittagspause. Ich lade dich ein. Wie wäre es mit Gosch oder dem Schwan?«
Luzie entschied sich für den Schwan am Burgplatz. Unterwegs plauderten sie über Privates. Luzie erfuhr, dass Christoph mit Elisabeth verheiratet war, und das ausgesprochen glücklich, wenn sie sich gelegentlich mal sahen. Kinder hatten sie nicht, wenn auch Christoph in einem Halbsatz erwähnte, dass das Thema noch nicht endgültig zu den Akten gelegt worden sei.
Luzie schilderte ihre Lebenssituation mit den dafür vorgesehenen vier Worten: ledig, Single, keine Kinder.
Beide stellten eine Menge Gemeinsamkeiten fest: Sie lebten genau in der Stadt, in der sie gerne leben wollten. Beide waren seit vielen Jahren und mehreren Ligen Anhänger der Fortuna. Luzie war sogar stolze Besitzerin einer Dauerkarte. Beide reisten gern und waren normalerweise viel mehr mit ihren großen Freundeskreisen unterwegs als in der letzten Zeit, Luzie wegen ihrer Examina und Christoph wegen der vielen Arbeit. Aber das würde ja jetzt alles besser werden.
Bedauernd sah Christoph eine Stunde später auf seine Uhr. »Ich fürchte, wir müssen wieder los. Ich hoffe, du hast ein genauso gutes Gefühl wie ich. Das könnte wirklich klappen mit uns beiden.«
Luzie nickte glücklich. Was für ein netter Typ!
*
Cornelia Amrath wunderte sich. Nachdem sie die Haustür aufgeschlossen hatte, empfing sie nichts als Stille. Das war ungewöhnlich. Sie sah auf ihre Armbanduhr, die ihr digital und daher ganz genau mitteilte, es sei 17.36 Uhr. Um diese Zeit hätten Florian und Lena eigentlich noch da sein müssen. Sie hatte mit einer Geräuschkulisse aus angeregtem Geplauder und leiser Musikuntermalung gerechnet, aber nicht mit diesem akustischen Nichts. Immerhin zwitscherte jetzt wenigstens eine Amsel in die Stille hinein.
Cornelia legte irritiert ihre Handtasche auf eine Kommode im Flur und ging zielstrebig ins Wohnzimmer ihrer Arbeitgeberin. Auf dem Esstisch standen drei benutzte Teller des guten Geschirrs, dazu drei Teetassen und Gläser. Die Etagere war fast vollständig geplündert. Am Restbestand, einem Gurkensandwich und zwei Törtchen, hatten nicht die Gäste, sondern vielmehr der Zahn der Zeit genagt. Das schwüle Wetter des Tages hatte dazu beigetragen, dass man bei ihrem Anblick keinen großen Appetit mehr verspürte.
Auf dem Tisch standen eine altmodische Karaffe mit Sherry und eine stilvoll gestaltete Flasche mit einem Etikett, auf dem das Wort ›DüsselGin‹ zu lesen war. Das erfasste Cornelia Amrath mit einem Blick. Schließlich hatte sie vor ein paar Stunden diesen Tisch gedeckt. Florian und Lena waren also offenbar tatsächlich schon wieder fort. Merkwürdig. Gewöhnlich blieben sie zum Abendessen.
Sie ging durch die offen stehende Verandatür auf die Terrasse und stellte fest, dass die Hausherrin sich auch nicht im zwar großen, aber dennoch überschaubaren Garten aufhielt.
Zurück im Haus rief sie: »Hallo, Frau Küppersbusch? Ich bin zurück. Wo sind Sie denn?«
Als auf diese Frage keine Antwort kam, runzelte sie die Stirn, sah in die Küche und den Hauswirtschaftsraum, öffnete die Tür zur Gästetoilette und ging dann ziemlich verwundert und ein wenig besorgt die Treppe hinauf in die erste Etage. Hatte sich Iris Küppersbusch hingelegt? Ging es ihr nicht gut?
Und tatsächlich. Iris lag vollständig angezogen und in einer äußerst unbequem wirkenden Haltung auf ihrem Bett. Man sah auf den ersten Blick, dass sie sehr krank war. Sie schien wie gelähmt, atmete schwer und blickte ihre Haushälterin panisch an.
»Um Himmels willen, was ist denn los?«
Iris Küppersbusch versuchte zu sprechen. Das fiel ihr sichtbar schwer. »Florian...Lena...«, stammelte sie.
»Was ist mit den beiden? Ach, das ist auch egal. Halten Sie durch, Frau Küppersbusch. Ich rufe den Notarzt. Ich bin sofort wieder bei Ihnen.«
Cornelia Amrath stürzte die Treppe hinunter zum Telefon und wählte 112. Kurz, knapp und besonnen gab sie alle erforderlichen Informationen durch und rannte die Treppe wieder hoch. Iris Küppersbusch hatte inzwischen das Bewusstsein verloren. Ihre Haushälterin versuchte den Puls zu fühlen, scheiterte aber. Sie wusste nicht, ob es keinen Puls mehr gab oder ob sie ihn nur wegen ihrer Aufregung nicht fand.
Sie überlegte und kam zu dem Schluss, alles ihr Mögliche getan zu haben. Jetzt konnte sie nur noch hoffen, dass die herbeigerufene Hilfe nicht allzu lange auf sich warten lassen würde. Sie setzte sich auf den Bettrand und hielt Iris’ Hand.
Seit beinahe zwanzig Jahren versorgte sie nun schon den Haushalt von Iris Küppersbusch. Es gab nicht viel, was sie nicht voneinander wussten, nicht zuletzt deshalb, weil Cornelia Amrath in einer kleinen Einliegerwohnung in einem Anbau des Hauses wohnte. Dieses Arrangement hatte beiden Frauen gut gepasst. Trotzdem waren aus ihnen keine Freundinnen auf Augenhöhe geworden. Iris Küppersbusch hatte, wenn auch äußerst liebenswürdig, immer auf einen gewissen Abstand geachtet, so dass man auch nach so vielen Jahren und so engem Zusammenleben beim Sie geblieben war.
Es klingelte laut und anhaltend. Cornelia spurtete erneut die Treppe hinunter und riss die Haustür auf. Vor ihr stand ein Notarzt mit seinem Koffer in der Hand. Ein anderer Mann - offenbar ein Sanitäter - eilte noch durch den Vorgarten.
»Die Treppe hoch und dann geradeaus«, wies sie dem Arzt den Weg. Der ging schnell Richtung Treppe, gefolgt von seinem Kollegen. Cornelia schloss sich ihnen an, hielt sich aber im Schlafzimmer in gebührendem Abstand, um nicht etwa im Weg zu sein, aber bereit, jede nur denkbare Anweisung sofort auszuführen.
»Sind Sie eine Angehörige?«, fragte ein paar Minuten später der Arzt, nachdem er Iris untersucht hatte.
»Nein, ich bin ihre Haushälterin.«
»Wir bringen sie in die Uniklinik. Sie lebt, aber sie muss sofort intensivmedizinisch betreut werden.«
»Kommt sie durch, Herr Doktor?«
»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Es geht ihr ziemlich schlecht im Moment. Sie sollten bitte die Angehörigen benachrichtigen. Die können sich dann im Krankenhaus erkundigen.«
Fünf Minuten später war der Spuk vorbei. Unter Sirenengeheul war der Notarztwagen abgefahren. Nachdem sie nun nicht mehr gefordert war, irgendwelche lebensrettenden Maßnahmen in Gang zu setzen, wurden Cornelias Knie weich. Sie wankte völlig fertig ins Wohnzimmer zurück und ließ sich auf einen Stuhl am Esstisch fallen. Sie überlegte einen Moment und entschied sich dann gegen den Gin und für den Sherry. Auf dem Tisch stand noch ein offenbar unbenutztes Glas. Sie goss sich eine ordentliche Portion ein und kippte den Alkohol förmlich hinunter, was das teure Getränk eigentlich nicht verdient hatte. Aber Cornelia ging es in diesem Fall nicht um Genuss, sondern eine Art medizinischer Behandlung.
Sie hatte Angst um Iris, um ihren Job und ihre Wohnung, und zwar genau in dieser Reihenfolge. Was konnte da bloß passiert sein? Ein Schlaganfall? Ein Herzinfarkt? Was wurde jetzt von ihr erwartet? Die Angehörigen benachrichtigen. Florian und Lena, vor allem Florian. Der arme Junge. Wenn er das geahnt hätte, hätte er seine Tante ausgerechnet heute nicht so früh allein gelassen.
Sie griff nach ihrem Handy. Florians Nummer war eingespeichert. »Hallo Conny«, sagte er überrascht. »Was ist los? Habe ich etwas vergessen?«
»Ach Florian«, stöhnte Cornelia. »Iris ist gerade vom Notarzt abgeholt worden. Ich glaube, sie hatte einen Schlaganfall oder so etwas. Als ich nach Hause kam, lag sie auf dem Bett und war kaum noch ansprechbar. Sie hat nur noch eure Namen gesagt, deinen und Lenas. Wahrscheinlich wollte sie euch grüßen. Hoffentlich übersteht sie das. Ich bin total fertig.«
»Ach du Schreck«, rief ihr Gesprächspartner. »Weißt du, wo man sie hingebracht hat?«
»Ja, sie ist in der Uniklinik. Warum seid ihr denn nicht wie sonst zum Abendessen geblieben? So ein Pech. Es wäre bestimmt besser gewesen, wenn man sie schon bei den ersten Anzeichen ihrer Krankheit medizinisch versorgt hätte.«
»Tut mir echt leid, Conny, aber ich hatte noch einen beruflichen Termin, den ich nicht absagen konnte. Ich bin gerade erst auf dem Weg nach Hause. Ein wichtiger Kunde will sein Mehrfamilienhaus verkaufen. Da muss man ganz schnell sein, sonst schnappt einem ein Kollege das Objekt weg. Und Lena hatte ehrlich gesagt keine Lust, allein mit Iris zu Abend zu essen. Sie war froh, dass ich sie noch nach Hause gefahren habe. Sie lernt auf eine Klausur. Puh! Was für eine Nachricht. Ich gebe jetzt erst Lena Bescheid, fahre dann sofort in die Uniklinik und versuche herauszubekommen, wie es Iris geht. Ich rufe dich nachher noch mal an. Danke, dass du mich benachrichtigt hast.«
Cornelia drückte auf den roten Telefonhörer auf dem Display ihres Smartphones und seufzte einmal tief. Klar, dass Florian sich Vorwürfe machte. Er liebte seine Tante wirklich sehr und verbrachte für einen jungen Mann mit einem eigenen großen Bekanntenkreis ziemlich viel Zeit mit ihr. Einmal monatlich gab es freitags den Jour fixe zur englischen Teatime mit Darjeeling, Sandwiches und meist selbst gebackenen Scones und Törtchen.
