Fotoecken

Tatort Düsseldorf 4

422 Seiten

 

Taschenbuch

ISBN 978-1546442622

 

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Leseprobe

 

Teil 1: Zweifelhafte Todesfälle

 

Sonntag, 18.9. 

Volker Kleist scheiterte. Von den 40 Kerzen auf dem von seiner Frau Sonja liebevoll gebackenen Geburtstagskuchen schaffte er es mit Ach und Krach, 36 auszublasen. Für die letzten vier musste er ein zweites Mal tief Luft holen.

   »Das Leben ist ungerecht«, stellte seine Schwiegermutter Agnes vergnügt fest. »Je älter du wirst, desto weniger Puste hast du, und desto mehr Kerzen sind auf dem Kuchen. Irgendwann kann das ja nicht mehr klappen.«

   »So, und jetzt singen wir endlich alle, damit wir es hinter uns haben«, regte Volkers bester Freund Steffen mit leicht belegter Stimme an. Er war nämlich einer der Teilnehmer der vorabendlichen Party gewesen, bei der Nachbarn und Freunde mit Volker in dessen neues Jahrzehnt hineingefeiert hatten. 

   Agnes gehörte nicht zu diesem illustren Personenkreis. Sie war am Morgen frisch wie der junge Frühling von Düsseldorf nach Niederkrüchten gefahren, um ihren Schwiegersohn gebührend zu feiern, wobei gebührend hieß, ihn mit kleinen sarkastischen Spitzen darauf hinzuweisen, dass er seit einigen Stunden mit hoher Geschwindigkeit auf die 50 zusteuerte. Und damit war er dann gar nicht mehr so unendlich weit von Agnes mit ihren 62 Jahren entfernt.

   Sie hatte Volkers Eltern selbstverständlich im Auto mitgenommen. Erna und Hubert Kleist wohnten wie sie selbst in der Landeshauptstadt, nur natürlich lange nicht so schön, fand sie. Während sie mitten im Geschehen der Altstadt in der Kapuzinergasse lebte, waren die Armen dazu verdammt, ihr Dasein am Stadtrand in Gerresheim zu fristen. Ernie und Bert, wie sie seit Mitte der Siebzigerjahre, als die Sesamstraße in Deutschland ausgestrahlt wurde, von ihren Freunden genannt wurden, hatten zu diesem Thema eine etwas andere Sicht der Dinge. Sie liebten ihre Parterrewohnung und den kleinen Garten und hätten sich nicht vorstellen können, beinahe täglich von mit rosa Hasenohren geschmückten jungen Frauen zum Erwerb von Kondomen aus Bauchläden aufgefordert zu werden, während sie in ihren Taschen nach ihren Haustürschlüsseln kramten. 

   Agnes begann mit ihrem Bass – es handelte sich wirklich nicht um eine tiefe, feminine Altstimme, wenn auch Alt und Zigaretten nicht ganz unschuldig an ihr waren – ›Happy Birthday‹ zu intonieren.

   Die anderen Frühstücksgäste fielen ein, Sonja laut und klar, Steffen einen halben Ton zu tief, die neunjährigen Zwillinge Emily und Fiona etwas piepsig und Ernie tapfer, wenn auch falsch. Bert bewegte nur die Lippen, so wie er es bei den Nationalspielern gesehen hatte, die zeigen wollten, dass sie eigentlich sangen, so gut wie, jedenfalls. 

   Louis strahlte. »Bösdei, Bösdei«, sagte er. Sonja lächelte ihm zu. »Genau, Papa hat Geburtstag und da singen wir ihm ein Lied.«

   »Jetzt ist es aber auch gut«, stellte der Jubilar fest. »Wer möchte Kaffee?« Mehrere Tassen wurden ihm entgegengestreckt. 

   Die Szene hätte aus einer Margarine-Reklame stammen können. Der spätsommerliche Garten der Kleists blühte prächtig in sämtlichen hierbei denkbaren Farben. Die Wiese war sattgrün und mit Gänseblümchen durchsetzt. Rittersporn, Sonnenblumen, Löwenmäulchen und Hortensien wetteiferten um das Prädikat ›schönste Blume des Gartens‹.

   Die Obstbäume hingen prall voll. Bald würde Sonja ihre Tage wieder zwischen Einmachgläsern verbringen. Eine lange Tafel war mitten auf der Wiese aufgebaut. Auf ihr stand alles, was für ein üppiges Geburtstagsfrühstück erforderlich war. Die ganze Familie saß auf mit bunten Kissen belegten Bänken. 

   Nur Louis’ Rollstuhl passte nicht in das Margarine-Reklame-Szenario.

   Sonja bestrich ein Brötchen mit ihrer selbstgemachten Erdbeerkonfitüre, schnitt es in mundgerechte Happen und reichte sie dem neben ihr sitzenden Louis. Emily bediente ihren Bruder mit Orangensaft, den sie in eine Trinkflasche für Sportler gefüllt hatte. Sonja hatte irgendwann die Babyflaschen aus dem Haushalt verbannt. Louis war fünf Jahre alt. Er brauchte zwar Hilfsmittel, aber kein Babyzubehör mehr.  

   Es dauerte mehr als eine Stunde, bis alle satt und zufrieden in die Sonne blinzelten. Agnes hatte sich mit ihrer Zigarettenschachtel in eine Gartenecke verzogen, in der diskret ein Aschenbecher aufgestellt war. 

   »Wo sind meine Geschenke?«, rief Volker fröhlich. Einige bunt verpackte Schachteln wurden aus Taschen gezogen. Sonja stand auf und kam kurz darauf mit einem Korb zurück. Volker öffnete zunächst die Päckchen, die ihm überreicht worden waren. Die Zwillinge hatten sich zusammengetan und ihr Taschengeld in das ›Spiel des Jahres‹ investiert. Es darf vermutet werden, dass diese Gabe nicht ganz uneigennützig war. Volker freute sich. Er war ein Zocker.

   »Das Spiel ist erst ab 12. Aber Emily und ich können das schon mitspielen«, versicherte Fiona. »Wir sind ja nicht doof«, ergänzte ihre Schwester. Ernie erschrak. Hoffentlich bekam Sonja diese Bemerkung nicht wieder in den falschen Hals. Sie war extrem empfindlich was Louis anging und man trat des Öfteren in ein Fettnäpfchen, das man nicht einmal für eins gehalten hatte. Aber Sonja lächelte weiter.

   Ernie und Bert überreichten ihrem Sohn einen Gutschein. Er verhieß ein Wochenende in einer europäischen Stadt seiner Wahl, zusammen mit der Ehefrau ebenfalls seiner Wahl, und der Option auf Sesamstraßen-Babysitter, die sich um ihre drei Enkel kümmern wollten. Volker schloss seine Eltern in die Arme und bedankte sich für das tolle Geschenk.

   »Da kann ich natürlich nicht gegen anstinken«, sagte Agnes, die mittlerweile ihren Nikotinhaushalt ins Gleichgewicht gebracht hatte, und trotz ihrer Aussage das Gegenteil in die Tat umsetzte. Es umwehte sie der liebliche Geruch von Menthol-Zigaretten. 

   Sie überreichte ihrem Schwiegersohn ein Päckchen in Buchform. Es handelte sich um einen Restaurantführer und einen Gutschein für ein Essen in einer Gaststätte, die er sich aussuchen durfte. »Wir gehen zu dritt, du, ich und Sonja. Um einen Babysitter musst du dich aber selbst kümmern.«

   »Das machen wir schon«, sagte Ernie gutmütig. 

   Von Steffen, seinem allerbesten Freund seit der gemeinsamen Schulzeit, bekam Volker eine Karte für ein Länderspiel, das in der ESPRIT arena geplant war. Steffen saß als Sportredakteur der Düsseldorfer Zeitung an der Quelle. 

   Jetzt war Sonjas Moment gekommen. Sie zog als erstes ein unförmiges rotes Ding aus dem Korb und reichte es Louis. »Gib Papa dein Geschenk, Louis«, sagte sie und Louis überreichte brav den Gegenstand.

   »Das ist aber schön«, lobte Volker, den roten Klumpen betrachtend. Dabei bemühte er sich um einen neutralen Gesichtsausdruck. »Was ist das, Papa?«, fragte Fiona. Hilfesuchend sah Volker seine Frau an. 

   »Das ist ein Briefbeschwerer. Den hat Louis aus Salzteig gemacht.«

   »Super«, sagte Volker hilflos.

   Sonja überreichte ihm lächelnd den Korb mit ihren Geschenken und behielt zwei Umschläge in der Hand. Volker wühlte sich durch Bücher, mehrere DVD-Staffeln seiner Lieblingsserien, nahm erfreut einen Kaschmir-Pullover in die Hand und betrachtete die Armbanduhr, die er schon seit Jahren hatte haben wollen. »Danke, mein Schatz«, sagte er und küsste seine Frau. 

   »Dante«, sagte Louis.

   »Dann habe ich noch zwei Briefe für dich. Der eine ist von Tante Fine und der andere hat keinen Absender.« Sie überreichte ihrem Mann die beiden Umschläge.

   Volker öffnete den ersten Umschlag. Er enthielt eine Glückwunschkarte mit einer großen 40 darauf und einen Scheck. Tante Finchen gehörte der aussterbenden Generation von Scheck-Schenkern an. Jüngere Bank-Azubis wurden durch sie in heillose Verwirrung gestürzt. Sie hielten das Papier mit spitzen Fingern ihren Vorgesetzten hin, die dann nach längerem Suchen so genannte Scheckeinreicher aus einer der unteren Schubladen hervorkramten. 

   Tante Fine störte das nicht. Sie war sogar noch stolze Besitzerin einer ledernen Scheckhülle, die normalerweise im Zimmersafe ihres Altenheims ihren Platz hatte. Zuverlässig holte sie sie jedoch kurz vor Weihnachten und den jeweiligen Geburtstagen ihrer Familie heraus, trug die Ziffern Eins-Null-Null ein und unterschrieb von Jahr zu Jahr ein wenig zittriger.

   Josefine Plettner war mittlerweile 90 und lebte in einer relativ angenehmen Altenresidenz. Sie war Sonjas Großtante. 

   Volker öffnete den zweiten Umschlag. Er enthielt neben einer Glückwunschkarte ein Foto und ein Gedicht.

   Der Text der Geburtstagskarte lautete: 

  »Lieber Volker, ich bin sicher, dir als geborenem Spieler wird dieses Geschenk gefallen. Es ist klein und wertvoll, aber es muss erst gefunden werden und zwar ganz allein von dir. Deshalb sollte Diskretion Ehrensache sein. Viel Spaß bei der Suche!«

 

Auf der anderen Seite der Karte befand sich folgender Limerick:

 

Du wankst nach draußen vor die Tür,

Du hattest grad’ schon ein paar Bier.

Wie klar bist du noch?

Du starrst auf ein Loch.

Im Fokus steht ein hohles Tier.

 

   Volker las beide Texte zweimal. Dann steckte er Karte und Foto wieder in den Umschlag und schob ihn in seine Jackentasche.

   »Von wem ist die Karte«, fragte Sonja.

   »Keine Ahnung. Es gibt weder Absender noch Unterschrift.«

   »Ist es etwas Unangenehmes?«, fragte seine Mutter.

   »Nein. Jemand stellt mir ein Rätsel, das ich aber allein lösen soll. Wenn ich es geschafft habe, erzähle ich euch mehr.«

   »Bestimmt wieder so ein blödes Gewinnspiel. Du nimmst teil und hast hinterher ein Zeitschriften-Abo abgeschlossen und als Prämie einen Waschlappen gewonnen. Mach das bloß nicht«, riet sein Vater. »Du wirst es nicht für möglich halten. Neulich hatte ich doch tatsächlich eine SMS auf dem Handy, ich hätte 500.000 € gewonnen. Und als ich da angerufen habe, war alles nur Betrug.«

   Volker hielt die Geschichte durchaus für möglich.

   »Mach dir keine Sorgen, Vater. Ich glaube nicht, dass es so etwas ist. Aber du kannst sicher sein, ich passe auf. Ich gerate da nicht in etwas Merkwürdiges hinein. Versprochen.«

   Der Gott der Intuition machte gerade Mittagspause, übrigens zusammen mit Volkers Schutzengel.

 

*

 

Annas Sonntagsdienst neigte sich dem Ende zu. Sie hatte ihn zusammen mit Horst Wildermann, dem Chef der Lokalredaktion, und dem jungen Kollegen Sven Ücker absolviert. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Es galt, relativ viele Seiten zu füllen. Einige Artikel von freien Mitarbeitern waren nicht pünktlich eingetroffen, was zu zermürbenden Telefonaten geführt hatte.