Für Florian, den Sohn von Iris' älterer Schwester, war dieser Jour wirklich fix. Seine Cousine Lena und deren Bruder Kai, Kinder der jüngeren Schwester, nahmen nicht ganz so regelmäßig an diesen Treffen teil. Besonders Kai hatte Conny, wie sie von den Neffen und der Nichte ihrer Arbeitgeberin seit Kindertagen liebevoll genannt wurde, schon ein paar Monate nicht mehr gesehen.
Was für ein Tag. Cornelia seufzte, holte dann ein Tablett und deckte den Esstisch ab. Sie entsorgte die unappetitlichen Reste im Müll und räumte Tassen, Teller, Gläser und Besteck in die Spülmaschine, die damit voll war. Sie legte einen Reinigungs-Tab in das dafür vorgesehene Fach und schaltete die Maschine ein, die sich gehorsam an die Arbeit machte. Cornelia ging zurück ins Wohnzimmer und stellte Sherry und Gin ins Barfach des Schranks.
Dann erst merkte sie, dass sie trotz der häuslichen Katastrophe langsam Hunger entwickelte. Sie häufte Florians Lieblingsessen, Geschnetzeltes vom Reh mit Spätzle, auf einen Teller und schob den in die Mikrowelle. Das von ihr selbst sorgfältig zubereitete Essen musste nicht auch noch schlecht werden. Genießen konnte sie es allerdings nicht wirklich. Ihr Handy lag vor ihr auf dem Tisch. Sie wollte auf keinen Fall Florians Rückruf verpassen.
*
Luzie betrat, wegen ihres neuen Jobs mindestens auf Wolke sechs schwebend, ohne das sonst übliche ängstliche Unbehagen das Haus, in dem ihr Vater Rasmus residierte. Luzie hatte keinen Schlüssel für die Wohnung. Sie klingelte. Rasmus, ein mit einer grau-blonden Mähne geschmückter Mann des Typs Kleiderschrank, stand schon an der Tür, strahlte selbstzufrieden über das ganze Gesicht und dröhnte: »Na, min Dotter, wie habe ich das gemacht?«
Luzie zog, in dieser Hinsicht kompromisslos erzogen, selbstverständlich an der Tür ihre Schuhe aus und stellte sie auf die dafür vorgesehene Fußmatte. Sie verzichtete darauf, in eins der fünf Paar Filzpantoffeln hineinzuschlüpfen, die Rasmus in verschiedenen Größen für seine Gäste bereithielt. Barfuß folgte sie ihrem Vater ins geräumige Wohnzimmer, das mit hellen, hochwertigen skandinavischen Möbeln eingerichtet war, denen man ansah, dass Rasmus sie nicht bei den Erben Ingvar Kamprads gekauft hatte. Luzie hätte anderen Besuchern verraten können, dass es sich zum großen Teil um Arbeiten eines bekannten dänischen Designers handelte.
»Was hast du denn gemacht, Papa?«, fragte Luzie leicht irritiert. War ihr wieder mal etwas entgangen? Wahrscheinlich hatte sie nicht aufgepasst, als ihr Vater ihr beim letzten Zusammentreffen einen weiteren schon bald zu erwartenden Geniestreich angekündigt hatte.
»Was ich gemacht habe? Ich habe dir den Job deines Lebens besorgt. Oder etwa nicht? Ohne mich würdest du wahrscheinlich noch in ein paar Jahren in deinem komischen Café Flammkuchen und Fassbrause servieren.«
»Selten in dieser Kombination, Papa. Und ob es der Job meines Lebens wird, müssen wir erst mal abwarten. Aber dieser Christoph Hill scheint ein ausgesprochen netter Typ zu sein. Und dass ich mich irgendwann einmal mit Schriftsätzen und Anträgen rumquälen würde, hätte mir eigentlich spätestens nach dem ersten Semester an der Uni klar sein müssen«, stellte sie etwas resigniert fest.
»Immer noch besser, als sich mit unfreundlichen, knickrigen Gästen rumzuschlagen«, sagte Rasmus mit strenger, aber wohlklingender Bassstimme, mit der er bis vor kurzem Angeklagte und renitente Anwälte in Grund und Boden geredet hatte.
»Die meisten waren ganz freundlich. Ich befürchte, der Umgang mit Straftätern wird nicht angenehmer.«
»Typisch für deine Generation. Immer den Schwierigkeiten aus dem Weg gehen.«
Luzie wagte es nicht, den Gedanken laut auszusprechen, der sich ihr gerade aufdrängte, dass sie mit dieser bequemen Haltung offenbar etwas zu spät angefangen hatte, nämlich erst, nachdem die Aufteilung von Töchtern auf Väter im Seerosenteich bereits stattgefunden hatte.
»Erst mal Hallo, Papa«, sagte Luzie, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. Eigentlich müsste er mir seine Hand mit dem Siegelring hinhalten, so dass ich ihm demütig meine Referenz erweisen könnte, dachte sie mit einem Anflug von Renitenz.
»Hallo noch mal«, lächelte nun auch ihr Vater. Ungefragt entnahm er dem Kühlschrank seiner offenen Küche zwei Flaschen Bier, entfernte routiniert die Kronkorken an einer Schrankecke und überreichte seiner Tochter eine der beiden Flaschen. Ohne sich umzusehen, ging er auf den Balkon und erwartete selbstverständlich, dass Luzie ihm schon folgen würde. Er wurde nicht enttäuscht. Beide setzten sich auf die bequemen Stühle und hatten von Rasmus' Wohnung in Gerresheim aus einen schönen Ausblick auf den Grafenberger Wald.
»Skål«, sagte Luzie, eingedenk ihrer schwedischen Wurzeln, und trank. Rasmus wischte sich etwas Schaum von den Lippen und forderte sie auf: »Nun lass dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen. Erzähl schon! Was hat er gesagt? Hast du den Job sicher oder arbeitest du erst mal auf Probe? Und was genau sind deine Aufgaben?«
»Ja, ich habe den Job. Christoph brauchte ganz dringend jemanden für die Strafrechtsfälle. Sein bisheriger Mitarbeiter, der das Feld beackert hat, hat ihn kurzfristig sitzen lassen, weil er nach Berlin gezogen ist. Er hat nicht mal die Kündigungsfrist eingehalten, weil er dort einen optimalen Job sofort antreten musste. Und Christoph war so nett, ihm keine Steine in den Weg zu legen. Daher war er extrem froh, dass ich aufgekreuzt bin. Er hat mich gar nicht mehr nach Hause gehen lassen. Ich habe sofort angefangen. Natürlich haben wir eine Probezeit vereinbart, aber ich denke jetzt schon, unsere Zusammenarbeit könnte klappen.
Allerdings habe ich extreme Lücken im Strafrecht. Da muss ich so einiges an Theorie auffrischen und mich erst einmal in die Materie einarbeiten.«
Rasmus schnaubte theatralisch: »Na sei mal ehrlich, min Dotter, ich glaube kaum, dass es im Zivilrecht oder Verwaltungsrecht für dich leichter wäre. Deine Lücken müssen überall erheblich sein, wie deine Examensnoten bewiesen haben, und praktische Erfahrung fehlt dir ja nun völlig.
Sei froh, dass du im Strafrecht gelandet bist. Das ist überschaubar und konkret. Außerdem sind diese Fälle meistens spannender als das ewige kleinkarierte Gezänk um ein paar Euro im Zivilrecht. Und als besonderen Bonus hast du das große Glück, den ultimativen Strafrechtsexperten vor dir sitzen zu haben. Natürlich kannst du mich jederzeit anrufen und um Hilfe bitten, wenn du nicht weiterweißt. Ich könnte dir sogar eine Art Repetitorium anbieten.«
Rasmus klickte auf eine App seines Smartphones und stellte fest: »In der nächsten Woche habe ich Montag, Dienstag und auch Mittwochabend frei. Montag und Dienstag sollten wir den Allgemeinen Teil des Strafrechts abgehandelt haben. Schließlich ist es ja nur eine Wiederholung für dich. Mittwoch könnten wir anhand deiner laufenden Fälle mit dem Besonderen Teil beginnen.«
In Luzie kroch eine nicht unbeträchtliche Panik hoch. Ein Repetitorium bei ihrem Vater, das wären die Ü-Tüpfelchen auf ihrem vollendeten Glück.
»Papa, ich glaube, das ist keine gute Idee. Denk daran, wie es war, als du mit mir im ersten Semester vor den Klausuren hast üben wollen. Hinterher warst du stocksauer und ich war total verwirrt. Ich wusste überhaupt nichts mehr, jedenfalls wesentlich weniger als vorher.«
»Das liegt nur daran, dass du geistig kein bisschen flexibel bist. Sobald jemand den identischen Casus mit anderen Worten erklärt, kommst du schon nicht mehr mit.«
Luzie nickte ergeben. Widerspruch war an diesem Punkt der Verhandlung nicht das gebotene Mittel. »Ich mache dir einen anderen Vorschlag«, sagte sie. »Ich setze mich besser allein noch einmal an meine Skripten, und wenn ich ein konkretes Problem habe, mit dem ich nicht fertigwerde, dann rufe ich dich an. Ich wäre ja schön blöd, wenn ich auf so einen exzellenten Telefonjoker verzichten würde.«
Rasmus nickte gnädig. Luzie registrierte das mit äußerster Erleichterung.
»Hattest du heute schon einen konkreten Fall?«
Luzie nickte. »Ja, es geht um fahrlässige Körperverletzung. Wir vertreten den Benutzer eines E-Scooters, der bei seiner Jungfernfahrt gegen einen Rentner geprallt ist. Der alte Mann liegt jetzt mit einem Oberschenkelhalsbruch im Krankenhaus. Unser Mandant hat - unter uns gesagt - eindeutig Schuld an dem Unfall. Er hatte noch nicht die richtige Kontrolle über seinen Roller und ist deshalb lieber auf dem Bürgersteig gefahren, was, wie man sieht, offenbar nicht ganz zu Unrecht verboten ist. Ich habe heute den ganzen Nachmittag über strafmildernde Gründe nachgedacht.«
Rasmus trank den letzten Schluck Bier aus seiner Flasche, machte eine weitausholende Geste und wandte sich an sein Publikum, das aus seiner Tochter und einigen nicht besonders gesund aussehenden Hortensien sowie ein paar struppigen Rosen auf seinem Balkon bestand: »Hohes Gericht, sehr geehrte Frau Staatsanwältin, meine Damen und Herren, ist der hier anwesende Angeklagte Herr Freundlich wirklich der Schuldige an dem Zusammenprall mit dem bedauernswerten Unfallopfer Herrn Trottel, dem selbstverständlich unser aller Sympathie gilt und dem wir hier möglichst baldige und vollständige Genesung wünschen?