   Probleme mit der Technik waren dazugekommen. Kurz gesagt, Anna war ziemlich bedient, als sie ihren Computer herunterfuhr. »Puh«, sagte sie. »Gut, dass solche Tage die Ausnahme sind.«

   Sven Ücker nickte verdrossen. Er wusste, für ihn war die unangenehme Seite des Tages noch nicht vorbei. Ihm stand noch eine Auseinandersetzung mit seinen Eltern bevor, und zwar eine, die ans Eingemachte gehen würde.

   Horst Wildermann riss seine Lederjacke von der Garderobe. »Ich lade euch jetzt zum Essen ein. Keine Widerrede. Das ist eine dienstliche Anordnung.«

   Anna seufzte. Aber sie wäre an diesem Abend sowieso allein gewesen. Ihre ältere Tochter Marie lebte zwar noch im selben Haus, aber mittlerweile eine Etage über ihr in einer Wohngemeinschaft zusammen mit ihrem Freund Benedikt Schuster und zwei anderen Studenten der Heinrich-Heine-Universität. Und Jule, die Jüngere, hatte beim Frühstück angekündigt, sie werde bei einer Freundin übernachten.

   Sven lächelte erfreut. Wenn der Chef einen dienstlichen Befehl ausgab, dann konnte er beim besten Willen nicht mit seinen Eltern die ultimative Diskussion über sein Liebesleben und seinen künftigen Wohnsitz führen. Alles hatte seine Zeit: dienstliche Anordnungen ebenso wie elterliche Edikte.

   Horst Wildermann führte seine Mitarbeiter in die Brauerei Schlüssel auf der Bolkerstraße in der Altstadt und forderte sie auf, ordentlich zuzulangen. Er habe sein Spesenkonto noch nicht ausgeschöpft und werde das voraussichtlich bis zum nächsten Termin auch nicht mehr schaffen. Er bestellte sich eine Kalbshaxe und gleich zwei Alt für den ersten Durst. Auch Anna und Sven folgten den für sie jeweils gültigen Menu-Klischees und orderten Salat mit Hähnchenstreifen und ein Schnitzel mit Bratkartoffeln.

   »Was meinst du damit, du wirst es nicht schaffen, deine Spesen aufzufuttern?«, fragte Anna interessiert.

   »Neuer Ärger«, antwortete Horst Wildermann dumpf und wischte sich den Altbier-Schaum vom Mund. »Letztes Jahr war es der Verlag, der mich fertigmachen wollte. Jetzt ist es mein Arzt, dieser Schwachkopf.«

   Anna rutschte das Herz eine Etage tiefer. »Oje. Was ist los?«

   Sven hielt den Mund. Der Ärger mit seinen Eltern reichte ihm gerade. Er hatte keine Lust, sich jetzt auch noch mit seinem Chef anzulegen. Und Horst Wildermann sah so aus, als ob er jedes Wort, das man momentan zu ihm sagte, in den falschen Hals bekommen könnte.

   Horst griff nach weiteren vier Bier auf dem Tablett des Köbes, der gerade am Tisch vorbeikam. »Alles auf diesen Deckel«, sagte er und schob Sven und Anna je ein weiteres Glas zu. Sven trank tapfer, aber Anna überforderte das Tempo. Sie hatte ein noch ungefähr zu zwei Dritteln volles Glas vor sich auf dem Tisch stehen. »Ich kann nicht so schnell«, sagte sie. Horst nahm verständnisvoll ihr volles Glas zu sich und trank es in einem Zug aus.

   »Wenn du so weitermachst, wirst du die Haxe nicht mehr erleben«, meinte Anna.

   »Tu dich mit meinem Arzt zusammen. Genau das sagt er nämlich auch.«

   Anna sah ihren Chef an. Sie schätzte, dass gut 130 Kilo, verteilt auf knapp 180 Zentimeter vor ihr saßen. Horst war Mitte 50, hatte ein rotes Gesicht, das auf Bluthochdruck hindeutete, keuchte, wenn er auch nur ein paar Treppenstufen hochklettern musste und bewältigte einen ausgesprochen stressigen Job. Kurz und gut: Er war der ideale Kandidat für einen Herzinfarkt.

   Das Essen wurde serviert. Anna saß vor einem bunten Salat mit knusprigen Geflügelstreifen. Horsts Haxe dampfte. Er aß mit gutem Appetit und spülte die Haxenschwarte mit reichlich Alt hinunter. Sven verzehrte weiter schweigend sein Schnitzel.

   Am Ende tupfte sich Horst mit der Serviette das Fett vom Kinn und rülpste dezent. Anna sah ihn besorgt an.

   »Ich weiß genau, was du sagen willst. Und du gehörst auch zu den wenigen, die mir das sagen dürfen. Ich bin zu dick. Ich trinke zu viel. Ich arbeite zu hart und ich mache zu wenig Sport.«

   »Sie machen Sport?«, fragte Sven interessiert. Horst sah ihn vernichtend an.

   »Was schlägt der Arzt denn vor?«, fragte Anna mitfühlend.

   »So eine blöde Gruppe.«

   »Weight Watchers«, meinte Sven, am letzten Schnitzelstück  kauend. »Hat meine Mutter auch mal gemacht. Hat funktioniert.«

   Horst Wildermann schüttelte den Kopf. »Nein, nein. Meine Gruppe wird viel härter. Man bekommt ein Vierteljahr nur Tütensuppen und wird von Sportlern und Psychologen und was weiß ich noch betreut. Es wird einfach furchtbar werden. Und so dick bin ich doch gar nicht. Ich habe neulich im Fernsehen einen Mann in den USA gesehen, der mit einem Kran aus dem Fenster gehievt werden musste. Für solche Leute ist das vielleicht in Ordnung, aber doch nicht für mich. Ich habe nur so zugenommen, weil ich mit dem Rauchen aufgehört habe. Da tut man mal was für die Gesundheit und dann wird das zum Bumerang.« Er trank sein Glas aus.

   »Ich finde es sehr tapfer, dass du solch ein Programm in Angriff nehmen willst«, sagte Anna und fragte sich gerade, in welches Ressort sie sich am besten für das nächste Vierteljahr versetzen lassen könnte. »Wann soll es denn losgehen?«

   »Nächsten Mittwoch«, sagte Wildermann in einem Ton, als ob ihn der elektrische Stuhl erwarte.

   »Super«, sagte Sven. »Dann haben Sie es auch schneller hinter sich.« Wildermann starrte ihn an, als ob er ein besonders ekliges Insekt wäre. Dann wandte er sich Anna zu.

   »Du bist doch ein diplomatischer Mensch, Anna«, sagte er.

   ›Was kommt jetzt?‹, fragte sie sich.

   »Guck nicht so ängstlich«, grinste Horst Wildermann. »Ich wollte dich nur bitten, in der nächsten Zeit in der Redaktion ein bisschen die Wogen zu glätten. Du kennst mich. Vielleicht schaffe ich es nicht in jedem Fall, in den nächsten drei Monaten immer die gute Laune zu bewahren.«

   Sven Ücker verschluckte sich an seinem Bier.

   »Ich tue mein Bestes, Horst. Ich an deiner Stelle würde den anderen aber einfach sagen, was los ist. Wir wollen doch alle, dass du noch lange gesund bleibst. Und da nehmen wir dann gerne deine vielleicht etwas schlechtere Laune in Kauf.«

   »Ich werde keine schlechte Laune haben. Vielleicht bin ich mal ein bisschen kurz angebunden, aber das ist dann auch alles.«

   Sven Ücker übte sich in Selbstbeherrschung. Wenn er gewollt hätte, hätte er so einiges zum Thema ›Wildermann und seine schlechte Laune‹ zum Besten geben können. Sein Chef hatte sich im vergangenen Jahr mit Zähnen und Klauen dagegen gewehrt, dass dem damaligen Volontär eine frei werdende Redakteursposition angeboten wurde. Wildermanns Job war zum damaligen Zeitpunkt selbst in akuter Gefahr und entsprechend düster war das Gemüt des Lokalchefs gewesen. Und jetzt die Diät-Gruppe. Hörte das denn nie auf mit den schwierigen Rahmenbedingungen?

   In diesem Zusammenhang dachte er an seine Eltern. Er hätte gern mit Anna über sein Problem gesprochen, aber ganz sicher nicht im Beisein seines Chefs.

 

Montag, 19.9.

 

Volker packte den üblichen Trolley voll mit der sauberen Wäsche, die ihm Sonja herausgelegt hatte. In eine Seitentasche steckte er die beiden Umschläge, den von Tante Finchen mit dem 100-€-Scheck und den anderen mit dem Rätsel des Unbekannten.

   Er küsste seine Frau und Louis. Die Zwillinge waren schon in der Schule. Er stieg in seinen Wagen, ließ die Seitenscheibe heruntersurren und sagte: »Bis Freitagabend. Danke für den schönen Geburtstag. Ich rufe nachher mal an.«

   Er winkte und Sonja grüßte zurück. Dann schob sie den Rollstuhl ins Haus und setzte Louis vor den Fernseher. Sie musste zuerst die Reste der Party und des Familienfestes beseitigen. Anschließend würde sie Louis ins Auto packen und mit ihm einkaufen. Dann kochen und die Mädchen erwarten, Mittagessen, Hausaufgaben und Louis’ Krankengymnastik. Am Spätnachmittag hatte sie sich auch noch bei ihrer Großtante angekündigt. Einmal im Monat war Finchen-Tag. Und dann wären es immer noch vier Tage bis zur Rückkehr ihres Mannes nach Niederkrüchten. Die Trennung fiel ihr von Mal zu Mal schwerer, aber Volker lehnte die tägliche Fahrerei ab.

   Er war selbstständig und leitete in Düsseldorf ein Tonstudio. Es war offenbar ausgeschlossen, diese Arbeit von Niederkrüchten aus zu erledigen. Angeblich würde kein Musiker sich auf den beschwerlichen Weg Richtung holländische Grenze machen. Sie konnte sich das nicht ganz vorstellen, sah sich aber auch nicht in der Lage, diese Argumentation zu widerlegen.

   Sie war diejenige gewesen, die unbedingt das Haus auf dem Land mit dem großen Garten hatte haben wollen. Auch für Louis war es hier bestimmt viel besser als in der Großstadt.

   Also hatte sich Volker in Düsseldorf ein Appartement gemietet, in dem er von Montag bis Freitag lebte. Es lag in der Nähe des Tonstudios in Flingern. Seine Wochenenden gehörten Sonja und den Kindern. Seine Abende in der Woche verbrachte er jedoch schon seit längerer Zeit mit der Fotografin Greta. 

   Volker war überzeugt davon, dass das anonyme Rätsel nur von seiner Freundin stammen konnte. Wer sonst hätte ihm ein fotografisches Rätsel gestellt? Er freute sich darauf, es zu lösen, aber er würde auch ein ernstes Wort mit Greta reden. Was zum Teufel hatte sie sich dabei gedacht, die Karte nach Niederkrüchten zu schicken? Auch wenn sie sie nicht unterschrieben hatte, war das viel zu gefährlich. Auf gar keinen Fall sollte Sonja von Greta erfahren.

   Seine Ehe war Volker beinahe heilig.

   Die Fahrzeit auf der A52 variierte stark je nach Verkehrsaufkommen. An diesem Montagmorgen hatte Volker Glück. Ungefähr nach einer Dreiviertelstunde hatte er sein Appartement erreicht. Er packte kurz aus, machte sich einen Kaffee und las die Post, die am Samstag gekommen war. Es handelte sich um ein paar Glückwünsche, eine Rechnung und die Aufforderung seiner Werkstatt, das Auto vorbeizubringen, weil die TÜV-Untersuchung fällig war. Er ließ die Post auf dem Tisch liegen und machte sich auf zur nächsten Tagesetappe, zu seinem Tonstudio.

   Dort gratulierte ihm sein einziger Mitarbeiter Severin, ein Student, der diesen Teilzeitjob für einen Lottogewinn hielt. Erstens wurde er einigermaßen gut bezahlt, zweitens lernte man im Studio teilweise total coole Typen kennen und drittens interessierte er sich mittlerweile erheblich mehr für die Möglichkeiten, die ein Mischpult bot, als für die der deutschen Grammatik. Irgendwie hatte er sich sein Germanistikstudium  anders vorgestellt.

   »Was liegt heute an?«, fragte Volker.

   »In einer Stunde kommen die Leute von Misching&Meyer wegen der Radiowerbung für diese ekelhaften Haferflocken. Und heute Nachmittag spielen die Hancocks ihr neues Album ein. Zumindest versuchen sie es.«

   Volker nickte. Misching&Meyer war eine aufstrebende Düsseldorfer Werbeagentur. Die Zusammenarbeit war wichtig für ihn. Die Hancocks dagegen waren eine nicht mal allzu gute Band. Die Musiker hatten bislang noch keine Plattenfirma für sich interessieren können und versuchten nun auf eigene Kosten ihr Glück mit einer Demo-CD. Das würde voraussichtlich viel Arbeit für wenig Geld werden. Aber Volker konnte sich das nicht aussuchen. Sein Job war hart, die Konkurrenz groß und die wirklich guten Bands und Musiker hatten ihre eigenen Tonstudios oder arbeiteten mit bekannteren Kollegen zusammen.

   Volker ging in sein Büro, sichtete die Post und rief dabei Greta an.

   »Na endlich. Ich habe schon auf dich gewartet. Alles Liebe, Gute und Schöne auch von mir. Dein Geschenk erwartet dich heute Abend. Ich hoffe, du bist schon sehr neugierig darauf.«

   »Und wie. Ich lade dich zum Essen ein. Wohin möchtest du?«

   Greta entschied sich für ›El Ömmes‹, ein Tapas-Restaurant in Pempelfort, in dem sie sich schon häufiger mit Volker getroffen hatte. Die Altstadt war für die beiden tabu. Volker hatte verständlicherweise kein Interesse an einer Begegnung mit seiner dort lebenden Schwiegermutter, während Greta an seinem Arm hing. Weder seine Eltern noch Agnes hatten irgendetwas für die spanische Küche übrig und so war das ›El Ömmes‹ unvermintes Terrain.

   »Ich fand deine Karte übrigens ganz und gar nicht in Ordnung. Damit hast du klar gegen die Spielregeln verstoßen, auch wenn du keinen Absender hinterlassen hast. Ich freue mich zwar auf das Rätsel, aber warum hast du das nicht an meine Düsseldorfer Adresse geschickt? Sonja ist schon ganz misstrauisch.«

   »Wovon redest du?«

   »Na, von deinem Bilderrätsel mit dem hohlen Tier. Bitte mach so etwas nicht noch mal.«

   »Bring das heute Abend mal mit. Ich habe keine Ahnung, um was es geht. Aber es klingt ganz amüsant.«

   Volker war alles andere als überzeugt. Er würde Gretas Spiel zwar jetzt mitspielen, aber er würde ihr noch einmal eindringlich ins Gewissen reden. Er hatte ihr von Anfang an reinen Wein eingeschenkt. Greta wusste von Sonja, von den Zwillingen und seinem behinderten Sohn Louis. Er hatte nie einen Zweifel daran gelassen, dass er seine Familie um keinen Preis der Welt verlassen würde. Er würde Sonja nicht mit drei Kindern im Stich lassen, besonders nicht mit Louis.

   Greta hatte nur gelacht und gesagt, die Situation sei einfach perfekt. Sie wolle einen tollen Mann, aber keine Familie, sie wolle Spaß, aber keine Verantwortung. Und am Wochenende Zeit für sich und ein paar Mädels zu haben, mit denen man auch mal allein um die Häuser ziehen könnte, sei schlicht optimal. Außerdem müsse sie so kein schlechtes Gewissen haben. Volkers Familie hatte schließlich keine Ahnung von ihrer Existenz und genauso sollte es bleiben.

   Diese Einstellung fand Volkers uneingeschränkte Zustimmung. Lediglich in einem Punkt fühlte er anders als Greta: Er hatte er latent schlechtes Gewissen, das in den letzten Wochen immer schwerer wog.

   Sonja rackerte sich mit dem Haus und den Kindern ab und er amüsierte sich mit Greta und ein paar coolen Jungs aus der Musikszene. Wenn er ganz ehrlich mit sich selbst gewesen wäre – was er aber nicht war – hätte er das Problem noch etwas genauer eingrenzen können. Letztlich ging es um Louis, ausschließlich um ihn, und das seit seiner Geburt.

   Er würde diesen verfluchten Tag nie vergessen, diesen Tag, an dem alles schiefgelaufen war. Sonja war zwar hochschwanger gewesen, aber sie hatte eigentlich noch ein paar Wochen Zeit bis zur Geburt. Deshalb war er nicht erreichbar gewesen, als sie plötzlich mutterseelenallein zusammengeklappt war und die Wehen einsetzten. Bis sie endlich im Krankenhaus war und sich Ärzte um sie und das Kind kümmern konnten, war es für Louis zu spät gewesen. Er hatte bleibende Schäden erlitten.

   Sonja war überzeugt davon, alles sei ihre Schuld, weil sie die ersten Anzeichen für die sich anbahnende Katastrophe nicht ernst genommen hatte. Ihr Fazit war, ab sofort alles und jeden hinten anzustellen, und sich mit aller Kraft der Entwicklung ihres Sohnes zu widmen. Von nun an bestimmten Ärzte, Krankengymnastik, Pflege und Fachliteratur über zerebrale Störungen den Alltag der Kleists.

   Für die Zwillinge war das ziemlich schlimm. Sie waren bei Louis Geburt gerade mal vier Jahre alt. Ernie und Bert hatten alles gegeben, um sie in der ersten Zeit aufzufangen. Außerdem hatten sie sich glücklicherweise gegenseitig. Mittlerweile waren sie neun, hatten sich prächtig entwickelt und liebten ihre Eltern und ihren Bruder.

    Louis selbst war ein fröhliches Kind, aber er würde vermutlich weder Laufen lernen noch ein auch nur annähernd selbstbestimmtes Leben führen können. Sonja hatte sich im Prinzip damit abgefunden, feierte aber jeden, wenn auch noch so kleinen Fortschritt in seiner Entwicklung. Dabei übersah sie leider gelegentlich die großen Fortschritte,  Wünsche und Probleme ihrer restlichen Familie.

   Und so war es zu dieser Dreiecksbeziehung gekommen, die Greta vollständig erfüllte, von der Sonja keine Ahnung hatte, und die Volker für sich selbst immer schwieriger fand. An immer mehr Wochenenden schwor er sich, die Beziehung zu Greta zu beenden. Er fand sich selbst unfair und haderte mit sich. Kaum war er wieder in Düsseldorf, erwiesen sich die Abende mit Greta aber als so erfüllend, dass es ihm unmöglich schien, darauf zu verzichten.

   Der einzige Mensch, der Kontakt zu beiden Frauen hatte, war sein Freund Steffen Jasper, der keine Gelegenheit ausließ ihm mitzuteilen, im Übrigen sei er der Meinung, Volker müsse sich von Greta trennen, so nett sie auch sei. In solchen Momenten bezeichnete Volker seinen Freund gern als Cato.

   Der grinste dann und meinte, der Ältere sei er immerhin, aber es sei schließlich ein Unterschied, ob man eine ganze Stadt zerstören wolle oder eine Ehe retten. Volker gab ihm stets recht und traf sich weiter mit Greta, mit mal mehr und mal weniger schlechtem Gewissen. Heute freute er sich auf den Abend. Das sagte er ihr auch und beendete dann das Telefongespräch.

   Es klingelte an der Tür. Das waren wahrscheinlich die wichtigen Werbeleute. Volker straffte sich. Er brauchte dringend neue Kunden. Das sagte ihm nicht nur ein Blick auf seinen Kontostand.

 

*

 

Jule kam aus der Schule nach Hause und beschloss nachzuschauen, ob ihre Schwester zufällig da war. Sie hatte keine Lust auf eine Scheibe Brot allein in der Küche. Ihre Mutter war in der Redaktion, aber vielleicht war Marie gerade nicht in der Uni und konnte zu einem Döner überredet werden. Marie verbrachte einen Großteil der Semesterferien in der Uni-Bibliothek und lernte auf Klausuren, die zu Beginn des neuen Semesters stattfinden sollten. Aber einen Versuch war es wert.

   Sie klingelte an der Tür der WG-Wohnung in der dritten Etage. Maries Mitbewohnerin Funda öffnete. »Hallo Jule. Suchst du deine Schwester?«

   Jule nickte. Funda trat zur Seite. »Komm rein.«

   »Alles gut bei dir?«, fragte Jule. Sie mochte Funda. Funda nickte. »Ich habe seit knapp drei Wochen einen Ferienjob in einem Altenheim. Da kann ich ein bisschen praktische Pflege-Erfahrung sammeln und verdiene auch noch einigermaßen. Das nächste Semester läuft dann finanziell deutlich entspannter. Allerdings habe ich Schichtdienst. Das ist ganz schön anstrengend.«

   Funda studierte Medizin, hatte das Physikum gerade hinter sich und jetzt offenbar etwas Zeit, bevor es weiterging.

   Jule und Funda lächelten sich verabschiedend zu. Jule klopfte an Maries Zimmertür. Sie wollte auf gar keinen Fall in ein trautes Beisammensein ihrer Schwester mit deren Freund Benedikt platzen. Aber Marie war allein und sofort bereit, ihre Tätigkeit zu unterbrechen, um mit ihrer Schwester zum Türken um die Ecke zu gehen.

   »Was machst du da?«, fragte Jule interessiert und starrte auf einen Haufen Papier auf Maries Schreibtisch.

   »Den Führerschein«, antwortete Marie. Jule nahm einen Bogen auf und betrachtete Verkehrszeichen, die sie bei weitem nicht alle kannte, sowie Bilder von Kreuzungen, auf denen alle möglichen Verkehrsteilnehmer um die Vorfahrt kämpften. »Worauf müssen Sie achten, wenn vor Ihnen ein Lastzug in eine enge Straße nach rechts abbiegen will?«, las sie mit gerunzelter Stirn. »Hattest du schon Fahrstunden?« Marie schüttelte den Kopf. »Nächste Woche geht’s los. Und spar dir jetzt bloß alle gängigen Witze. Davon hatte ich schon genug. Komm, ich bin so weit. Wir können los.«

   Die Schwestern gingen zum Worringer Platz, wo an Dönerläden wirklich kein Mangel herrschte. Sie setzten sich an einen Tisch in einem einschlägigen Lokal und kauten erst einmal eine Weile an ihren mit Fleisch und Salat prall gefüllten Fladenbroten.

   »Hast du dich jetzt eigentlich endgültig wegen Boston entschieden?«, fragte Marie.

   »Ja klar. Schon längst. Und sag nicht, ich hätte es dir nicht gesagt. Der Flug ist gebucht und ich freue mich«, antwortete sie trotzig.

   Marie schüttelte den Kopf. »Wenn du tatsächlich unseren Vater triffst, dann überleg dir wenigstens wohin. Ich verstehe einfach nicht, wie du dich so einwickeln lassen kannst. Der Idiot hat uns gezeugt, dann wurden wir ihm schnell lästig und er hat uns und Mama im Stich gelassen. Nach 15 Jahren taucht er wieder auf, macht auf netten Papa und du fährst da voll drauf ab. Du bist doch sonst nicht so blöd.«

   Jule seufzte. »Du musst immer alles so schwarz-weiß malen. Wir sind die Guten und er ist der Böse und das jetzt und für immer. Man kann doch auch mal einen Fehler machen. Und dann ändert man seine Meinung und ist froh, wenn die anderen die Entschuldigung annehmen. Mama redet doch auch wieder mit ihm.«

   Er, das war Stanley Winter, ihr lange verschollener Vater, der vor einem Dreivierteljahr plötzlich aus der amerikanischen Versenkung aufgetaucht war und seine mittlerweile erwachsenen Töchter kennenlernen wollte. Anfangs war er vor eine Mauer der Ablehnung gelaufen, hatte dann aber seine blutige Nase abgeputzt, sich eine gerade frei gewordene Wohnung im Haus seiner Familie gemietet und mit freundlicher Beharrlichkeit eine Bresche in die Abwehr von Anna und Jule geschlagen. Marie blieb unversöhnlich und hatte bis zu seiner Abreise nach 90 Tagen, als sein Touristenvisum ablief, nicht mit ihm gesprochen, wenn sie es hatte verhindern können.

   Seit Monaten stand eine Einladung nach Boston an alle drei im Raum. Jule hatte sie nun angenommen und zu Beginn der Herbstferien einen Flug gebucht. Eine Woche lang wollte sie ihrem Vater die Chance geben, ihr sein Leben näherzubringen. Marie verstand das einfach nicht.

   »Ich wette mit dir, er hat von unserer Erbschaft gehört und er will seine wohlhabenden Töchter abzocken. Sonst hätte er sich doch auch früher melden können. Du wirst schon sehen, er wohnt in irgendeinem Slum und pumpt dich als erstes an.«

   Anna und ihre Töchter hatten von einer Freundin und Nachbarin vor gut zwei Jahren ein kleines Vermögen geerbt, was alle drei finanziell unabhängig gemacht hatte. Insofern war Maries Befürchtung nicht völlig abwegig.