Natürlich ist er es nicht, wie sich Ihnen durch meine Ausführungen in den nächsten Minuten erschließen wird. Herr Trottel ist ein vierundachtzigjähriger, also äußerst betagter Mitbürger, der sowohl physisch als auch psychisch eigentlich nicht mehr in der Lage ist, ohne fremde Hilfe am allgemeinen Straßenverkehr teilzunehmen. Diese Hilfe, die durch öffentliche und kirchliche Institutionen den betroffenen Senioren überall angeboten wird, hat Herr Trottel jedoch nicht für sich in Anspruch genommen. Schade, nicht nur für ihn selbst, sondern auch für meinen Mandanten, der seit dem Unfall unter erheblichen behandlungsbedürftigen Depressionen leidet, womit er eigentlich gestraft genug sein sollte.
Vorwürfe mache ich jedoch nicht nur Herrn Trottel, der in unverantwortlicher Weise nicht nur sein Leben, sondern auch das meines Mandanten aufs Spiel gesetzt hat. Nein, es gibt noch einen weiteren Schuldigen: den Gesetzgeber. Wie konnte er es zulassen, dass Neulinge auf diesem Gebiet nicht verpflichtet werden, zunächst eine Art E-Scooter-Führerschein zu machen, um sich selbst und alle übrigen Verkehrsteilnehmer vor derartigen Unfällen zu schützen?
Schon § 1 der Straßenverkehrsordnung gebietet Vorsicht und gegenseitige Rücksicht. Wie hat sich mein Mandant verhalten? Richtig, er war vorsichtig und hat im Bewusstsein, die Materie noch nicht ganz zu beherrschen, eine Konfrontation mit Lastkraftwagen auf der Straße vermieden. Stattdessen ist er zu Übungszwecken auf dem Bürgersteig gefahren, wo er nun wirklich nicht damit rechnen konnte und musste, auf den senilen Herrn Trottel zu treffen.
Mein Mandant, Herr Freundlich, ist ein sozial denkender und empathischer Zeitgenosse, der sich bewusst selbst in Gefahr begeben hat, um durch die Benutzung des E-Scooters statt seines Autos den Kohlendioxid-Ausstoß zu senken und späteren Generationen einen bewohnbaren Planeten zu hinterlassen. Die Notwendigkeit solcher Maßnahmen verdanken wir übrigens der Generation von Herrn Trottel, die sich rücksichtslos über den Klimaschutz hinweggesetzt hat.
Darf man Herrn Freundlich dafür bestrafen? Nein, natürlich nicht. Ich beantrage daher Freispruch für meinen Mandanten.«
Zufrieden holte Rasmus Holm tief Luft. »Noch ein Bier?«, fragte er.
Luzie nickte, wider Willen fasziniert von den rhetorischen Klimmzügen ihres Vaters.
»Dann bring mir eins mit«, forderte der lapidar.
Und Luzie tat wie immer, was Rasmus verlangte.
Die Einzige, die sich bereits vor etwa fünfzehn Jahren aus Rasmus’ Sphäre befreit hatte, war Rasmus’ Frau und Luzies Mutter Ulrike. Sie hatte das nicht mit einem großen Kraftakt zustande gebracht, sondern mit der einzigen Waffe, die gegen Rasmus erfolgversprechend war, nämlich mit ebenso liebenswürdiger wie unbeugsamer Entschlossenheit. Nachdem Ulrike festgestellt hatte, dass ihre weitere Anwesenheit der Familie keinerlei Vorteile mehr bringen, sondern in durchaus absehbarer Zeit vermutlich entweder zu einem Suizid oder einem Kapitalverbrechen führen würde, hatte sie zunächst unauffällig einen Urlaub an der Ostsee angetreten und den immer wieder verlängert. Erst als niemand mehr an der vollständigen Verlagerung ihres Lebensmittelpunktes zweifeln konnte, war sie wieder nach Düsseldorf gekommen, um etwa neunzig Prozent ihrer Besitztümer einzusammeln und mitzunehmen. Der Rest blieb als Alibi in der gemeinsamen Wohnung. Eine offizielle Trennung der Eheleute hatte bis zu diesem Julitag nicht stattgefunden.
Luzie erhielt die herzliche Einladung, sie zu besuchen, wann immer es ihr möglich wäre. Rasmus wurde nicht in dieses Arrangement einbezogen. Ulrikes Umzug führte dennoch - oder vielleicht gerade deswegen - zu einer erheblichen Entspannung in der Beziehung der Eheleute, die sich mittlerweile beinahe wie alte Freunde verhielten.
Für die damals mitten in der Pubertät steckende Luzie war klar gewesen, dass es sich wirklich nur um eine Einladung für zeitlich befristete Besuche als Gast handelte. Ihre Mutter hatte ihr nicht etwa angeboten, zusammen mit ihr nach Mecklenburg zu ziehen. Luzie wunderte sich nicht darüber, schließlich wusste sie durch ständige Belehrungen ihres göttergleichen Vaters um ihre mannigfaltigen Unzulänglichkeiten. Also trottete sie im Windschatten ihres Vaters in Richtung Abitur, das sie zu aller Erstaunen mit halbwegs passablen Noten abschloss. Ihre Mutter besuchte sie im Schnitt einmal pro Jahr, was beide Frauen nach einiger Zeit für einen durchaus angemessen Zeitabstand hielten.
Luzie stellte die geöffneten Bierflaschen auf den Tisch und wandte sich ihrem Vater zu: »Ich möchte mir lieber nicht vorstellen, was du bei Gericht mit einem Anwalt angestellt hättest, der so einen Schwachsinn plädiert hätte.«
»Ich hätte ihn selbstverständlich in der Luft zerrissen«, bestätigte Rasmus. »Aber nicht jeder meiner ehemaligen Kollegen würde so souverän handeln. Also hast du gute Chancen, mit dieser Argumentation wenigstens ein Stückchen weiterzukommen. Du kannst sie ja etwas abmildern, je nachdem, gegen welchen Staatsanwalt du antrittst.«
In gewisser Weise hatte Rasmus natürlich damit recht, dachte Luzie, so wie er immer recht behielt. Rasmus war zwar ein Egomane, ein von sich selbst bedingungslos überzeugter Narzisst, aber eins konnte ihm auch seine vielköpfige Gegnerschaft nicht absprechen: Intelligenz und Fachkenntnis. Seine Schwachstelle war seine ebenfalls bekannte soziale Inkompetenz. Und genau dieser Mangel an Empathie hatte dazu geführt, dass an einer bestimmten Stelle seiner Karriere Schluss war.
Luzie trank einen Schluck Bier und genoss einen Moment der Ruhe nach diesem für sie so wichtigen und aufregenden Tag. Hoffentlich würde sie es schaffen, Christoph und Rasmus gleichermaßen zufriedenzustellen. Hoffentlich war sie gut genug für diesen Job. Sie war jetzt knapp dreißig, da sollte man langsam wissen, in welche Richtung einen das Leben schob.
Das vergangene Jahr war nicht gerade entspannt verlaufen, erst wegen der Vorbereitungen auf das zweite Staatsexamen und danach wegen der mittelprächtigen Noten, die sie bei der Suche nach einem Job hatten in Agonie verfallen lassen. Aber vielleicht würde jetzt doch alles gut werden.
»Danke Papa«, sagte sie. »Ohne deine Hilfe würde ich wahrscheinlich tatsächlich als Aushilfskellnerin irgendwann in Rente gehen.«
»Freust du dich denn wenigstens ein bisschen auf deine neue Aufgabe?«, fragte Rasmus, durch den Dank seiner Tochter milde gestimmt, unerwartet einfühlsam.
Luzie nickte, selbst noch keineswegs überzeugt, aber immerhin auf einem guten Weg dahin.
*
»Wir haben alles versucht«, sagte der junge Arzt mit angemessen betretener Miene. »Ihre Tante hat es leider nicht geschafft. Mein Beileid.«
Florian Hinz senkte den Kopf, bedankte sich leise und verließ kurz vor Mitternacht das Krankenhaus.
Kapitel 2
»Musst du dir die Nutella zentimeterdick aufs Brot schmieren?«, fragte Rita Tjombe leicht gereizt ihren Sohn Fitzwilliam. Der zuckte so lässig, wie es einem von seinen Eltern unverstandenen Fünfzehnjährigen nur möglich war, mit den Schultern. »Genau«, kreischte seine jüngere Schwester Elinor. »Bei deinem Verbrauch an Palmöl bist du verantwortlich für die Abholzung ganzer Regenwälder.« Sie streckte gebieterisch ihre Hand nach dem Glas aus, um es aus der Reichweite ihres Bruders zu befördern.
Gequält schloss Rita die Augen und wünschte sich an einen Frühstückstisch von einer Größe, an dem nur sie und maximal vielleicht ihr Mann Otto Platz finden würden.
Otto interessierte das Gezänk nicht. Er hatte die Gabe, alle störenden Einflüsse ausblenden zu können. Er konzentrierte sich gerade auf einen Zeitungsartikel über Spekulationen innerhalb des Transferfensters in der Bundesliga. Es wäre schön, wenn die Fortuna sich noch ein wenig verstärken könnte, dachte nicht nur er in diesen Tagen in Düsseldorf. Schließlich hatte man einige schmerzhafte Abgänge nach dem erfolgreichen Jahr in der ersten Liga verzeichnen müssen.
Viel Neues hatte der Artikel jedoch nicht geboten. Otto faltete die Zeitung zusammen und wandte sich an seine Familie, die zu seiner Überraschung in diesem Augenblick einen, höflich ausgedrückt, lustlosen Eindruck machte.
»Hey, was ist los mit euch? Es ist Samstag, die Sonne scheint, der Umzug ist überstanden. Heute werden wir mal unsere neue Heimat erkunden. Ich lade euch ein zu einer Stadtrundfahrt.«
Nur von Elinor bekam er eine, wenn auch nur wenig enthusiastische, Rückmeldung. »Etwa mit dem roten Doppeldeckerbus?«, fragte sie.
Otto nickte. »Och nee«, erwiderte Fitz. »Wir sind doch keine Touris. Wie peinlich wäre das denn, wenn uns jemand sieht, den wir kennen.«
»Ehrlich gesagt, finde ich die Idee auch nicht so gut«, sagte Rita. »Ich bin hier geboren und arbeite schon ewig in dieser Stadt. Und wir waren alle schon so häufig hier. Schließlich war es auch von Krefeld aus keine unüberwindbare Entfernung nach Düsseldorf.«
»Können wir nicht lieber nach Krefeld fahren?«, fragte Elinor, die ihr altes Umfeld samt ihren Freundinnen, ihrer Schule und ihrer Nachbarschaft noch schmerzlich vermisste. »Warum gehen wir nicht in den Zoo?«
»Weil wir da in den letzten zehn Jahren bestimmt hundertmal waren«, übertrieb ihr Bruder, allerdings nicht allzu sehr. »Ich will heute überhaupt nichts mit der Familie machen. Ich gehe gleich zu einem Freund.«
»Woher hast du hier schon Freunde?«, fragte Otto überrascht. Sie wohnten noch keine zwei Wochen in der Landeshauptstadt. Fitz antwortete nicht. Otto hakte nicht nach. Vielleicht wollte sein Sohn auch einfach mal allein etwas unternehmen. Mit fünfzehn war das so.