   »Glaub mir, ich lasse mich nicht abzocken. Die Idee ist mir natürlich auch schon gekommen. Lass mich ihm wenigstens eine Chance geben. Immerhin wissen wir nach der Woche mehr über ihn. Außerdem würde ich sehr gern meine Oma mal kennenlernen. Die kann ja nun wirklich nichts für die ganze Situation.«

   Marie hob ihre Hände. »Ich verstehe einfach eure Inkonsequenz nicht. 15 Jahre lang haben wir auf ihn geschimpft, wenn wir uns überhaupt an ihn erinnert haben. Er hätte ja nun wenigstens Unterhalt für uns zahlen können. Aber nicht mal das hat er. Er hat Mama mittellos mit zwei kleinen Kindern alleingelassen. Und jetzt rennst du mit fliegenden Fahnen zu ihm über und Mama redet auch wieder ganz normal mit ihm. Ich muss andere Gene erwischt haben als ihr, wenn ich auch nicht weiß, wie das möglich sein soll.«

   »Ganz klar. Ich habe Mamas Gene und du seine. Ihr seid konsequent in euren Handlungen und Mama und ich sind die Weicheier.«

   »Ich. Soll. Seine. Gene. Haben?«

   Jule nickte grinsend. Es gelang ihr leider viel zu selten, ihre ältere Schwester derart gekonnt auszumanövrieren.

 

*

 

Sonja drückte erschöpft gegen die gläserne Eingangstür der ›Residenz am Rosengarten‹, die sich daraufhin lautlos öffnete. Es war 17 Uhr und sie hätte nach ihrem anstrengenden Tagesprogramm jetzt gern auf der Couch gelegen, um sich anzusehen, wie andere Menschen auf Shoppingtour gingen, für Mitmenschen kochten oder auswanderten. Ganz egal, Hauptsache, sie selbst hätte dabei nur zuschauen müssen.

   Aber heute war Finchen-Tag und das bedeutete, nach getaner Arbeit auf die Babysitterin zu warten, ihr Louis zu übergeben, mit dem kleinen Zweitwagen über die A52, glücklicherweise gegen den Strom, nach Düsseldorf zu fahren, dort zwei Stunden bei ihrer Lieblingstante zu verbringen und mit traurigem Herzen ihren immer rapideren körperlichen Verfall wahrzunehmen.

   Sie marschierte an der Rezeption vorbei zum Fahrstuhl. Die Frau hinter der Empfangstheke nickte ihr zu. Sie kam schon seit Jahren zu Josefine Plettner. Man kannte sich. In der zweiten Etage durchquerte sie den Aufenthaltsraum, in dem gerade ein junger Mann mit Pferdeschwanz mit alten Damen das deutsche Liedgut pflegte.

   Sonja hielt sich nicht auf. Sie ging einen Flur entlang bis zu Tante Finchens Zimmertür. Sie klopfte und trat ein. Fine Plettner strahlte sie an. Sonja beugte sich über die alte Frau im Rollstuhl und schloss den immer dünner werdenden Oberkörper in die Arme. »Hallo Finchen«, grüßte sie. »Hallo mein Schatz«, sagte Tante Fine. »Du bist wie ein Uhrwerk. Immer pünktlich und immer zuverlässig. Ich freue mich schon den ganzen Tag, wenn ich weiß, dass du kommst.«

   »Ich sollte viel häufiger hier sein, Finchen, aber du weißt ja, dass ich das immer organisieren muss. Und das ist wegen Louis nicht so einfach.«

   Fine nickte verständnisvoll. »Mach dir bloß keine Sorgen um mich. Mir geht es hier gut. Die scharwenzeln dauernd um einen herum. Man kommt kaum zur Ruhe. Ständig soll man bei ihrem Animationsprogramm mitmachen. Eben wollten sie mich zum Singen holen. Ich war froh, dass ich durch deinen Besuch eine Ausrede hatte. Ich singe nicht gern. Demnächst wählen sie hier noch die Voice of Rosenresidenz.«

   Fine grinste. Und Sonja musste auch lachen. Wenn sie Fine mit ihrem hinfälligen Körper und ihrer wachen Intelligenz und ihrem sarkastischen Witz so betrachtete, fragte sie sich, was sie sich für sich selbst wünschen würde. Wäre es umgekehrt vielleicht besser, wenn man im Alter geistig wegdriften würde und die körperlichen Unzulänglichkeiten nicht mehr mitbekäme? Sie war froh, solch eine Entscheidung niemals treffen zu müssen.

   »Und selbst wenn die mal kein Seniorenturnen oder Bridge anbieten, kann ich mich wirklich nicht über mangelnden Besuch beklagen. Letzte Woche war Heinrich hier und hat mir meinen Kuchen weggefuttert und heute Morgen war Agnes eine Stunde da. Ich freue mich wirklich, wenn sie kommt, sie stinkt nur immer so nach Zigaretten. Ich muss die Schwester hinterher immer bitten zu lüften. Dabei raucht sie hier gar nicht. Der Qualm hängt irgendwie an ihr dran.« Sonja lachte bestätigend. Der Zigarettenkonsum ihrer Mutter war wirklich beachtlich. Der Geruch umwehte sie immer, er hing in ihren Haaren und in ihren Kleidern.

   »Ich bin wirklich ein glücklicher Mensch«, sagte Tante Finchen dankbar. »Ich habe nicht mal eigene Kinder. Und trotzdem bekomme ich mehr Besuch als die meisten anderen Nachbarn hier.«

   »Du bekommst so viel Besuch, weil du nicht nur ein glücklicher, sondern ein netter Mensch bist, Tante Fine. Ich freue mich immer auf dich. Ich mache hier keine Pflichtbesuche.«

   Das war zum Teil die Wahrheit und zum Teil auch wieder nicht. Sonja liebte ihre Großtante von Herzen, aber der Aufwand für die Besuche überforderte sie manchmal, so wie heute. Fine war jedoch ein Teil ihres Lebens und hatte viel für sie getan. Da gab es kein Schwächeln.

   Josefine Plettner war 1926 auf die Welt gekommen. Ihre Jugend und der Krieg fielen zusammen. Als beides vorbei war, stellte Fine fest, dass Hitler ihr nicht nur ihre beste Zeit verdorben hatte, sondern dass es leider auch viel zu wenige Männer in ihrem Alter gab, die das Desaster überlebt hatten. Fine, die eher robust als schön war, ging diesbezüglich leer aus, eröffnete mangels vernünftiger Ausbildung erst ein Café und danach eine Kneipe und ging in diesem Leben völlig auf. Aus der Gaststätte ›Zum Trommler‹ machte sie eine Goldgrube und hatte trotzdem immer noch Zeit für eine größere Schar von Freunden, deren Kindern, ihrer Nichte und deren Nachkommen.

   Sonja hatte während ihres Erwachsenwerdens heftige Kämpfe mit ihrer Mutter Agnes ausgefochten. Fine war immer ein Rückzugsort für sie gewesen, wenn es zu Hause mal wieder nicht auszuhalten war. Und Agnes hatte beruhigt durchgeschnauft, wenn sie einen Anruf ihrer Tante bekam, Sonja sei mal wieder bei ihr gestrandet.

   Fine war der Clown auf Kindergeburtstagen gewesen, der Fels in der Brandung für Erwachsene, wenn es um kurzfristige Kredite, um Liebeskummer oder Catering für große Feste ging.

   »Möchtest du in den Garten?«, fragte Sonja.

   »Gerne. Mein Zimmer kenne ich langsam auswendig.«

   Sonja schob den trotz der leichten Fine schweren Rollstuhl zum Lift und transportierte so die Großtante in den namensgebenden Rosengarten. Sie wusste, dass Finchen Eis liebte und besorgte schnell am Büdchen zwei Nogger. Dann ließ sie sich neben ihr auf eine Parkbank nieder und erzählte von Volkers Geburtstagsfeier.

   »Du hast einen wirklich netten Mann. Pass auf ihn auf«, stellte Fine fest.

   »Wie meinst du das?«, fragte Sonja irritiert.

   »Nur ganz allgemein«, sagte Fine vage. »Es ist schön, mal was Positives zu hören. Draußen lebt ihr und hier drinnen sterben wir.«

   »Tante Fine!«, fragte Sonja erschrocken. »Was ist denn mit dir los?«

   »Sie sterben hier gerade wie die Fliegen.«

   »Nun ja, das ist hier ein Altenheim. Da ist die Todesrate nun mal überdurchschnittlich, fürchte ich.«

   »Das ist mir auch klar. Aber drei Menschen in zwei Wochen finde ich ein bisschen viel. Und alle drei waren eigentlich noch total fit, wenn man das hier so sagen kann. Ich meine, wenn die alte Frau Schiffer im Zimmer neben mir die Augen zumachen würde, würde sich niemand was dabei denken. Sie stirbt sozusagen schon seit einem halben Jahr. Aber Benno Obermann war der Star beim Tanztee und die Frau Stern war noch nicht mal 80. Das ist doch kein Alter. Die dritte war meine Rommé-Partnerin Cordula Jöres. Die war immer noch deutlich besser dran als ich zum Beispiel. Da stimmt doch was nicht. Oder was meinst du?«

   Sonja hatte ehrlich gesagt keine Meinung. Sie kannte weder den Herrn Obermann noch die Frau Stern. Von Frau Jöres hatte sie eine vage Vorstellung. Aber sie waren halt alle drei alt gewesen.

   »Es muss doch einen Arzt gegeben haben, der die Totenscheine ausgestellt hat«, sagte sie vorsichtig.«

   Tante Fine winkte ab. »Ach bleib mir weg mit dem Dr. Linnemann. Der ist selbst kurz vor der Pensionierung und total vertrottelt. Wenn ich den nicht an meine Medikamente erinnere, denkt keiner dran.«

   »Was ist denn mit der Heimleitung?«

   »Ja, die Frau Vessenberg kümmert sich schon. Das kann man nicht anders sagen. Aber was soll die schon groß machen, wenn der Arzt behauptet, alles hätte seine Richtigkeit.«

   »Tante Fine, du machst mich ganz kribbelig. Nicht, dass ihr hier einen Pfleger habt, der sich für einen Todesengel hält.«

   »Oder die Erben wollen früher an das Vermögen. Das könnte doch auch sein.«

   »Aber doch nicht drei verschiedene Erben. Das kann ich mir nicht vorstellen.«

   Eine Pflegerin, deren sonniger Gesichtsausdruck sich mit einem Todesengel beim besten Willen nicht in Verbindung bringen ließ, scheuchte die Gartenbesucher freundlich auf, und bat sie mit einem netten Lächeln, doch bald hereinzukommen, da das gemeinsame Abendessen in wenigen Minuten serviert würde.« Man merkte deutlich, dass es sich bei der Residenz nicht um ein Heim für gesetzlich Versicherte, sondern um eine Art Siechen-Hilton handelte. Vom Pflegenotstand gab es hier keine Spur.

   Sonja schob ihre Großtante erst zurück in ihr Zimmer, wo sie ihr beim Händewaschen half. Danach brachte sie sie in das Speisezimmer, gab ihr einen Kuss und verabschiedete sich.

   Auf dem Rückweg zur Haustür kam sie am Büro der Heimleiterin vorbei. Sie hatte es schon passiert, als sie sich einen Ruck gab, die paar Schritte zurückging und klopfte. Frau Vessenberg rief »Herein«.

   »Es tut mir leid, wenn ich Sie störe...«, begann Sonja.

   »Sie stören überhaupt nicht, Frau Kleist. Ich hoffe, es gibt keine Probleme mit Ihrer Tante.«

   »Nein, nein. Das heißt, sie macht sich Sorgen. Drei ihrer Mitbewohner sind in den letzten Tagen verstorben und sie wundert sich, weil sie alle drei noch für recht gesund gehalten hat. Vielleicht könnten Sie mal mit ihr reden und sie ein bisschen beruhigen.«

   Frau Vessenberg nickte. »Ich verspreche Ihnen, ich gehe morgen mal zu ihr.«

   »Also gibt es keinerlei Bedenken wegen der Todesfälle?«

   »Aber natürlich nicht.«

   Sonja verabschiedete sich erleichtert. Frau Vessenberg wartete einen Moment, bis sie sicher war, dass Sonja außer Hörweite war. Dann atmete sie tief durch, fasste einen Entschluss und griff nach ihrem Telefon. Sie bat ihre Sekretärin: »Verbinden Sie mich bitte mit der Polizei.«

 

*

 

Greta saß schon am Tisch des Tapas-Restaurants, als Volker hereinkam. Sie winkte ihm fröhlich zu. Volker schaute sich wie immer, wenn er Greta in der Öffentlichkeit traf, unauffällig um. Nein, keine Freunde oder Bekannte in Sicht. Einmal mehr wurde ihm in dieser Sekunde bewusst, dass dieses Versteckspiel auf Dauer nichts für seine Nerven war. Er riskierte einfach zu viel. Und eigentlich wollte er das nicht. Greta strahlte ihn an. Oder wollte er es doch?

   Sie fiel ihm um den Hals und flüsterte ihm Glückwünsche ins Ohr. Greta fühlte sich gut an. Die Umarmung verhieß so einiges für das weitere Abendprogramm. Volker seufzte und verdrängte die Gedanken an Sonja. Greta gab ihm das Gefühl, dass nur er in diesem Moment wichtig für sie war. Bei Sonja war Louis allgegenwärtig.