Als Otto Justice Tjombe vor gut dreißig Jahren fünfzehn gewesen war, war er ebenfalls ganz allein, oder allenfalls mit seiner Clique, durch Windhoeks Straßen gestreift auf der Suche nach Jobs und Abenteuern, am besten nach abenteuerlichen Jobs. Otto stammte aus einer der reichsten Herero-Familien des Landes - was aber seiner persönlichen Freiheit keinen Abbruch getan hatte - und war dadurch praktisch mit etwa einem Zwanzigstel der Gesamtbevölkerung Namibias verwandt.
Durch seine privilegierte Stellung hatte Otto ganz selbstverständlich gute Schulen besucht und war von seiner Familie schließlich zum Studium nach Deutschland geschickt worden, um das dort erworbene Wissen später einmal zum Wohl der Großfamilie in Namibia einzusetzen. Dieser Plan war gescheitert, was nicht zuletzt daran gelegen hatte, dass er während des Studiums an der Heinrich-Heine-Universität auf einer Party Rita aus Oberbilk kennengelernt hatte, die Anglistik studierte.
Rita verliebte sich sofort in Otto, was man von ihren Eltern nicht behaupten konnte. Die lebten in den neunziger Jahren des vorigen Jahrtausends noch in einem anderen Zeitalter und brauchten lange, um sich mit einem Schwiegersohn anzufreunden, dessen Hautfarbe so dunkel war, dass man seine exotische Herkunft beim besten Willen nicht vor den Nachbarn verbergen konnte.
Der Mangel an Begeisterung für das jeweilige Schwiegerkind wurde von Ottos Familie durchaus geteilt. Auch in Windhoek hätte man lieber jemanden aus dem eigenen Umfeld an Ottos Seite gesehen. Rita und Otto stellten jedoch die Wünsche ihrer Familien in die dunkle Ecke, in die sie gehörten, und taten genau das, was sie für richtig hielten. Sie zogen zusammen, heirateten, als die baldige Ankunft Fitzwilliams nicht mehr zu übersehen war, und lebten seitdem mehr oder weniger friedlich und glücklich zusammen, soweit die pubertierenden Kinder dies zuließen.
Rita arbeitete als Dozentin der anglistischen Fakultät an der HHU. Sie hatte sich inzwischen einen in Fachkreisen anerkannt guten Ruf als Expertin für das Leben und Werk Jane Austens erarbeitet.
Otto hatte unmittelbar nach dem Studium seinen Traumjob bei der Polizei angetreten, wo er langsam aber sicher die Karriereleiter hinaufkletterte. Am 1. Juli, also vor knapp zwei Wochen, hatte er die Nachfolge Tom Brechts als Leiter des KK11, des Kommissariats, das sich mit Kapitalverbrechen beschäftigte, angetreten. Brecht war zum Kriminalrat befördert worden und leitete jetzt die Kripo in Neuss. Jedem der beiden war es gelungen, den beruflichen Partner in den neuen Arbeitsbereich mitzunehmen. Jörg Möller folgte Tom als Hauptkommissar nach Neuss und Otto hatte seinen Krefelder Stellvertreter Martin Anger überzeugen können, sich auf Jörg Möllers Position zu bewerben.
Fitz stand auf und wollte sich in sein Zimmer verdrücken. »Hey«, rief Rita und deutete stumm auf den großzügig mit Nutella verzierten Teller.
Fitz unterzog genervt die Zimmerdecke einer kurzen Betrachtung, griff dann nach Teller, Becher und Messer und verstaute diese Gerätschaften nicht wirklich platzsparend im Geschirrspüler.
Rita hielt taktisch klug den Mund. Es war einfacher, gleich selbst umzuräumen, als sich jetzt mit Fitz einen Kampf zu liefern. Immerhin hatte er ja auf ihren nonverbalen Wunsch reagiert. So hatten beide das Gesicht gewahrt und der fragile Friede zwischen Mutter und Sohn blieb gewahrt.
»Ich spüle gleich das Geschirr mit der Hand. Das verbraucht weniger Energie«, verkündete Elinor.
»Mach das, Greta«, sagte ihr Bruder lässig, bevor er endgültig die Küche verließ.
»Mama, er soll mich nicht immer Greta nennen«, zeterte Elinor.
»Sieh es doch als Kompliment«, versuchte Rita zu vermitteln.
»Du weißt genau, er will mich nur ärgern«, antwortete Elinor, die alles tat, um ihrem großen Vorbild Greta Thunberg in jeder Hinsicht so nah wie möglich zu kommen. Sie trug ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten und übte den madonnenhaften Gesichtsausdruck der schwedischen Aktivistin gelegentlich sogar vor dem Spiegel. Leider machten ihr dabei die von Otto ererbten Gene einen Strich durch die Rechnung. Elinor würde vermutlich in ein paar Jahren eine außergewöhnlich attraktive junge Frau sein, aber den nordischen Typ verkörperte sie nun wirklich nicht.
Ottos Handy vibrierte auf dem Esstisch. »Die sollen mich doch heute alle mal in Ruhe lassen«, meuterte er, nahm aber dann doch ergeben das Gespräch entgegen. Rita hörte schon nach den ersten Sätzen, dass es sich um etwas Dienstliches handeln musste. Als Otto dem Anrufer mitteilte, er sei in einer guten halben Stunde dort - wo auch immer - holte sie ebenso erleichtert wie unauffällig tief Luft. Ein Einsatz für Otto bedeutete für sie einen ruhigen Samstag, den sie nicht auf einem Doppeldeckerbus verbringen musste, zusammen mit einem Sohn, den die Gegenwart der Eltern nerven würde, und einer Tochter, die vermutlich die ganze Zeit über den Kohlendioxid-Ausstoß des sicherlich mit Diesel betriebenen Fahrzeugs lamentieren würde.
In Ottos Abwesenheit würde sie Fitz' Abgang ignorieren können, ihrer Tochter beim Abwasch helfen, und sich dann guten Gewissens in ihr Arbeitszimmer zurückziehen, um die letzten Kisten auszupacken.
So machte sie bei Ottos entschuldigenden Worten »Tut mir echt leid, Schatz, aber ich habe heute Bereitschaft und die haben da in der Uniklinik einen etwas merkwürdigen Todesfall«, ein angemessen bedauerndes Gesicht und gab heuchlerisch dem Wunsch Ausdruck, Ottos Einsatz würde hoffentlich nicht so lange dauern.
Otto versprach sich zu beeilen, warf seinen darüber erbitterten Sohn aus dem Badezimmer und verließ frisch geduscht zwanzig Minuten später die Wohnung. Eine Viertelstunde danach stand er einem gähnenden jungen Arzt gegenüber, der ihn in ein Sprechzimmer führte und sich Ottos Dienstausweis zeigen ließ. Er stellte sich selbst als Johannes Ruf vor, ein Name, der mit dem Schild auf seinem Kittel korrespondierte. Otto war etwas unsicher, ob er ihn mit ›Doktor‹ anreden sollte.
»Erzählen Sie doch bitte mal, warum Sie die Polizei gerufen haben«, bat er, die Anrede umgehend.
»Ich hatte gestern Abend Dienst in der Notaufnahme. Nach einem Notarzteinsatz wurde eine Patientin namens Iris Küppersbusch eingeliefert, die kurz vor Mitternacht verstorben ist. Ich bin für den Totenschein zuständig. Das Problem ist nur, dass ich die Todesursache nicht genau genug bestimmen kann. Kurz gesagt, ich habe Zweifel, dass die Frau eines natürlichen Todes gestorben ist. Sicher bin ich mir mit meinem Verdacht, dass da irgendetwas nicht stimmt, allerdings auch nicht. Schließlich hat sie keine Schusswunde oder Stichverletzung.«
Otto nickte dem müden Arzt aufmunternd zu. »Was hatte sie denn für Symptome? Oder anders gefragt, welche Todesursache vermuten Sie denn?«
»Als sie hier eingeliefert wurde, war sie schon nicht mehr bei Bewusstsein. Sie hatte Lähmungserscheinungen und dann hat der Kreislauf versagt. Ihr ganzes Erscheinungsbild war nicht typisch für einen Schlaganfall oder Herzinfarkt. Ach, ich weiß auch nicht. Wahrscheinlich ist das alles viel Lärm um nichts. Ehrlich gesagt fehlt mir vielleicht auch einfach noch die Erfahrung. Ich bin erst seit zwei Wochen in der Notaufnahme. Aber eine der Schwestern dort, die das schon ewig macht, hat mir den Rücken gestärkt, als ich den Verdacht geäußert habe, dass da etwas nicht stimmt.«
»Sie haben sich völlig korrekt verhalten«, beruhigte Otto den jungen Arzt. »Ich telefoniere mit der Staatsanwaltschaft, damit die sich um eine Genehmigung für eine Obduktion kümmert. Und sollten Sie sich tatsächlich geirrt haben, dann ist es eben so. Wir können Ihren Verdacht jedenfalls nicht auf sich beruhen lassen. Sorgen Sie bitte dafür, dass die sterblichen Überreste dieser Frau Küppersbusch nur dem Gerichtsmediziner zugänglich gemacht werden. Und mir geben Sie jetzt bitte die Angaben zur Person der Patientin, die Ihnen vorliegen.«
Nachdem das erledigt war, telefonierte Otto mit dem Bereitschaftsdienst der Düsseldorfer Staatsanwaltschaft. Danach ergab sich für ihn eine Gewissensfrage: Noch gab es schließlich keinen konkreten Fall, der sein Wochenende ruiniert hätte. Sollte er jetzt nach Hause fahren und gelassen abwarten, was die Obduktion ergeben würde? Vermutlich würde die kaum vor Montag stattfinden. Oder sollte er seinem beruflichen Instinkt folgen und die wertvollen ersten Stunden nach einem Tötungsdelikt nutzen, um sich an die Fersen eines möglichen Täters zu heften?
Er setzte sich in sein Auto und schloss für einen Moment die Augen. Dann siegte sein Pflichtgefühl, unterstützt vom Gedanken, dass er als neuer Besen eben besonders gründlich kehren müsse. Er kramte nach der Adresse, die der Arzt ihm gegeben hatte. Die Straße lag am Grafenberger Wald in der Nähe der Rennbahn. Otto beschloss, auf dem Weg nach Hause einen Umweg zu machen. Er würde den Versuch unternehmen, an Iris Küppersbuschs Adresse mit möglicherweise vorhandenen Angehörigen zu reden, um sich ein erstes Bild zu machen. Sollte ihm niemand öffnen, würde er bis Montag warten. Das schien ein vertretbarer Kompromiss zu sein.