   Sie aßen sich durch die komplette Tapas-Karte und tranken spanischen Rotwein dazu. Als sie satt und ein bisschen angetrunken waren, zog Greta ein Päckchen aus ihrer Handtasche und überreichte es Volker. »Mein Geschenk für dich.«

   »Noch eins?«, fragte Volker.

   Greta runzelte die Stirn. Volker zog den Umschlag aus einer Tasche, der das Rätsel enthielt. »Das meine ich«, sagte er.

   Greta öffnete den Umschlag, las den kurzen Text der Karte und betrachtete Bild und Limerick. »Nicht von mir«, stellte sie bedauernd fest.

   »Ach komm«, sagte Volker. »Von wem könnte das denn sonst sein?«

   Greta lächelte ihr Garbo-Lächeln. »Hast du schon die Lösung gefunden?«

   Volker schüttelte den Kopf. »Ich hatte einfach noch keine Zeit, mich damit zu beschäftigen. Im Studio war heute der Teufel los. Am Vormittag hatte ich harte Verhandlungen mit einer Werbeagentur. Sie bekommen ihre Spots jetzt fast geschenkt, aber wenn das klappt, haben sie mir eine langfristige Zusammenarbeit avisiert. So einen Auftrag brauche ich momentan dringend. Nachmittags hat dann eine Chaotentruppe versucht, ein paar Demolieder einzuspielen. Es war die Hölle, und zwar sowohl die Musik als auch deren Unprofessionalität. Sie nannten das zwar eine spontane Session, aber zu so etwas gehören wirkliche Musiker.«

   »Wollen wir mal zusammen versuchen, dein Rätsel zu lösen?«, fragte Greta.

   »Wenn es dir Spaß macht.« Volker war immer noch davon überzeugt, mit dessen Urheberin gerade an einem Tisch zu sitzen.

   »Ja, das wird bestimmt spannend. Aber vorher machst du mein Päckchen auf.«

   Volker nestelte gefühlvoll am Geschenkband. Dann riss er mit Gewalt daran und schließlich säbelte er mit seinem stumpfen Messer solange an der überaus stabilen Schnur, bis sie endlich den Kampf aufgab. Er faltete das Papier auseinander und sah sich einer Schachtel gegenüber. Er seufzte. Aber die Schachtel leistete keinen Widerstand mehr. In ihr fand er einen massiven und entsprechend schweren Metall-Rheinturm, ungefähr zehn Zentimeter hoch.

   »Schön«, sagte er zweifelnd.

   »Das ist ein Briefbeschwerer«, erläuterte Greta. »Du kannst ihn auf deinen Schreibtisch stellen. Ich habe neulich festgestellt, dass du noch keinen hast.«

   Volker dachte an Louis roten Klumpen aus Salzteig, widersprach jedoch seiner Freundin nicht. Jetzt hatte er zwei Briefbeschwerer und wenn er es sich richtig überlegte, waren das genau zwei zu viel. Er bedankte sich trotzdem bei Greta.

   Die lächelte ihn an. »Eigentlich ist das nur ein Symbol für das eigentliche Geschenk. Ich lade dich beim nächsten Japan-Feuerwerk in den Rheinturm ein zu einem Dinner.«

   »Das hört sich toll an«, freute sich Volker.

   »Und jetzt das Rätsel«, schlug sie vor. Volker legte Bild und Gedicht so auf den Tisch, dass beide einen guten Überblick darauf hatten. Sie ließen die Informationen auf sich wirken.

   »Das Geschenk ist klein und wertvoll und muss erst gefunden werden«, sagte Greta versonnen.

   »Ich nehme an, es ist in dem hohlen Tier versteckt, das im Vordergrund des Bildes steht«, riet Volker. »Wenn ich wüsste, wo das Tier zu finden wäre, könnte ich wahrscheinlich das Geschenk holen. Hast du solch ein Tier schon mal gesehen?«

   »Irgendwie kommt es mir schon bekannt vor. Es muss jedenfalls in der Stadt sein. Im Hintergrund sieht man Häuser und Geschäfte.«

   »Ist das eine kolorierte Zeichnung?«

   Gretas Gesichtsausdruck war unentschlossenen. »Es sieht fast so aus. Aber es könnte sich auch um ein Foto handeln, das mit einem speziellen Programm bearbeitet worden ist. Hältst du die Technik des Bildes für entscheidend?«

   »Keine Ahnung«, sagte Volker. »So von der Linienführung könnte es sich um ein Pferd handeln, finde ich.«

   Greta nickte. Sie las halblaut:

 

»Du wankst nach draußen vor die Tür,

Du hattest grad’ schon ein paar Bier.

Wie klar bist du noch?

Du starrst auf ein Loch.

Im Fokus steht ein hohles Tier.«

 

   Beide sahen sich ratlos an. Volker sagte: »Vielleicht kommt man aus einer Kneipe, ist halb betrunken und sieht vor dem Ausgang dieses Tier mit einem Loch stehen.«

   »Du meinst, diese Tierskulptur steht vor einem Lokal?«

   Volker nickte. »Könnte doch sein, oder?«

   »Na super. Ganz so viele Kneipen gibt es schließlich in Düsseldorf glücklicherweise nicht. Da sind wir ja schnell durch.«

   Volker zog sein Smartphone aus der Tasche und gab bei Google die Stichworte ›Hohles Tier Kneipe‹ ein und fand eine Bar für nachtaktive Neuköllner in Berlin. »Das kann es eigentlich nicht sein. Aber vielleicht täusche ich mich auch. Ich bin davon ausgegangen, dass es sich um ein Düsseldorfer Tier handelt.«

   Greta zog die Stirn kraus. »Warum eigentlich? Vielleicht findest du das Tier auch in Niederkrüchten oder in Mönchengladbach. Wie kommst du auf Düsseldorf?«

   »Nur so ein Gefühl«, meinte Volker.

   »Dann gib doch zusätzlich mal Düsseldorf ein.« Gesagt – getan.

   »Da steht jetzt was von ›dat ärm Dier kriegen‹.«

   Greta lachte. »Das kriege ich auch bald. Mensch, das kann doch nicht so schwierig sein. Probier es doch mal mit ›Pferd‹.«

   Volker tippte folgsam ›hohles Pferd Düsseldorf Kneipe‹ ein und landete auf der Seite www.dressur-studien.de.

   »Herrje«, sagte Greta. »Versuch es mal mit ›Fokus‹. Vielleicht gab es in der Zeitschrift einen Artikel über dieses Kunstwerk.

   Volker probierte es. Fehlanzeige. »Das gibt es doch nicht«, stellte er grimmig fest.

   »Jetzt siehst du, dass ich nichts damit zu tun habe«, sagte Greta.

   »Oder du spielst gerade die Rolle deines Lebens.«

   Ein Glas Wein später hatte er es: »Na endlich. Die Kombination ›Fokus-Düsseldorf-Skulptur-Pferd‹ hat es gebracht. Es handelt sich um eine Bronzestatue einer Künstlerin namens Angelika Freitag mit dem Titel Fokus. Da ist auch ein Foto. Das ist eindeutig unser Tier. Es steht an der Wielandstraße, Ecke Wehrhahn. Gibt es da eine Kneipe?«

   »Witzbold«, lachte Greta. »Erinnerst du dich nicht mehr an den Abend im Frankenheim-Biergarten?«

   »Natürlich. Aber ich habe da nie bewusst ein Pferd gesehen.«

   »Das wird sich gleich ändern. Wir gehen sofort hin. Das ist keine fünf Minuten zu Fuß entfernt. Heute zahle übrigens ich.« Sie winkte dem Kellner und bat um die Rechnung. Volker bedankte sich. Greta und er wechselten sich mit dem Bezahlen ab. Anfangs hatte er sich dagegen gesträubt, aber mittlerweile fand er diesen Deal in Ordnung. Sie verdiente wahrscheinlich mehr als er und musste keine Familie versorgen.

   Sie gingen Arm in Arm die Wielandstraße entlang. Keiner von ihnen war wirklich betrunken, aber beide fanden die Stütze des jeweils anderen nach einigen Gläsern Wein ganz angenehm.

   »Da steht es«, sagte Greta und deutete auf das Bronzepferd. »Weißt du, wieso es ein Loch im Bauch hat?«

   »Klar«, sagte Volker. »Damit man etwas darin verstecken kann.«

   Er leuchtete mit seinem als Taschenlampe umfunktionierten Handy in den Bauch des Pferdes.

   »Igitt«, ekelte sich Greta. »Da fasst du aber nicht rein.«

   Im Bauch des Pferdes lag aufgeweichter Abfall in einer Pfütze, die wahrscheinlich vom letzten Regenguss stammte.

   »Armes Tier«, stellte Volker fest. »Du bist doch kein Mülleimer.«

   »Komm, Volker, kein vernünftiger Mensch würde hier ein Geschenk verstecken. Da hat dich jemand an der Nase herumgeführt.«

   Volker war hartnäckig und leuchtete weiter den hohlen Leib des Pferdes aus. Mit der anderen Hand tastete er sich am inneren Rand der beiden Löcher entlang, deutlich oberhalb der Müllgrenze.

   »Da ist etwas«, sagte er triumphierend und hielt ein kleines graues Päckchen in der Hand, das mit Isolierband in der Innenseite der Skulptur befestigt gewesen war.

   »Bingo«, jubelte Greta ziemlich laut.

   »Pssst«, warnte Volker. »Wer weiß, was das ist. Vielleicht wird mir hier gerade ein Päckchen Heroin untergeschoben.«

   »Steck es ein. Wir gehen zu mir und packen es da aus«, flüsterte Greta.

   Gretas Wohnung war nicht allzu weit entfernt. Nach gut zehn Minuten steckte sie ihren Schlüssel ins Schloss. Weitere fünf Minuten später hatte Volker mit Hilfe einer spitzen Schere die graue Plastikfolie entfernt und hielt einen kleinen, glänzenden Gegenstand in der Hand sowie ein Stück Papier, in das er eingewickelt gewesen war. Es war auf der inneren Seite beschriftet.

   Volker war plötzlich beinahe wieder nüchtern. »Ist das ein Goldbarren?«, fragte er zweifelnd.

   Greta beugte sich über den glänzenden Quader. Sie las: »Degussa, Feingold 999,9, 100 g.« Sie legte den kleinen Barren auf ihre Briefwaage. »Das Gewicht stimmt schon mal. »Was ist denn so etwas wert?«

   Volker googelte mal wieder. »Ich denke, der Preis ändert sich täglich. Momentan steht hier etwas von 3.926 €. Also knapp 4.000 €. Das ist doch ein ordentliches Geschenk. Da kann man nicht nörgeln. Sollte es von dir sein, nehme ich es auf keinen Fall an. Das ist viel zu viel.«

   Greta lachte. »Von mir ist der Briefbeschwerer. Das weißt du doch.«

   Volker hatte keine Ahnung, was er von der Sache halten sollte. Greta holte eine Flasche Champagner und zwei Gläser. Währenddessen las Volker den Beginn der Botschaft auf dem Einwickelpapier. Sie begann mit: »Wenn du ein zweites Rätsel bekommen willst, gilt ab sofort absolutes Stillschweigen, und zwar jedem Menschen gegenüber...«

   Volker steckte die Botschaft in seine Hosentasche. Ganz sicher wollte er noch ein Rätsel. Das hatte nicht nur Spaß gemacht. Es waren auch leicht verdiente 4.000 € gewesen, die er sehr gut gebrauchen konnte.

 

Dienstag, 20.9.

 

Die Redaktionskonferenz war vorbei. Die meisten Beteiligten zogen mit Papieren, Aufgaben und Ideen ein paar Meter weiter zu ihren Schreibtischen, um sich dem Tagesgeschäft zu widmen. Anna versuchte, neben ihrer Kaffeetasse und ihrem Handy auch noch eine dicke Informationsmappe und einen Stoß Papier unfallfrei zu ihrem Arbeitsplatz zu transportieren. Das gelang. Sie hatte in einer Stunde einen Termin, bei dem die Fundstücke vorgeführt werden sollten, die beim U-Bahn-Bau ausgegraben worden waren. Dabei handelte es sich teilweise um archäologisch durchaus interessante Gegenstände, die an einer Stelle des U-Bahnhofs Heinrich-Heine-Allee seit kurzem den Besuchern gezeigt wurden.

   Anna freute sich. Das war ein Termin nach ihrem Geschmack. Sie war gespannt. Die Einladung ließ erkennen, dass sich die Buddelei im Düsseldorfer Boden so ganz nebenbei auch noch als Öffnung eines Archivs der Stadtgeschichte erwiesen hatte.

   Sven trat an ihren Schreibtisch. »Du bist doch heute auch in der U-Bahn?«, stellte er fest. Anna nickte. »Dann können wir zusammen gehen. Ich habe da gleich einen Termin wegen der Rolltreppen, die ständig stehenbleiben.«

   »Ich dachte, die hätten das mittlerweile im Griff«, sagte Anna.