Otto war nicht auf ein derart luxuriöses Anwesen gefasst gewesen. Düsseldorfer Straßennamen sagten ihm, der die letzten zwölf Jahre in Krefeld verbracht hatte, nicht auf Anhieb, wie es dort vermutlich aussehen würde. Hier handelte es sich um eine große weiße Villa in einem gepflegten, wenn auch langweiligen Garten. Otto schätzte, dass das Haus aus den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts stammen könnte. Er klingelte und lauschte einem wohltönenden Glockenspiel. Es dauerte einen Moment, bevor er Schritte im Haus hörte.
Eine gepflegt aussehende Mittfünfzigerin in einem marineblauen Sommerkleid, blass und mit dunklen Ringen unter den Augen, öffnete und schrak sichtlich zusammen, als sie Otto vor der Tür stehen sah. Otto hatte sich an derlei kurze Schreckmomente seines Gegenübers bei ersten Begegnungen längst gewöhnt. Auch die nächste Reaktion hätte er vorhersagen können. Betont freundlich versuchten die Leute, diesen Moment zu überspielen. Schließlich war niemand ein Rassist.
Otto stellte sich vor und hielt Cornelia Amrath seinen Dienstausweis entgegen.
»Sie sind von der Kripo?«, fragte sie erstaunt. Otto nickte und wiederholte: »Hauptkommissar Otto Tjombe.«
»Ja, um was geht es denn? Kommen Sie wegen des Todes von Frau Küppersbusch?«
Otto nickte. »Und wer sind Sie, bitte?«, fragte er höflich.
»Ich bin die Haushälterin. Ich wohne auch hier und habe gestern den Notarzt gerufen. Aber was ist eigentlich los? Ich dachte, Frau Küppersbusch hätte einen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten. Wieso interessiert sich denn die Polizei dafür?«
»Wäre es möglich, sich im Haus zu unterhalten?«
»Ja, natürlich. Kommen Sie herein.«
Cornelia Amrath trat beiseite und winkte Otto an sich vorbei. Sie ging ins Wohnzimmer. Otto folgte ihr.
»Sollen wir uns hier unterhalten oder möchten Sie mit in mein Appartement kommen?«
»Lieber wäre es mir bei Ihnen«, sagte Otto, der einen möglichen Tatort meiden wollte. Wahrscheinlich würde sich das als eine völlig unnötige Vorsichtsmaßnahme erweisen, aber man konnte ja nicht wissen, wie sich der Fall, wenn es denn überhaupt einer war, entwickeln würde.
Cornelia Amrath ging durch einen Flur und schloss an dessen Ende eine Wohnungstür auf. »Bitte«, sagte sie einladend. Otto folgte ihr in ein gemütliches, nicht allzu großes Wohnzimmer, das von einer Bücherwand dominiert wurde.
»Möchten Sie einen Kaffee?«, fragte sie.
Otto lehnte dankend ab.
»Wie lange arbeiten Sie schon für Frau Küppersbusch?«
»Am 1. Januar wären es zwanzig Jahre gewesen.«
»Dann kennen Sie sie und die Verhältnisse hier ja sehr gut.«
Die Haushälterin nickte abwartend.
Otto fragte: »Waren Sie nach so langer Zusammenarbeit mit Frau Küppersbusch befreundet?«
»Das ist nicht so leicht zu beantworten. Wir hatten schon ein enges Vertrauensverhältnis zueinander. Aber Freundinnen, nein, das würde ich nicht sagen. Sie war immer in erster Linie meine Chefin. Wenn ich an sie denke, ist sie für mich Iris, aber angeredet habe ich sie selbstverständlich mit Frau Küppersbusch. Das war ihr auch wichtig. Die Neffen und die Nichte dagegen sind wie meine eigene Familie. Aber bitte, jetzt sagen Sie mir doch erst einmal, warum Sie überhaupt hier sind.«
Otto nickte. Wenn er die volle Kooperation von Cornelia Amrath haben wollte, dann musste er in Punkto Information den ersten Schritt machen. »Die Todesursache von Frau Küppersbusch ist nicht eindeutig. Der zuständige Arzt in der Uniklinik konnte auf Anhieb keine eindeutige Todesursache feststellen. Deshalb habe ich eine Obduktion beantragt. Die wird vermutlich Montag stattfinden. Heute wollte ich mich vorab über das Umfeld von Frau Küppersbusch informieren, also über ihre Lebensumstände, ihre Angehörigen und so weiter. Ich wäre Ihnen für einen kurzen Überblick dankbar.«
Cornelia zögerte. Was war wichtig und was waren in so einem Fall überflüssige Informationen? Musste, konnte beziehungsweise durfte sie solche privaten Dinge preisgeben? Was würden Florian und Lena dazu sagen? Welcher Person schuldete sie momentan hauptsächlich ihre Loyalität? Und nicht zuletzt: Deckte sich dieser Anspruch auf Solidarität mit ihren eigenen Interessen in dieser Sache?
Sie atmete einmal tief durch und besann sich dann auf ihre Bürgerpflichten. Sie begann ohne Rücksicht auf sich selbst, auf ihre verstorbene Arbeitgeberin und deren potenzielle Erben: »Frau Küppersbusch ist achtundfünfzig Jahre alt geworden. Sie war mit dem damals bekannten Düsseldorfer Fabrikanten Heinz Küppersbusch verheiratet, der 2004 verstorben ist. Er war ungefähr fünfundzwanzig Jahre älter als sie. Die beiden hatten keine Kinder.
Iris Küppersbusch hatte zwei Schwestern, Barbara Hinz und Hanne Wieland. Barbara hat einen Sohn, Florian. Hanne ist die Mutter von zwei erwachsenen Kindern, Lena und Kai. Frau Hinz lebt mittlerweile im Schwarzwald. Alle übrigen sind in Düsseldorf geblieben.
Frau Küppersbusch hatte ein ausgesprochen enges Verhältnis zu ihren Neffen und der Nichte, wahrscheinlich, weil sie selbst keine Kinder hatte.«
»Wie alt sind die Neffen und die Nichte?«, fragte Otto.
»Florian ist der Älteste. Er ist einunddreißig. Die beiden anderen sind so Anfang bis Mitte zwanzig. Wenn Sie es genau wissen wollen, kann ich die Geburtsdaten nachschauen.«
Otto winkte ab.
Cornelia Amrath fuhr freiwillig mit ihren Informationen fort. Jetzt, wo sie sich einmal für Offenheit entschieden hatte, blieb sie ihrer Linie treu.
»Frau Küppersbusch traf sich einmal im Monat freitags mit ihren jungen Verwandten. Gestern war so ein Jour fixe. Florian und Lena waren zum Tee da. Florian, der fast wie ein Sohn für Iris war, kam immer, Lena recht häufig und Kai ein bisschen seltener.«
Otto machte sich eine Notiz und bat um die Adressen von Florian, Kai und Lena.
»Waren Sie gestern Nachmittag auch dabei?«, fragte er.
»Nein«, antwortete Cornelia Amrath. »Ich habe noch alles vorbereitet, Sandwiches, Kuchen und das Abendessen. Dann bin ich losgefahren. Es war mein freier Nachmittag.«
»Gibt es noch Reste vom Essen?«
»Ja. Das gemeinsame Abendessen hat überhaupt nicht stattgefunden. Lena und Florian sind nach dem Tee wieder gefahren. Das war ungewöhnlich. Von den Sandwiches zum Tee waren nur noch ein paar kleine Reste übrig. Die habe ich fortgeworfen. Sie sahen nicht mehr gut aus.«
»Was ist aus dem benutzten Geschirr geworden?«
»Glauben Sie etwa, Frau Küppersbusch ist vergiftet worden?«
»Im Moment glaube ich noch gar nichts. Wir müssen abwarten, was die Obduktion ergibt. Aber eine Vergiftung ist unter diesen Umständen nicht auszuschließen.«
»O Gott«, sagte Cornelia Amrath mehr erschrocken als fromm. »Das Geschirr habe ich gestern Abend in die Spülmaschine geräumt. Mittlerweile steht es wieder sauber im Schrank. Die restlichen Sandwiches sind noch in der Mülltonne. Die AWISTA kommt immer nur dienstags in unsere Straße. Und vom Abendessen habe ich gestern selbst eine Portion zu mir genommen, als der Notarzt mit Frau Küppersbusch abgefahren war. Plötzlich hatte ich Hunger. Ich hatte seit dem Frühstück nichts gegessen«, fügte sie beinahe entschuldigend hinzu. »Es gab Reh und Spätzle. Das Essen war völlig in Ordnung. Sonst wäre mir ja auch übel geworden.«
Otto nickte zustimmend und ließ sich von der Haushälterin die restlichen Sandwiches aus der Tonne klauben. Verpackt in einen kleinen Plastikbeutel hielt sich der Geruch in Grenzen.
»Sie sagten, es wurde Tee getrunken?«
»Ja, aber den kleinen Rest in der Kanne habe ich gestern weggegossen. Ich hatte ja keine Ahnung, dass es wichtig sein könnte, alles aufzuheben.«
Otto nickte verständnisvoll. »Sicherheitshalber nehme ich aber besser die übrigen Teebeutel, Zucker und Milch mit.«
Trotz der tragischen Umstände zeigte sich ein leises Lächeln in Cornelia Amraths Gesicht. »In diesem Haus gibt es keine Teebeutel, Herr Kommissar. Aber ich gebe Ihnen selbstverständlich die Dose mit, in der wir unseren Tee aufbewahren. Möchten Sie auch den Sherry und den Gin? Wobei«, Cornelia Amrath stockte, »vom Sherry habe ich gestern Abend auch noch getrunken. Ich war so fertig.«
Man einigte sich also auf die kläglichen Sandwichreste, den Gin, die Teeblätter, Milch und Zucker. Die Haushälterin verstaute alles in einer Baumwolltüte mit Stadtwerkeaufdruck und drückte sie Otto in die Hand.
»Zum Schluss noch eine etwas heiklere Frage«, kündigte Otto an. »Wenn man sich hier so umschaut, sieht alles nach viel Geld aus. Kennen Sie zufällig die Verfügungen von Frau Küppersbusch, also wer ihr Vermögen erben wird?«
»Ich würde mich sehr wundern, wenn nicht Florian, Kai und Lena erben würden«, sagte Cornelia. »Florian war wie ein Sohn für sie und Lena hat sie auch sehr gern gehabt. Zu Kai hatte sie ein etwas distanzierteres Verhältnis, aber das liegt an dessen Persönlichkeit. Er ist ein eher zurückhaltender Typ. Streit hatten die beiden aber überhaupt nicht. Sie waren sich nur nicht ganz so nahe.«
Otto Tjombe bedankte sich, versprach, Cornelia Amrath auf dem Laufenden zu halten, und verabschiedete sich, seine Stadtwerke-Tüte zum Gruß erhoben.