   »Das beweist nur, dass du nicht allzu häufig U-Bahn fährst. Es ist zwar besser geworden, aber die blöden Dinger streiken immer noch viel zu häufig. Manchmal hast du Glück, wenn überhaupt eine funktioniert an einem Bahnhof. Dann kommst du zwar auf der falschen Straßenseite raus, aber immerhin bist du wieder oben. Für ältere Leute ist das alles nicht gerade optimal. Stell dir mal vor, du musst einen Rollator die Treppe hochtragen.«

    Anna lächelte Sven zu und nickte. Ihr junger Kollege hatte im Laufe des vergangenen Jahres einige Stufen auf seiner persönlichen Empathie-Leiter erklommen. Als Volontär wäre es ihm noch sehr egal gewesen, wie jemand außer ihm selbst aus der U-Bahn hochgekommen wäre.

   »Meinst du, wir könnten jetzt schon losgehen?«, fragte er Anna. »Ich muss mal mit jemandem reden.«

   Anna trank ihren Kaffee aus, schnappte sich ihre sackförmige Handtasche und sagte »Na klar.« Sie befürchtete erneuten Ärger zwischen dem Chef der Lokalredaktion Horst Wildermann und Sven Ücker. Die Chemie zwischen den beiden veränderte sich so dramatisch wie der Aggregatzustand von Wasser bei rasanten Temperaturschwankungen.  Offenbar herrschte gerade wieder mal eine spontane Eiszeit. Vermutlich war ihre Mediation mittels eines Eispickels gefragt.

   »Komm, wir setzen uns auf eine Bank«, sagte sie, als sie den Köbogen erreicht hatten. »Was ist denn los?«

   Sven überraschte sie total mit dem Satz: »Ich glaube, ich muss endlich erwachsen werden.«

   Anna sah ihn zweifelnd an. »Hast du da Defizite?«

   Sven nickte energisch. »Ich bin jetzt 28, habe studiert und mein Volontariat hinter mich gebracht. Ich habe einen guten Job und verdiene ganz anständig. Ich habe eine Freundin und eigentlich geht es mir gut – wenn mich meine Eltern nur nicht wie ein kleines Kind behandeln würden. Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, von zu Hause auszuziehen.«

   Sven sah Anna schuldbewusst an, so als habe er gerade geäußert, er denke daran, den OB zu ermorden.

   »Das ist eine gute Idee«, sagte Anna. »Mit 28 kann man schon mal darüber nachdenken, sein Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Marie hat das mit 19 getan, wenn du dich erinnerst.«

   »Naja, sie ist aber im gleichen Haus geblieben.«

   »Trotzdem sorgt sie für sich selbst.«

   »Du bist aber auch irgendwie anders als meine Eltern. Die würden das nicht verstehen.«

   »Du hast selbst Schuld, wenn sie dich wie ein kleines Kind behandeln. Du lässt das ja offenbar zu.«

   »Sie mögen Leo nicht«, sagte Sven unglücklich.

   Anna konnte sich die Situation sehr gut vorstellen. Die durchaus liebenswerte und überaus sympathische Leonie Schmitz-Talaue wirkte auf den ersten Blick auf konservative Eltern sicher abschreckend. In ihrer Freizeit trug sie ausschließlich Schwarz, schminkte sich wie ein Vampir und trug so viel Metall im Gesicht, wie es die vorgestanzten Löcher in ihrer Haut zuließen.

   »Aber sie kennen sie doch mittlerweile besser. Sie sollten eigentlich wissen, dass sie ganz anders ist, als sie aussieht.«

   Sven schüttelte den Kopf. »Sie haben sie Weihnachten kurz gesehen und haben sie danach noch einmal zum Essen eingeladen. Das Treffen ist nicht gut gelaufen. Seitdem blocken sowohl Leo als auch meine Eltern ab. Wir treffen uns meistens bei ihr. Ihre Familie ist sehr nett. Aber so kann das nicht weitergehen.«

   »Such dir eine Wohnung. Das ist längst überfällig in deinem Alter.«

   »Ich glaube, du hast recht. Ich habe auch schon darüber nachgedacht. Für meine Mutter wird das sicher schwierig, aber da müssen wir wohl alle durch.«

   »Je eher desto besser«, sagte Anna. »Geh mal deinen Freundeskreis durch. Wer wohnt denn in deinem Alter noch bei seinen Eltern?« 

   Sven führte diesen Freundes-Check sofort durch. »Niemand«, stellte er verblüfft fest. »Ich schaue heute Abend mal, was im Internet an Wohnungen so auf dem Markt ist. Das wird bestimmt nicht leicht.«

   Anna dachte an die negativen Erfahrungen, die Jule und sie im letzten Winter bei der Wohnungssuche gemacht hatten. Sie wollten damals umziehen, weil ihr Vermieter Annas Exmann Stanley ohne Rücksprache mit ihnen die Parterrewohnung vermietet hatte. Sie hatten von Stalking bis Mobbing alles befürchtet. Aber es war anders gekommen. Stanley hatte zwar hartnäckig, aber immer höflich versucht, die Distanz zu seiner ehemaligen Familie zu verringern. Anfang März war er in die Vereinigten Staaten zurückgekehrt, nachdem es ihm zumindest bei Anna und Jule gelungen war, wieder vorsichtige diplomatische Beziehungen zu knüpfen. Deshalb waren die Umzugspläne dann auch wieder ad acta gelegt worden.

   »Stanleys Wohnung steht leer«, überlegte Anna. »Vielleicht wäre er ja froh, sie an dich loszuwerden. Er musste sie im Dezember für ein ganzes Jahr mieten. Sie ist sogar teilweise möbliert. Ich könnte ihn mal fragen. Allerdings müsstest du dich dann in Zukunft nicht mehr mit deinen Eltern, sondern mit Egidius rumschlagen. Du kennst ihn ja.«

   Sven nickte. Egidius Knecht, Hauseigentümer und Sittenwächter, Lärmschützer und hausinterne Bürgerwehr, war nicht zu übersehen oder überhören.

   »Meinst du, er hätte etwas dagegen, wenn Leo über Nacht bleibt?«

   Anna lachte Sven aus und versprach, Stanley per Mail auf die Wohnung anzusprechen. Dann trennten sie sich und machten sich auf die Socken zu ihren U-Bahn-Terminen.

 

*

 

Hauptkommissar Tom Brecht parkte sein Auto auf dem Besucherparkplatz der ›Seniorenresidenz am Rosengarten‹. Er fragte am Empfang nach der Leiterin Frau Vessenberg. Die Rezeptionistin wies ihm den Weg zum Büro ihrer Chefin und Tom lief in die angegebene Richtung. Vorher bedankte er sich für die freundliche Auskunft.

   Die Eingangshalle bestand aus einem großen Atrium mit einem Glasdach. In der Mitte sprudelte Wasser in einem geschmackvoll angelegten Brunnen-Pflanzen-Arrangement.

   Ein riesiges Aquarium stand frei im Raum. Davor luden Bänke dazu ein, den Fischen dabei zuzuschauen, wie sie ihre Runden um bunte Korallen drehten. Zwei ältere - um nicht zu sagen wirklich alte - Damen taten genau dies, während sie sich unterhielten. Tom grüßte und bog in den Korridor ab, in dem sich die Büros befinden sollten.

   Er fand das Vorzimmer von Frau Vessenberg, wurde von der Sekretärin sofort angekündigt und von der Heimleiterin ebenso prompt hereingebeten.

   Nach dem Begrüßungsritual kam Tom sofort zur Sache. »Sie machen sich Sorgen, Frau Vessenberg«, leitete er das Gespräch ein.

   Inge Vessenberg nickte. »Ich habe keine Ahnung, ob ich einfach nur Gespenster sehe und Ihre Zeit vergeude oder ob hier etwas ganz und gar aus dem Ruder läuft. Aber Sie haben recht, ich mache mir große Sorgen.«

   »Bitte erzählen Sie mir, was Ihnen Kummer macht. Es geht um drei Todesfälle, habe ich gehört.«

   »Genau. Sie werden jetzt einwenden, dass in einer Seniorenresidenz Todesfälle zum Alltag gehören. Das ist natürlich richtig. Aber ich arbeite hier jetzt schon seit 25 Jahren, zehn davon als Leiterin dieses Hauses. Ich habe mittlerweile einfach ein Gespür dafür, was zu erwarten ist und was nicht. Wären es drei andere Gäste gewesen, die kurz hintereinander verstorben wären, hätte ich mir keinerlei Gedanken gemacht, aber ausgerechnet diese drei hätte ich nie auf dem Zettel gehabt, wenn es um die nächsten freien Zimmer gegangen wäre.«

   »Ich verstehe«, sagte Tom. »Gibt es Akten über Ihre Bewohner?«

   Inge Vessenberg nickte. »Ich habe schon alles für Sie vorbereitet. Ich habe Kopien angefertigt. Sie unterliegen doch bestimmt auch irgendwie dem Datenschutz, oder? Ich darf natürlich solche vertraulichen Unterlagen eigentlich nicht herausgeben.«

   Tom beruhigte die nervöse Heimleiterin. »Dies ist noch keine offizielle Ermittlung, sondern nur ein Vorgespräch. Am besten, Sie schildern mir zunächst einmal, wer die Toten waren, wie und woran sie gestorben sind, und warum Sie ein ungutes Gefühl haben.«

   Frau Vessenberg begann sehr klar und systematisch, die Fälle zu schildern. Tom wünschte sich möglichst viele derartig angenehme Zeugen und nahm die Befürchtungen von Frau Vessenberg umso ernster, je differenzierter sie die Sachverhalte erklärte und Personen beschrieb. Nach einer guten halben Stunde bot sich ihm folgendes Bild:

   Fall 1: Benno Obermann, verstorben am 06.09.2016, Alter 81, in der Residenz seit 2011. Benno Obermann war Witwer und hatte zwei Töchter, die ihn auch regelmäßig besuchten. Obermann war selbstständiger Architekt gewesen und finanziell mehr als gut abgesichert. Anderenfalls hätte er sich die Residenz auch kaum leisten können, dachte Tom.

   Obermann galt als körperlich und geistig fit, auch wenn er einen Herzschrittmacher mit sich herumtrug. Er war Mitglied des Seniorenbeirats der Residenz und hatte überall seine Finger im Spiel, wenn es um das Wohl der Heimbewohner ging. Obermann machte noch allein längere Spaziergänge und betrachtete die Residenz eher als eine Art Hotel. Er war nicht etwa pflegebedürftig. Er regelte alles für sich selbst.

   An seinem Todestag hatte er Besuch seiner älteren Tochter, die ihn vor dem Mittagessen verließ. Sie sagte hinterher, er habe auf sie einen ganz normalen Eindruck gemacht. Er habe nicht etwa geklagt, es ginge ihm nicht gut. Nach dem Essen hatte sich Benno Obermann hingelegt und war aus seinem Mittagsschläfchen nicht mehr erwacht.

   Der zuständige Arzt, Dr. Ernst Linnemann, hatte den Totenschein ohne irgendwelche Bedenken ausgestellt. Bei der Frage, ob es Anzeichen für eine nicht natürliche Todesursache gebe, hatte er ein Kreuz bei ›nein‹ gemacht.

   Obermann war mittlerweile eingeäschert und sollte in der nächsten Woche beerdigt werden.

   Fall 2: Hilde Stern, verstorben am 11. oder am 12.09.2016, Alter 76, in der Residenz seit 2010. Frau Stern war zusammen mit ihrem Mann in die Residenz gezogen. Der war jedoch bereits 2014 gestorben. Kinder hatten die Sterns nicht. Frau Stern saß seit ungefähr zwei Jahren im Rollstuhl. Ihre Kniegelenke ließen selbstständiges Laufen nicht mehr zu. Ansonsten jedoch war sie, wie sie selbst stets betonte, bis auf ein paar  kleinere Wehwehchen fit wie ein Turnschuh. Sie nahm an möglichst vielen Veranstaltungen teil und war, wie Frau Vessenberg sagte, einer der Gründe, wieso sie ihren Beruf liebte. Trotz ihrer defekten Knie und der damit verbundenen Schmerzen strahlte Frau Stern stets Optimismus und gute Laune aus.

   Frau Stern hatte am 11.09.2016 an einem Theaterabend teilgenommen, bei dem verschiedene Bewohner der Residenz ein Stück mit verteilten Rollen lasen. Es handelte sich um ›Bunbury‹ von Oscar Wilde. Frau Stern hatte die Lady Bracknell gelesen. Den Erfolg der Veranstaltung hatten die Teilnehmer noch mit einem Gläschen Sekt gefeiert, das von Frau Vessenberg spendiert worden war. Danach waren alle zu Bett gegangen. Die übrigen waren am nächsten Morgen auch wieder aufgestanden, nur Frau Stern leider nicht. 

   Im Totenschein von Dr. Linnemann stand als Todesursache Herzversagen. Frau Stern war Ende vergangener Woche auf dem Nordfriedhof beerdigt worden und zwar in einem Stück, nicht in Form von Asche.

   Fall 3: Cordula Jöres, verstorben am 17.09.2016, 82 Jahre alt, in der Residenz seit 2004. Frau Jöres war Schulleiterin eines Düsseldorfer Gymnasiums gewesen, sie war unverheiratet und galt als schwierig, da sie den Kommandoton, den sie auf dem Schulhof gepflegt hatte, nie ganz ablegte. Sie hatte einige wenige Freundinnen unter den Heimbewohnerinnen, aber die meisten hatten ihr Hinscheiden höflich unkommentiert gelassen. Die Pflegedienstleiterin hatte jedoch ebenso fröhlich wie unklug am 17.09. den Satz »Der Drache ist tot« von sich gegeben, nachdem Cordula Jöres im Rosengarten neben einer Bank gefunden worden war, von der sie offenbar heruntergerutscht war, als sie das Bewusstsein verloren hatte.

   Als Todesursache hatte Dr. Linnemann – o Wunder – Herzversagen diagnostiziert, was mit einer bekannten, leichten Herzschwäche korrespondierte. Frau Jöres sterbliche Überreste ruhten noch bei einem Bestatter in der Altstadt. Die Beerdigung war für den Freitag dieser Woche angesetzt. Auch Frau Jöres galt ihrem Alter entsprechend als durchaus gesund.

   »Mittlerweile gibt es Gerede unter unseren Gästen«, sagte Inge Vessenberg bedrückt. »Die alten Herrschaften haben natürlich Angst, dass es sie hier auch demnächst erwischt. Es ist von einem Virus die Rede oder von einem Todesengel. Ich kann mir das nicht vorstellen, aber ich kann es auch nicht verantworten, den Kopf in den Sand zu stecken. Was meinen Sie denn, Herr Kommissar?«

   »Ehrlich gesagt, geht es mir wie Ihnen. Ich habe noch keine endgültige Meinung. Ich würde ganz gern mal mit Dr. Linnemann reden. Ist er im Haus?«

   Frau Vessenberg telefonierte ein wenig herum und stellte so den Aufenthaltsort des Doktors fest. Sie bat ihn, seine Visite zu unterbrechen und in ihr Büro zu kommen.

   Ein paar Minuten später saß Dr. Linnemann auf dem zweiten Besucherstuhl von Frau Vessenberg und regte sich auf.

   »Das hätten Sie ja auch erst einmal mit mir allein besprechen können«, fauchte er. »Ich werte das als Vertrauensbruch. Ich weiß nicht, wie wir in Zukunft weiter miteinander arbeiten wollen. Ich stelle schließlich auch nicht Ihre Entscheidungen infrage, egal, ob die richtig sind oder nicht. Ich erinnere dabei an die Einstellung dieser sogenannten Gymnastiklehrerin, die die alten Leutchen systematisch bestohlen hat. Das war Ihre Idee und ich habe Sie mehrfach gewarnt vor der Frau.«

   »Das steht doch hier überhaupt nicht zur Debatte«, wiegelte Frau Vessenberg ab. »Natürlich mache ich auch Fehler. Schließlich bin ich ein Mensch. Und ob Sie bei den Todesursachen Fehler gemacht haben, ist doch überhaupt noch nicht erwiesen. Aber man darf doch wohl mal etwas hinterfragen.«

   Tom mischte sich ein. »Hatten Sie denn in keinem der drei Todesfälle irgendwelche Bedenken, Herr Dr. Linnemann? Kam es Ihnen bei keinem der Toten merkwürdig vor, dass bei ziemlich gesunden Senioren plötzlich das Herz versagte, und das gleich dreimal kurz hintereinander?«

   »Herr Kommissar, das waren alles Leute um die 80 mit wenn auch leichten Herzproblemen. Da muss man täglich mit dem Exitus rechnen. Ich habe jeden der drei untersucht. Es gab keinerlei Spuren irgendwelcher Gewaltanwendung. Sie sind alle friedlich eingeschlafen.«

   »Es ist Ihnen natürlich klar, dass durch die bloße äußerliche Inaugenscheinnahme Gewaltverbrechen nicht ausgeschlossen werden können.«

   »Ich bin Mediziner. Natürlich ist mir das klar. Aber wenn Sie bei jedem alten Menschen eine Obduktion vornehmen wollen, dann bricht das System zusammen und das wissen Sie auch ganz genau. Für mich sah das alles völlig harmlos aus – nein, es sieht immer noch so aus. Ich habe keinerlei Grund anzunehmen, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht.«

   Tom bedankte sich. Der Arzt verabschiedete sich mit der Bemerkung, er müsse gehen, um zu verhindern, dass es weitere Todesfälle gebe. Es seien nämlich tatsächlich einige alte Leute ernsthaft auf ihn angewiesen. Er nickte Tom kurz zu und ignorierte Frau Vessenberg völlig. Die Tür wurde etwas lauter geschlossen als es erforderlich gewesen wäre. Frau Vessenberg seufzte.

   »Es ist klar, dass er seine Entscheidungen verteidigt«, meinte sie unglücklich. »Wissen Sie schon, was Sie jetzt tun werden?«

   Tom nickte. »Ich nehme die vorbereiteten Kopien mit und rede mit meiner Chefin. Ich nehme an, Sie sind damit einverstanden. Sonst müsste ich einen Beschlagnahmebeschluss erwirken.« Frau Vessenberg nickte das ab. »Außerdem bitte ich einen Gerichtsmediziner, den ich ganz gut kenne, einen ersten, inoffiziellen Blick in die Unterlagen zu werfen. Wie ich sehe, haben Sie in den Akten auch den vor dem Tod aktuellen Gesundheitsstatus der drei Verstorbenen beigefügt. Den soll er sich mal anschauen. Mal sehen, was dabei herauskommt. Ich melde mich in den nächsten Tagen wieder bei Ihnen. Bitte informieren Sie mich sofort, sollte ein weiterer Ihrer Gäste sterben.«

   Tom machte sich auf den Rückweg ins Präsidium. In der Halle der Residenz traf er eine junge Frau in einem weißen Kittel, die ihm irgendwie bekannt vorkam. Sie grüßte ihn freundlich. Tom runzelte die Stirn. Offenbar ging es langsam los mit den Gedächtnislücken. Erst im Auto fiel es ihm dann ein. Das war eine der Mitbewohnerinnen von Marie, wie hieß sie noch gleich? Es war jedenfalls ein türkischer Name.

 

*

 

Volker saß an seinem Schreibtisch und hörte seine Mailbox ab. Sonja hatte am Vorabend gleich zweimal um Rückruf gebeten. Vor lauter Tapas und Greta und Goldbarren hatte er völlig vergessen, dass er ihr versprochen hatte, sich abends bei ihr zu melden.

   Sein Herz klopfte, als er in Niederkrüchten anrief. Sie meldete sich und klang erleichtert, ihn zu hören.

   »Ich habe mir schon Sorgen gemacht. Warum bist du nicht ans Handy gegangen?«

   »Tut mir leid. Ich hatte es auf lautlos gestellt. Ich musste gestern Abend die Leute von der Werbeagentur einladen. Das war ein richtig hektischer Tag. Ich habe dich leider vergessen, mein Schatz. Bitte entschuldige. Aber der Auftrag ist wichtig. Du weißt, dass es momentan nicht so optimal läuft.«

   »Alles klar«, sagte Sonja versöhnt. »Ich habe keine Ahnung, warum, aber ich hatte gestern Abend so ein merkwürdiges Gefühl, das ich nicht richtig einsortieren konnte. Ich hatte irgendwie Angst um dich.«

   »Kein Grund zur Sorge. Ich bin nach dem Gelage mit den Werbefuzzis ordnungsgemäß mit dem Taxi nach Hause gefahren und habe nur vergessen, das Handy wieder auf laut zu stellen«, log er. »Jetzt bin ich noch etwas verkatert, aber sonst ist alles in Ordnung. Wie war dein Tag?«

   »Kinder, Küche, Krankengymnastik und Tante Finchen«, lachte Sonja. »Der übliche Wahnsinn also.«

   »Wie geht es Fine?«

   »Wie immer. Ich hoffe, sie schafft noch ein paar Jahre. Obwohl im Altenheim wohl gerade das große Sterben umgeht. Unter anderem hat es ihre Rommé-Partnerin erwischt. Hoffentlich findet sie einen Ersatz.«

   »›Todesserie im Seniorenheim‹ wäre doch ein fast ein Titel für einen Krimi, oder?«, lachte Volker, erleichtert darüber, dass Sonja offenbar keinen Verdacht geschöpft hatte. »Weißt du was, beim nächsten Fine-Besuch komme ich mal wieder mit. Ich muss mich schließlich noch für meinen Geburtstagsscheck bedanken.«

   Sonja assoziierte Finchens Umschlag zum Geburtstag mit dem zweiten, den sie Volker in die Hand gedrückt hatte. »Hast du eigentlich das Bilderrätsel schon gelöst?«

   Volker überlegte blitzschnell und verneinte dann die Frage. Es wäre unlogisch gewesen, zu gestresst gewesen zu sein, um seine Frau anzurufen, und andererseits Zeit genug für ein Rätsel gehabt zu haben. Außerdem wollte er noch in Ruhe darüber nachdenken, was er überhaupt erzählen würde. Konnte er die 4.000 € für sich behalten oder sollte das Geld in die Familienkasse fließen? Durfte er überhaupt etwas sagen oder würde er daraufhin kein zweites Rätsel mehr bekommen? Wer stellte das oder die Rätsel? Wie merkte diese Person, ob und wann er die erste Aufgabe bewältigt hatte?

   »Ich werde mich aber heute daran versuchen«, log er. »Ich habe keine Termine mehr. Mal sehen, was dabei herauskommt. Heute Abend bin ich allerdings mit Steffen verabredet, nur damit du Bescheid weißt, wenn du mich wieder nicht gut erreichen kannst.«

   »Wo trefft ihr euch?«

   »In einem dieser neuen Burger-Läden in der Altstadt«, sagte Volker.

   »Grüß ihn von mir.«

   »Und du grüß die Kinder. Ich freue mich auf Freitag.«

 

*

 

Marie umklammerte das Lenkrad. Sie schwitzte am ganzen Körper. Hinter ihr hupte es. »Grüner wird es nicht«, sagte der dicke Fahrlehrer neben ihr gelangweilt. Marie gab Gas, leider viel zu viel davon. Der Fahrlehrer trat auf die Bremse. Und das war auch gut so für die Stoßstange des Autos in Front. »Mit Gefühl«, sagte der Fahrlehrer leicht genervt. »Wie ich vorhin schon sagte: mit Gefühl. Ein Auto ist auch nur ein Mensch.«

   Marie war zu beschäftigt, um sich mit dem dicken Mann zu streiten. Der Wagen rollte die Oststraße entlang. Mist, da parkte schon wieder jemand in der zweiten Reihe. Marie blieb hinter dem Verkehrshindernis stehen.

   »Rückspiegel, Lücke abwarten, blinken und dann links rüber«, schlug ihr Beifahrer vor. Marie gehorchte, sah in den Spiegel, wartete, bis die Ampel hinter ihr auf Rot umsprang und die Fahrzeuge daran hinderte, weiterzufahren, blinkte und fuhr tatsächlich mit so viel Gefühl an, dass ihr Auto nicht in den Wagen vor ihr krachte. Sie schaffte es, den Lieferwagen zu umkurven und bewegte sich auf die nächste Ampel zu.

   »Na bitte«, sagte der Fahrlehrer. »Geht doch. Bisher hat noch jeder den Führerschein bei mir gemacht, der eine früher und der andere später.«

   Marie entwickelte deutliche Hassgefühle.

 

*

In der Mittagspause:

 

An: stanleywinter@yahoo.us

Betreff: deine Wohnung

 

Hallo Stanley,

danke für deine Mail von letzter Woche. Schön, dass es dir gut geht. Bei uns ist auch alles ok. Jule freut sich schon auf die Herbstferien bei dir.

Hast du übrigens schon irgendwelche Ideen wegen deiner Wohnung hier? Ich könnte dir einen Unter-/Nachmieter vermitteln, einen Kollegen von mir, der mit deinen Töchtern befreundet ist. Bitte schreib mir kurzfristig, ob du daran interessiert bist. Hat ja wohl keinen Sinn, die Wohnung bis Dezember weiterzuzahlen und leer stehen zu lassen, oder?

Gruß Anna

(gesendet 13.48 Uhr)

 

An: anna.heine.1967@web.de

Re: deine Wohnung

 

Hallo Anna,

schoen, mal wieder von dir zu hoeren, auch wenn du nicht gerade viel geschrieben hast über die Maedchen und dich. Aber ich werde ja demnaechst von Jule wohl mehr hoeren. Ich freue mich auch schon riesig auf sie. Ich ueberlege schon, welches Programm ich ihr anbieten kann. Ich denke, ich fahre ein paar Tage mit ihr nach Cape Cod an den Strand und zum Whale Watching. Mal sehen.