Viel schlauer hatte ihn dieses Gespräch nicht gemacht. Aber in dem durchaus angenehmen Bewusstsein, seine Sorgfaltspflicht selbst als neuer Besen hinreichend erfüllt zu haben, fuhr er in seine Wohnung und deponierte die Plastiktüte mit den Sandwichresten im häuslichen Kühlschrank, nachdem er einen Aufkleber mit den Worten ›Finger weg!!!‹ beschriftet und an der Tüte angebracht hatte. Die restliche Beute blieb im Stadtwerkebeutel, den er auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer verstaute, um seiner Familie den Zugriff, wie er fand, so gut wie unmöglich zu machen. Eigentlich hätte er das Ganze noch ins Präsidium bringen sollen, aber jetzt war auch mal Wochenende und zehn zu eins würde sich bei der Obduktion herausstellen, dass Iris Küppersbusch eines durchaus natürlichen Todes gestorben war.
Kapitel 3
Nicht gerade blendend gelaunt parkte Oberkommissar Axel König seinen schwarzen Kleinwagen in der Nähe des Präsidiums. Heute war sein erster Arbeitstag nach einem dreiwöchigen Urlaub, den er gemeinsam mit drei Freunden, zwei Zelten und mindestens einer Million Mücken in Schweden verbracht hatte. Abgesehen von den blutsaugenden Quälgeistern war es ein richtig schöner Urlaub gewesen. Man hatte selbst gefangenen Fisch über offenem Feuer gebraten und dazu das in großzügigen Mengen importierte deutsche Bier getrunken.
Mit den anderen Jungs hatte er sich blendend verstanden. Sie hatten vor fünfzehn Jahren gemeinsam das Abitur bestanden und seit diesem Zeitpunkt hatten sie bei jedem Treffen über diesen geplanten gemeinsamen Schwedentrip fabuliert. Dass der in diesem Jahr tatsächlich zustande gekommen war, war einem von Axels Freunden zu verdanken gewesen, der mit der Planung versucht hatte seinen Frust über eine gerade gescheiterte langjährige Beziehung zu kompensieren.
Und jetzt also keine Männerromantik am Lagerfeuer mehr, sondern wieder das Hamsterrad mit täglicher Parkplatzsuche, den räumlichen Unzulänglichkeiten des einer Baustelle gleichenden Präsidiums, den mehr oder weniger netten Kollegen und den üblichen Verdächtigen.
Apropos mehr oder weniger nette Kollegen: Zwei besonders nette waren nicht mehr da und zwei neue hatten während Axels Urlaub deren Plätze eingenommen. Wie gut man mit den beiden zusammenarbeiten würde, musste sich erst einmal zeigen.
Axel gönnte den Kollegen Tom Brecht und Jörg Möller den Karrieresprung uneingeschränkt, den beide mit ihrer Versetzung nach Neuss geschafft hatten, aber besonders Tom würde er schmerzlich vermissen, das war ihm jetzt schon klar. Hoffentlich würden sich die beiden Neuen, seine direkten Vorgesetzten, genauso effizient und kollegial verhalten. Axel war gespannt. Immerhin war ihm seine Kollegin Anke Hellmich im Team des KK11 erhalten geblieben. Mit ihr verstand er sich ganz ausgezeichnet. Gemeinsam hatten sie den spektakulären Fall um einen ermordeten Professor der Kunstakademie gelöst und betrachteten sich seitdem als eine Art Dreamteam.
Aus diesem Grund führte Axels erster Weg an diesem Montagmorgen auch zum Büro seiner Kollegin, von dem man wegen seiner geringen Abmessungen getrost annehmen durfte, es habe vorher als eine Art Besenkammer gedient. Die Hälfte des Raums nahm der durchschnittlich große Schreibtisch ein, der unmittelbar am Fenster stand und sich beinahe von Wand zu Wand erstreckte. Außer diesem abgeschabten Schmuckstück gab es noch einen gleichermaßen antiken Aktenschrank von etwa einem Meter Breite und einen der Youngtimer-Generation angehörenden Schreibtischstuhl, womit das Zimmer voll war.
Axel hatte Glück. Anke saß bereits an ihrem Platz, trank Kaffee und las die Düsseldorfer Zeitung, die sie hastig beiseiteschob, als es in ihrem Rücken an der Tür klopfte.
Anke lächelte breit, als sie ihren Besucher erkannte. »Mensch, bist du braun. Ich dachte, in Schweden regnet es nur.«
»Auf gar keinen Fall«, entgegnete Axel und stellte einen schwedischen Lakritz-Beutel im XXL-Format auf Ankes Schreibtisch. Die beiden umarmten sich freundschaftlich und Axel bat gespannt: »Los erzähl mal. Wie ist der neue Chef? Bisher weiß ich nur, dass er aus Krefeld kommt.«
»Ursprünglich kommt er aus Namibia. Er heißt Otto Justice Tjombe. Beachte bitte den zweiten Vornamen. Dadurch ist er für einen Job bei der Polizei schon fast überqualifiziert. Spaß beiseite. Bisher finde ich ihn ausgesprochen angenehm. Allerdings war es in seinen ersten beiden Wochen hier extrem ruhig. Bis auf eine Serie von versuchten Brandstiftungen war nichts los. Wie der Chef sich in Stresssituationen verhält, müssen wir erst mal abwarten.
Leider scheint sein Stellvertreter ein Idiot zu sein. Er heißt Martin Anger und geht mir schon nach so kurzer Zeit tierisch auf die Nerven. Er ist ein schlecht gelaunter, miesepetriger Stinkstiefel. Wahrscheinlich lasse ich mich seinetwegen demnächst nach Hengasch versetzen.«
»Och nee«, bat Axel. »Ein Blödmann lässt sich doch ertragen, wenn du mich hast und diesen Justice und unsere kuchenspendende Kriminalrätin. Was hat er dir denn konkret getan?«
»Das kann ich gar nicht so genau sagen«, gab Anke zu. »Wenn ich ihn schon sehe, muss ich an Magenschmerzen denken. Aber mach dir lieber selbst ein Bild. Lass dich von mir nicht beeinflussen.«
»Du bist gut. Dafür ist es jetzt ein bisschen zu spät. Hast du während meines Urlaubs noch was von Tom und Anna gehört?«
»Ja, habe ich. Tom hat sich zu mir durchstellen lassen, als er letzte Woche mit unserem Justice telefoniert hat. Anna freut sich, dass Tom als Leiter der Kripo in Neuss nicht mehr ganz so viel auf Achse sein wird. Aber Tom meint, der neue Job sei durchaus interpretierbar, und er habe nicht die Absicht, die ganze Zeit nur am Schreibtisch zu sitzen. Bei den Möllers sieht es etwas anders aus. Im Gegensatz zu Tom wäre Jörg, glaube ich, ganz glücklich darüber, ein bisschen kürzer treten zu können, was die ganzen Abend- und Wochenenddienste angeht. Seine Frau hat ihn in dieser Hinsicht ziemlich gestresst in den letzten Monaten.«
Anke sah auf ihre Armbanduhr. »Du, ich glaube, wir müssen los. Die Konferenz beginnt. Da wirst du Justice und den unheiligen Martin ja kennenlernen.«
Axel holte sich schnell noch einen Kaffee und war daher einer der Letzten, die den Konferenzraum betraten. Er stellte seinen Kaffeebecher auf den Tisch vor seinem angestammten Platz neben Anke und ging dann ans Kopfende, um sich bei Kriminalrätin Steiner aus dem Urlaub zurückzumelden und sich den neuen Kollegen vorzustellen.
Dörte Steiner war ins Gespräch vertieft mit einem großen, athletischen Mann um die fünfzig, dessen Hautfarbe an Ebenholz erinnerte und der gerade über etwas laut zu lachen begann, was Frau Steiner erzählt hatte. Die Kriminalrätin fiel in das Gelächter ein, sah dann Axel auf sich zukommen und wandte sich ihm gut gelaunt zu.
»Na, Herr König. Wie war der Urlaub? Schön, dass Sie wieder hier sind. Ich glaube, Sie kennen Ihren neuen Chef noch nicht. Das ist Herr Tjombe aus Krefeld und hier haben wir jemanden aus unserer eigenen Nachwuchsabteilung, Oberkommissar Axel König.«
Otto Tjombe wandte sich lächelnd an seinen ihm noch unbekannten Mitarbeiter. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Ich freue mich auf unsere Zusammenarbeit.«
Axels erster spontaner Gedanke war, dass der neue Chef beinahe akzentfreies Deutsch sprach. Falls es eine geringfügige Sprachfärbung gab, so ging sie in die rheinische Richtung. Axel ärgerte sich still über sein offenbar vorhandenes Vorurteil. Von jemandem mit Otto Justice Tjombes Aussehen hätte er ein deutlich holprigeres Deutsch erwartet. Und dabei wusste er noch nicht einmal, dass Otto erst mit Anfang zwanzig nach Deutschland gekommen war. Aber ein diesbezüglich ausgeprägter Ehrgeiz, verbunden mit einem überdurchschnittlichen Sprachgefühl und der Ehe mit einer Linguistin, hatten dazu geführt, dass Ottos Deutsch besser war als das des durchschnittlichen Düsseldorfers.
»Ich freue mich auch«, sagte Axel und hoffte, dass man ihm seine Überraschung nicht allzu deutlich hatte ansehen können.
»Wir sprechen uns später«, sagte Otto verabschiedend.
Axel ging zu seinem Platz zurück und fand ihn besetzt. Ein asketisch wirkender Mann, dessen Alter man wegen der tiefen Falten im Gesicht nur ganz schlecht schätzen konnte, fläzte sich auf Axels Stuhl und nahm dessen Kommen kaum zur Kenntnis.
Axel nickte so knapp er konnte, in die Richtung des neuen Kollegen, griff nach seiner Tasse und setzte sich auf den nächsten freien Stuhl neben Fabian Jerschke, den Chef des Spurensicherungsteams. Der erkundigte sich nach Axels Urlaub und outete sich als ultimativer ABBA-Fan.
Dann ging es los. Dörte Steiner reichte das Kuchentablett herum, was einem Startschuss für die Konferenz gleichkam. »Das scheint ein recht ruhiges Wochenende gewesen zu sein. Oder weiß jemand was, was ich nicht weiß?«
»Ich habe mir über die Staatsanwaltschaft die Genehmigung für eine Obduktion geholt«, sagte Otto. »Ich hatte am Samstag Dienst und bin in die Uniklinik gerufen worden. Ein unklarer Todesfall, eine Iris Küppersbusch, achtundfünfzig Jahre alt und ohne bekannte Vorerkrankungen, die plötzlich zusammengebrochen und kurz danach in der Uni verstorben ist. Ich war anschließend noch bei ihr zuhause und habe ein paar Lebensmittel sichergestellt. Eine Vergiftung wäre möglich. Keine Ahnung, was daraus wird. Wir müssen das rechtsmedizinische Gutachten abwarten. Sonst war nichts.«
»Ich habe schon eine Information der Staatsanwaltschaft auf meinem Schreibtisch vorgefunden«, bestätigte die Kriminalrätin. »Da müssen wir tatsächlich Geduld haben. Wie sieht es denn mit den angezündeten Autoreifen in Flingern aus?«
Martin Anger meldete sich zu Wort und schilderte den dilettantischen Versuch eines Unbekannten, auf einem Hinterhof in der Nähe des Paul-Janes-Stadions mit Pyrotechnik zu hantieren. Glücklicherweise war es ihm nicht gelungen, mehr als einen Bagatellschaden anzurichten. Die Feuerwehr nahm diesen Versuch jedoch trotzdem ernst. Also würde die Kripo versuchen, den Brandstifter zu ermitteln, um die Bürger Düsseldorfs vor weiteren Experimenten dieser Art zu schützen.
Die Konferenz an diesem Montag war kurz. Dass es die Ruhe vor einem Sturm sein würde, ahnten die Beteiligten nicht.
*
Es klingelte lang, und wie Luzie fand, irgendwie fordernd an der Tür der Kanzlei Christoph Hills. Luzie unterbrach ihre Arbeit. Sie war allein. Christoph war bei Gericht, die Sekretärin noch im Urlaub und die Auszubildende hatte vor zwei Stunden telefonisch mehr oder weniger glaubhaft versichert, an diesem Montagmorgen plötzlich erkrankt zu sein. Trostreich hatte sie erklärt, sie rechne aber fest damit, sich am nächsten Morgen wieder ins Büro schleppen zu können.
Luzie erwartete niemanden und setzte daher vorsichtshalber ihr für wichtige Mandanten reserviertes Begrüßungslächeln auf, bevor sie die Tür öffnete. Vor ihr stand eine große, blonde Mittdreißigerin, die nach einer kurzen gegenseitigen Musterung freundlich sagte: »Du musst Luzie sein. Ich bin Elisabeth, Christophs Frau.«
Luzie ging sofort zur Seite, um Elisabeth hereinzulassen. »Christoph ist leider nicht hier. Er hat um elf einen Termin bei Gericht.« Sie sah auf ihre Uhr. »Ich weiß nicht genau, wie lange er dort braucht, aber er wird bestimmt noch eine Stunde unterwegs sein.«
Elisabeth lächelte. »Perfekt«, stellte sie fest. »Das hatte ich mir auch ungefähr so ausgerechnet.« Während dieser überraschenden Äußerung lief sie bereits den Flur entlang bis zu Luzies Zimmer. Unaufgefordert betrat sie es. »Du sitzt doch bestimmt hier in Rüdigers ehemaligem Büro. Mit einer gewissen Eleganz glitt sie auf den Besucherstuhl vor Luzies Schreibtisch.
Luzie folgte ihr etwas irritiert und blieb erst einmal abwartend stehen. »Kann ich Christoph vielleicht etwas ausrichten oder möchtest du hier auf ihn warten?«
»Weder noch«, sagte Elisabeth freundlich. »Ich bin nicht wegen Christoph hier, sondern deinetwegen. Ich wollte dich ganz einfach mal kennenlernen. Christoph hat dich über den grünen Klee gelobt, und da wollte ich mal schauen, was du so für ein Typ bist.« Dabei betrachtete sie die neue Mitarbeiterin ihres Mannes immer wohlwollender.
Nein, Luzie passte ganz und gar nicht in Christophs Beuteschema. Sie war bestenfalls mittelgroß, hatte eher dunkle, kurze und strubbelige Haare. Gut, ihre Augen waren beeindruckend, aber insgesamt war die Optik eher durchschnittlich. Hätte man eine der beiden Frauen dem göttergleichen Rasmus als Tochter zuordnen müssen, hätten wohl die meisten auf die große, blonde, souverän wirkende Elisabeth getippt. Luzie hatte in dieser Hinsicht die Gene ihrer eher unauffälligen Mutter geerbt.
In Luzies Kopf fuhren nach Elisabeths Erklärung die Gedanken Achterbahn. Die Situation wuchs ihr gerade ein klein wenig über den Kopf. Was um alles in der Welt hatte Christoph über sie gesagt und wie hatte Elisabeth das interpretiert? Um Himmelswillen, nur keine wie auch immer gearteten zwischenmenschlichen Komplikationen.
Luzie lief rot an und wusste vor Verlegenheit nicht, wie sie reagieren sollte. Oder interpretierte sie jetzt etwas in Elisabeths Anwesenheit hinein, was ihrem Überraschungsgast überhaupt nicht in den Sinn gekommen war?
Leider fehlte ihr an dieser Stelle Elisabeths freundliche Souveränität und so verstand sie nicht, dass Elisabeth ohne jeden Hintergedanken genau das gesagt hatte, was sie meinte. Sie wollte ganz einfach Christophs neue, nach dessen Aussagen ausgesprochen nette Kollegin kennenlernen und einem kurzen Test unterwerfen, ob sie sich möglicherweise dazu eignete, in den großen Freundeskreis des Paares aufgenommen zu werden.
Luzie stand immer noch mit unglücklichem Gesichtsausdruck abwartend da. Elisabeth interpretierte das angespannte Schweigen richtig und bemühte sich daher im nächsten Schritt darum, dieser eigentlich doch sehr sympathisch wirkenden jungen Frau die offensichtlich vorhandene Unsicherheit zu nehmen.
»Erzähl mal, wie gefällt dir dein neuer Job? Ich hoffe, Christoph behandelt dich anständig und gibt dir nicht die ganzen Fälle, auf die er selbst keine Lust hat. Dieses Delegieren von unangenehmen Aufgaben ist nämlich eine Charaktereigenschaft, die ich zu Hause an ihm leider gelegentlich feststelle, wenn es zum Beispiel um die Müllentsorgung oder Telefonate mit seiner Schwiegermutter geht. Du darfst ihm so etwas auf keinen Fall durchgehen lassen, sonst machst du meine ganzen Bemühungen in dieser Hinsicht wieder zunichte.«
Luzie entspannte sich mit jedem Satz mehr. »Er ist der Boss, was soll ich machen? Du hast in dieser Hinsicht ein viel besseres Standing als ich. Aber Scherz beiseite, bisher ist er ausgesprochen angenehm. Ich soll die Strafrechtsfälle übernehmen, während er die Zivilrechtssachen beackert. Da das also von vornherein so abgegrenzt ist, ist das halt eine Lotterie mit den Fällen und den Mandanten. Aber alles ist gut im Moment.« Luzie gelang mittlerweile ein echtes Lächeln, das von Elisabeth mindestens genauso warmherzig erwidert wurde.
»Das klingt gut. Glaub mir, du tust sowohl Christoph als auch mir einen großen Gefallen, wenn eure Zusammenarbeit klappt. Ich war kurz davor, mir die Bewertungen der Scheidungsanwälte in Düsseldorf genauer anzusehen. Die letzten beiden Monate waren echt schlimm. Ich konnte von Glück sagen, wenn Christoph nachts überhaupt noch nach Hause gekommen ist. Mindestens dreimal in der Woche hat er im Büro auf der Couch geschlafen. Das hat er zumindest gesagt. Natürlich glaube ich das auch, besonders wenn sich dieser Zustand jetzt augenblicklich drastisch ändert. Aber wir sind noch nicht so lange verheiratet, dass ich mein Singledasein wieder aufnehmen möchte.«
»Ich werde mir schreckliche Mühe geben, Christoph zu entlasten. Aber ich weiß nicht ob er dir neben den Lobeshymnen auf mich auch erzählt hat, dass das hier meine erste Stelle nach dem Examen ist. Das sieht man mir vielleicht nicht an, weil ich so lange studiert habe, aber es ist so. Ich habe null Erfahrung und fühle mich im Moment noch wie eine Praktikantin an ihrem ersten Arbeitstag.«
Elisabeth schob energisch den beim Wort Praktikantin spontan aufgekommenen Gedanken an Monica Lewinsky beiseite. »Christoph hat eine ziemlich gute Menschenkenntnis. Sonst hätte er mich ja schließlich nicht geheiratet. Ihr kommt bestimmt glänzend miteinander aus. Das wünsche ich jedenfalls uns dreien.«
Die beiden so unterschiedlichen Frauen lächelten sich mittlerweile ziemlich entspannt an.
»Hast du Lust auf eine Schatzsuche?«, fragte Elisabeth.
»Eine Schatzsuche?«, echote Luzie verblüfft.
»Christoph wird in ein paar Wochen vierzig. Da ist natürlich ein großes Fest fällig. Ich habe mir überlegt, eine Art Schatzsuche zu veranstalten. Christoph und ich haben uns vor ein paar Jahren bei genau solch einem Event kennengelernt. Ich war gerade dabei, den Nagel von Uecker am Köbogen zu vermessen, als Christoph damals auch mit einem Zollstock auftauchte. Wir waren beide unterwegs, um ein Rätsel der Düsseldorfer Zeitung zu lösen. Ab diesem Moment haben wir nicht nur die Schatzsuche gemeinsam fortgesetzt, sondern auch unser Leben.
»Das hört sich wirklich spannend an«, sagte Luzie. »Natürlich bin ich gerne dabei. Und wenn du noch Hilfe brauchst, dann sag Bescheid. Ich bin in Düsseldorf geboren und denke schon, dass ich mich hier ganz gut auskenne.«
»Super. Darauf komme ich gern zurück. Heute habe ich mir extra einen Tag Urlaub genommen, um durch die Stadt zu laufen und ein paar Ideen zu sammeln. Langsam, aber sicher kristallisiert sich so etwas wie ein Plan heraus. Aber wenn du an der Suche teilnehmen möchtest, kannst du dich schlecht an den Ideen zu irgendwelchen Orten beteiligen.«
»Ich denke einfach mal nach. Wenn mir irgendwelche rätselhaften Locations einfallen, schicke ich dir einen Link. Was du daraus machst, weiß ich dann ja nicht.«
Nach dem Austausch ihrer Mobilfunknummern und einer herzlichen Umarmung, die von Elisabeth ausging, trennten sich die Wege der beiden, zumindest für diesen Tag. Luzie ging zurück an ihren Schreibtisch, um sich endlich einen Überblick über die von ihrem Vorgänger hinterlassenen offenen Strafrechtsfälle zu verschaffen, während Elisabeth sich Richtung Köbogen aufmachte, weniger wegen Ueckers Nagel, sondern weil sie, das Angenehme mit dem Nützlichen verbindend, den Tag nicht nur der Schatzsuche, sondern auch dem Shopping widmen wollte.
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In Martin Angers Büro klingelte das Telefon. Sein Gesprächspartner stellte sich ihm als Maik Wessel vor. Seinen Doktortitel unterschlug er wie immer, was zwar als sympathisches Understatement durchgehen konnte, Martin jedoch, der mit dem Namen noch nichts anfangen konnte, völlig im Unklaren darüber ließ, dass er mit dem zuständigen Gerichtsmediziner sprach.
»Ich habe versucht, mit Ihrem Chef zu reden, aber der ist wohl irgendwo im Haus unterwegs. Man hat mich dann zu Ihnen durchgestellt und mir gesagt, Sie seien sein Vertreter. Stimmt das? Ich kann schließlich nicht jedem x-Beliebigen die unappetitlichen Einzelheiten am Telefon verklickern.«
Martin Anger, dessen Grundhaltung am besten durch gleichbleibend schlechte Laune charakterisiert war, wurde durch diese kryptischen Äußerungen nicht besser gestimmt.
»Wer zum Teufel sind Sie? Und ja, ich bin der stellvertretende Leiter des KK11.«
»Na dann auf gute Zusammenarbeit«, stöhnte Maik Wessel in dem für ihn typischen halb sächsischen und halb rheinischen Tonfall. Ich bin der Gerichtsmediziner, und ich wollte Ihr Kommissariat vorab schon einmal darüber informieren, dass der Todesfall Küppersbusch höchstwahrscheinlich alles andere als natürlich war. Meinen Bericht bekommen Sie, wenn er fertig ist. Solch eine Vorabinformation war bisher eine übliche Gepflogenheit in diesem Haus. Wir können aber gerne in Zukunft darauf verzichten. Einen schönen Gruß an den neuen Leiter des Kommissariats, und wenn er was von mir will, dann soll er sich melden. Auf Wiederhören, aber das möglichst nicht so bald.« Maik Wessel knallte sein Telefon in die zugehörige Ladestation und beendete damit das Gespräch.
Martin Anger legte ebenfalls auf. Anscheinend war es doch ein Fehler gewesen, die Komfortzone in Krefeld zu verlassen, um sich in Zukunft mit den arroganten Landeshauptstädtern auseinandersetzen zu müssen, Karrieresprung hin oder her. Obwohl, das musste man Martin lassen, er war seinem Chef Otto Tjombe weniger wegen der Karriere gefolgt, sondern vielmehr wegen des zwischen den beiden Männern bestehenden Vertrauensverhältnisses. Otto war tatsächlich einer der wenigen Menschen, der Martins erst auf den zweiten Blick erkennbare Vorzüge zu schätzen wusste.
Aber es half nichts. Die Informationen, die der beleidigte Mediziner offenbar durch die Obduktion gewonnen hatte, mussten beschafft werden. Also machte Martin sich auf die Suche nach Otto. Er verließ sein Büro und lief als erstes einer Frau über den Weg, die er zwar auch nicht sonderlich mochte, mit der er sich aber noch nicht völlig überworfen hatte.
»Frau Hellmich, wissen Sie, wo der Chef ist? Ich brauche ihn dringend.«
Anke nickte. Sie hatte Otto Tjombe gerade in Axels Büro verschwinden sehen. Wahrscheinlich wollten die beiden sich etwas näher miteinander bekanntmachen. »Er ist bei Herrn König«, informierte sie den unfreundlichen Kollegen so knapp wie möglich.
»Und wer, zum Henker, ist dieser Herr König?«
»Sie kennen ihn nicht? Immerhin kennen Sie seinen Platz im Konferenzraum. Das ist genau der, auf dem Sie heute Morgen gesessen haben, neben mir übrigens. Der Platz, an dem bereits eine Kaffeetasse stand. Schönen Tag noch.«
»Vielleicht könnten Sie Ihre Liebenswürdigkeit noch krönen, indem Sie mir verraten, wo dieser royale Kollege sein Büro hat. Wir haben nämlich wahrscheinlich einen Mordfall und ich könnte mir vorstellen, dass der Chef darüber nicht erst in einer Stunde informiert werden möchte, nur weil ich so lange gebraucht habe, um das ganze Haus nach diesem Herrn König abzusuchen.«
Anke schloss für einen Moment genervt die Augen. »Das Büro von Herrn König befindet sich am Ende dieses Flurs rechts. Falls Sie lesen können, sein Name steht auch auf einem Schild, direkt neben der Tür.«
»Na bitte, geht doch, geschätzte Frau Kollegin. Ihren Namen werde ich mir übrigens merken, darauf können Sie sich verlassen.«
»Das würde mich sehr freuen, Herr Anger. Sie sehen, mir ist es bereits geglückt, mir Ihren Namen einzuprägen.«
Martin Anger marschierte den Gang entlang. Offenbar waren die Kollegen in Düsseldorf genauso dünnhäutig wie die Krefelder Truppe. Ätzend, dass man jedes Wort auf die Goldwaage legen musste. Aber den Gefallen würde er ihnen auch in Zukunft nicht tun.
Tatsächlich fand er nach der Wegbeschreibung mühelos Axels Büro. Er klopfte einmal laut an die Tür. Nachdem er dieser Höflichkeitspflicht nachgekommen war, öffnete er sie beinahe noch im selben Moment. Das Büro war klein, aber nicht ganz so winzig wie die Besenkammer, in der die unfreundliche Kollegin arbeiten musste, was ihr übrigens recht geschah.
Otto drehte sich um, als sich die Tür öffnete, und stellte Martin und Axel einander vor. Martin, der innerhalb der letzten zehn Minuten bereits mit zwei Menschen aneinandergeraten war, hatte dadurch sein Aggressionspotenzial auf einen so relativ niedrigen Wert heruntergefahren, dass er sich in der Lage sah, Axel mit einem neutralen Gesicht zuzunicken.
Der im Gegensatz zu Martin stets grundsätzlich erst einmal freundliche Axel reichte dem neuen Kollegen lächelnd die Hand und sagte: »Ich hoffe, wir werden genauso gut miteinander klarkommen, wie das mit Ihren Vorgängern der Fall war. Ehrlich gesagt trauere ich Tom Brecht und Jörg Möller noch etwas nach, aber ich bin ganz sicher, wir raufen uns auch ganz schnell zusammen.«
»Wenn Sie mit Vorgesetzten unbedingt raufen wollen, dann sollten Sie das im Boxsportclub der Polizei tun. Oder gibt es in dieser Metropole vielleicht sogar eine Rugbymannschaft? Während der Dienstzeit würde ich es allerdings vorziehen, wenn Sie einfach Ihren Job machen. Je geräuschloser Sie das tun, desto angenehmer wird unsere Zusammenarbeit.«
»Jetzt lass mal gut sein, Martin«, sagte Otto. »Herr König hat das nur nett gemeint. Ich bin sicher, wir wachsen ganz schnell zu einem Dreamteam zusammen. Hast du mich gesucht?«
»In der Tat«, sagte Martin. »Ich hatte eben einen etwas merkwürdigen Anruf von einem Herrn Wessel. Er wollte eigentlich dich sprechen. Falls ich ihn richtig verstanden habe, hat er die Obduktion an deiner Frauenleiche durchgeführt. Anscheinend ist er auf irgendetwas gestoßen, was er mir aber nicht mitteilen wollte. Vielleicht rufst du ihn mal zurück.«
Axel beeilte sich, Otto die Telefonnummer des Gerichtsmediziners zu geben. Der Chef nahm den Zettel in die Hand und fragte den jungen Kollegen, ob Herr Dr. Wessel immer so schwierig sei.
»Ganz und gar nicht«, versicherte Axel. »Normalerweise ist außerordentlich nett und kollegial. Außerdem hat er einen ausgezeichneten Ruf auf seinem Fachgebiet. Bisher hat die Zusammenarbeit mit ihm reibungslos geklappt.«
»Na dann wollen wir mal hoffen, dass das auch so bleibt.« Otto schnappte sich Axels Telefon und tippte die Nummer ein. Freundlich stellte er sich dem Gerichtsmediziner vor und hörte dann erst einmal eine ganze Zeit lang zu. Schließlich sagte er: »Ich stehe gerade bei einem Kollegen im Büro, weil ich hörte, dass ich Sie dringend zurückrufen sollte. Ich denke aber, ich sollte mir ein paar Notizen machen. Wenn es Ihnen recht ist melde ich mich in ein paar Minuten noch einmal von meinem eigenen Schreibtisch aus. Dann können wir besser miteinander reden.«
Otto legte auf und wandte sich an Martin und Axel. »Offenbar ist Frau Küppersbusch keines natürlichen Todes gestorben. Er ist sich noch nicht ganz sicher, aber Dr. Wessel glaubt, sie könnte vergiftet worden sein. Um das zu bestätigen, müssen wohl noch ein paar toxikologische Tests gemacht werden. Wir treffen uns in einer halben Stunde in meinem Büro. Herr König, bitte informieren Sie auch Frau Hellmich. Ich hätte sie gerne bei unserem Gespräch dabei.«
Otto verließ Axels Büro. Axel betrachtete seinen neuen Kollegen Martin Anger und wartete auf irgendeine halbwegs freundliche Bemerkung. Martin starrte einen Moment lang zurück, wandte sich dann ab und ging grußlos hinaus.
»Mann, o Mann«, murmelte Axel frustriert. »Das kann ja heiter werden.« Jörg Möller war auch nicht sein allerbester Freund gewesen, weil er immer ein wenig distanziert gewesen war und nach Axels Meinung zu viel Rücksicht auf seine Familie nahm, der er einen deutlich höheren Stellenwert einräumte als seinem Job, aber er war immer freundlich und kollegial gewesen, was man von diesen Martin Anger nun wirklich nicht behaupten konnte.
Dagegen hatte er einen durchaus positiven Eindruck von Otto Justice Tjombe gewonnen. Natürlich würde er Tom vermissen, er nahm jedoch an, sich mit dem neuen Chef durchaus arrangieren zu können. Aber warum um alles in der Welt hatte der diesen Idioten mit aus Krefeld nach Düsseldorf gelotst? Eigentlich hätte er doch froh sein müssen, ihn durch diese Beförderung endlich loszuwerden.
Schicksalsergeben nahm er an, dass sich dieses Rätsel wahrscheinlich auch noch eines Tages lösen würde. Bis dahin würde er versuchen, so wenig wie möglich mit diesem Ekel aneinanderzugeraten. Jetzt setzte er sich erst einmal in Richtung von Ankes Besenkammer in Bewegung, um die Kollegin auf den Stand der Dinge zu bringen.
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