Die Wohnung ist ein bloedes Thema. Eigentlich waere ich sie schon gern los, aber andererseits moechte ich nicht auf die Moeglichkeit verzichten, ganz in eurer Naehe zu wohnen, wenn ich auf Besuch bin. Kannst du mich bei dir unterbringen, wenn ich mal kurzfristig komme? Wird bestimmt nicht so oft der Fall sein. Der Freund von Marie und Jule koennte dann die Moebel geschenkt haben. Ich brauche sie nicht. Es waere auch viel zu teuer, sie in die Staaten zu verschicken. Brauchst du den Mietvertrag?

Ganz liebe Grueße auch an die Maedchen

dein Stanley

(gesendet 15.15 Uhr)

 

An: stanleywinter@yahoo.us

Re: Re: deine Wohnung

 

Hallo Stanley,

leider ist meine Wohnung nicht groß genug für dich und mich. Dein Nachmieter Sven Ücker ist aber bereit, dir im dritten Zimmer deiner?/seiner? Wohnung Asyl zu gewähren, wenn du mal für kurze Zeit in Düsseldorf bist. Ich rede heute Abend mal mit dem Vermieter, Herrn Knecht, und schreibe dir dann, wie er sich zum Mieterwechsel stellt.

Bis dann, Anna

(gesendet 16.43 Uhr)

 

*

 

Hauptkommissar Tom Brecht hatte den Rest des Tages damit verbracht, die Kopien aus dem Altenheim zu lesen, beim Gerichtsmediziner vorbeizuschauen und um einen Termin bei seiner Chefin, Kriminalrätin Dörte Steiner, zu bitten.

   Er konnte sich in seinem winzigen Büro ein wenig ausbreiten, weil sein Freund und Kollege, Jörg Möller, in Urlaub war. Er war mit seiner Frau Bine und Tochter Nora sowie einem Lenkdrachen und diversem Sandspielzeug in Domburg an der holländischen Nordseeküste. So hatte Tom also die Möglichkeit, die drei Fälle auf Jörgs Schreibtisch aufzufächern. Auf diese Weise konnte er Laborberichte und Totenscheine besser miteinander vergleichen.

   Verena Maar, eine andere gute Kollegin und Freundin, betrat watschelnd sein Büro. Sie winkte mit einer Kuchentüte. Tom nahm sich einen der angebotenen Berliner und biss hinein. Irgendwie hatte er das Mittagessen verpasst. »Danke«, sagte er und lächelte seine kugelbäuchige Kollegin an. »So wie du aussiehst, müsstest du längst im Mutterschutz sein«, stellte er kauend fest.

   »Danke«, sagte Verena. »Wahrscheinlich liegt das mehr am Kuchen als am Kind. In zehn Tagen bin ich ja tatsächlich weg. Aber bis dahin ist Jörg schon wieder da. Das passt also für dich.«

   Es war noch ziemlich unklar, wie es nach dem Mutterschafts- und Erziehungsurlaub für Verena weitergehen würde. Sie hatte erst mit Ende dreißig ihren Partner Thomas Neven bei einem Kochwettbewerb kennengelernt und war nach ein paar Monaten zu ihm und seinen drei Kindern gezogen. Die Jüngste ging mittlerweile in die Grundschule und die Älteste stand schon relativ dicht vor dem Abitur. Ein gemeinsames Kind war zwar nicht unbedingt geplant gewesen, aber Verena hatte einen Luftsprung gemacht, als ihr Test positiv ausgefallen war. Sie war mittlerweile 41, also war es höchste Zeit für eigenen Nachwuchs gewesen. Ob sie es allerdings schaffen würde, mit einem Säugling und drei weiteren Kindern so bald wieder ihren Dienst anzutreten, stand momentan in den Sternen.

   Das war allen klar und deshalb wusste man auch nicht, ob es nächste Woche ein beruflicher Abschied für immer oder zumindest eine lange Zeit werden würde. Tom würde das sehr bedauern, aber andererseits freute er sich auch für die Kollegin und ihren sympathischen Lebensgefährten.

   Verena sah auf Jörgs Schreibtisch. »Was liegt da?«, fragte sie.

   »Ich weiß es wirklich nicht«, antwortete Tom. »Vielleicht sind es drei Morde, vielleicht ist es aber auch kriminaltechnisch viel Lärm um nichts. Drei alte Menschen sind kurz nacheinander in einer Seniorenresidenz gestorben. Es handelte sich allerdings um die drei Gäste, die den Fitness-Pokal des Altenheims gewonnen hätten. Ich weiß echt nicht, was ich davon halten soll. Ich habe gleich deswegen ein Gespräch mit Frau Steiner.«

   »Hast du mit dem Gerichtsmediziner gesprochen?«

   Tom nickte. »Allerdings nur relativ allgemein. Er sagt, es gibt eine sehr hohe Dunkelziffer von Tötungsdelikten, die nicht als solche erkannt werden.

   Ich habe mit dem Arzt geredet, der die Toten untersucht hat, und der in keinem der Fälle Verdacht geschöpft hat. Er hat jeweils Tod durch Herzversagen als natürliche Todesursache angegeben. Damit ist die Sache ja normalerweise vom Tisch. Aber selbst bei zunächst einmal unklaren Todesfällen muss letztlich die Staatsanwaltschaft entscheiden, ob überhaupt weiter ermittelt wird. Und das ist, wie du ja weißt, häufig nicht der Fall. Aber erst wenn die Staatsanwaltschaft einen Anfangsverdacht äußert, wird ein Richter eingeschaltet und dann kann offiziell ein Gerichtsmediziner zum Einsatz kommen.«

   »Du musst die Staatsanwaltschaft für den Fall interessieren. Das ist ja häufig so.«

   »Das soll Frau Steiner entscheiden. Ich wäre dafür.«

   »Würde denn eine Obduktion ein sichereres Ergebnis bringen?«

   »Die meisten Tötungsdelikte sind schon nachweisbar, abgesehen von den berühmten südamerikanischen Giften, die sich spurlos im Körper auflösen. Ein gewisses Problem bereiten wohl auch Erstickungstode, aber wenn man weiß, wonach man suchen muss, gelingt das normalerweise auch. Hier haben wir aber schon einen Toten, der nur noch aus Asche besteht und eine weitere, die bereits beerdigt ist. Die dritte Leiche wäre noch greifbar.«

   »Oje«, sagte Verena. »Möchtest du noch einen Berliner?«

   »Danke, ich muss jetzt zur Chefin.«

   »Ich lege dir einen auf den Schreibtisch. Den kannst du als Trost essen, wenn sie anders entscheidet, als du es möchtest.«

   Verena winkte ihm zu und beförderte sich und ihr Ungeborenes aus dem Zimmer. Tom seufzte und stopfte sich auch noch den zweiten Berliner in den Mund. Danach schnappte er sich die Kopien und trug seiner Chefin den Fall vor.

   Dörte Steiner stellte einen großen personellen und menschlichen Fortschritt dar nach der Pensionierung ihres Vorgängers, des ebenso unbeliebten wie unfähigen Kriminalrates Nölle. Frau Steiner galt als teamfähig, intelligent und kreativ. Sie stand grundsätzlich vor, hinter oder neben ihren Mitarbeitern, ganz wie es die Situation erforderte. Sie ließ sie jedenfalls niemals im Regen stehen und für Fehler aus der Chefetage büßen, wie es Nölles Gewohnheit gewesen war.

   Sie hörte sich ruhig Toms Argumente an und sah ihm dann unentschlossen in die Augen. »Ganz ehrlich, Herr Brecht, ich habe keine Ahnung, ob das ein Fall ist oder nicht. Aber wenn auch nur die Möglichkeit mehrerer Tötungen besteht, sollten wir es der Staatsanwaltschaft mitteilen. Besser, wir machen denen unnütze Arbeit, als dass wir etwas übersehen. Ich kümmere mich darum. Ich nehme an, die werden sich zunächst die noch nicht beerdigte Frau ansehen wollen. Ich muss die Staatsanwaltschaft darauf hinweisen, dass die Beerdigung kurz bevorsteht. Da ist also Eile geboten. Lassen Sie den ganzen Krempel hier. Ich rufe gleich mal bei der Staatsanwaltschaft an. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

 

*

 

Anna zögerte einen Moment. Es war der natürliche Fluchtreflex, der sie möglichst schnell an Egidius Knechts Wohnungstür vorbeileiten wollte. Das Drücken des Klingelknopfes war in diesem Handlungsschema keinesfalls vorgesehen. Trotzdem überwand sie sich. Egidius öffnete mit misstrauischem Gesicht. Es wurde nicht wesentlich freundlicher, als er seine Mieterin erblickte.

   »Ja?«, brüllte er in seiner typischen Lautstärke.

   »Ihnen auch einen schönen Abend, Herr Knecht. Es geht um die Parterrewohnung, die Sie meinem Exmann für ein Jahr vermietet haben. Er würde gern vorzeitig aus diesem Mietvertrag aussteigen.«

   »Kommt überhaupt nicht infrage. Ich habe ihm damals klipp und klar gesagt, ich vermiete nicht unter einem Jahr. Er kann froh sein, dass er die Wohnung unter diesen Umständen überhaupt bekommen hat. Das war reine Freundlichkeit meinerseits. Jetzt muss ich mich nämlich schon bald wieder um einen neuen Mieter kümmern.«

   »Ja, Herr Knecht, Sie waren die Freundlichkeit in Person.«

   »Ich habe mich bereits bei Ihnen entschuldigt und Ihnen sogar eine Blume geschenkt, wenn Sie sich mal erinnern. Jetzt ist es aber gut.«

   »Und ich habe Ihre Entschuldigung angenommen, wie Sie wissen. Ich komme im Auftrag von Herrn Winter. Er würde gern einen Nachmieter stellen, damit Sie nicht nach einem neuen suchen müssen. Sollten Sie diesen Herrn akzeptieren, wäre Herr Winter ja wohl aus dem Mietvertrag heraus.«

   »Wer soll das sein?«

   »Ein Kollege von mir. Er ist Redakteur, hat eine Festanstellung und ist ruhig und solvent. Er ist Nichtraucher und hat keine Haustiere.«

   »Verheiratet? Kinder?«

   »Nein und nein.«

   »Soll sich bei mir vorstellen, der Mann. Hat er Referenzen seines jetzigen Vermieters?«

   »Er wohnt noch bei seinen Eltern in Oberkassel. Die haben da ein großes Haus.«

   Egidius nickte beeindruckt und gab seine finale Zustimmung für ein Vorstellungsgespräch von Sven Ücker.

 

*

 

Volker winkte Steffen zu, der gerade von der anderen Seite auf das Lokal zusteuerte, in dem sie sich verabredet hatten.

   »Na?«, leitete Steffen das Gespräch ein.

   »Ähh?«, antwortete Volker.

   »Geburtstag überstanden? Irgendwas Neues? Rätsel gelöst?«, fragte Steffen.

   »Ja, nein, ja«, antwortete Volker.

   »Sehr informativ«, stellte Steffen fest.

   »Ich berichte gleich. Lass mich nur erst ein Bier trinken.«

   Dieses schöne Programm fand Steffens Zustimmung. Nach je zwei Bier und einem Burger kramte Volker das Gedicht und das Bild des hohlen Tiers aus der Tasche. »Versuch es erst mal selbst. So schwierig ist es eigentlich nicht.«

   Steffen nickte. »Ich glaube, das soll das Pferd sein gegenüber der Brauerei Frankenheim am Wehrhahn.«

   Volker war beeindruckt.

   »Wenn du genau hinschaust, erkennst du anhand der Linienführung, dass es sich um ein Pferd handelt. Außerdem kenne ich die Skulptur. Und das Gedicht deutet auch auf eine Kneipe hin. Wie hast du es rausbekommen, wenn du es nicht kanntest?«

   Volker deutete auf sein Smartphone, das vor ihm auf dem Tisch lag. »Google«, sagte er. »Ich habe ein bisschen mit Stichworten herumprobiert und dann hatte ich es.«

   »Was war das angekündigte Geschenk?«

   »Ein Goldbarren im Wert von knapp 4.000 €.«

   Steffen pfiff überrascht. »Bist du sicher, dass es keine Attrappe ist?«

   »Ich habe ihn heute verkauft.«

   »Weißt du, wer dein Gönner sein könnte?«

   »Ich glaube immer noch, es ist Greta. Sie streitet es zwar ab, aber eigentlich nur halbherzig. Wir haben gemeinsam nach dem Pferd und dann nach dem Geschenk gesucht. Sie hat immer so getan, als ob sie mitraten würde. Aber ich weiß nicht...«

   Steffen sah Volker missbilligend an. »Wieder mal Greta«, stellte er in den Raum.

   »Nicht schon wieder die Moralapostel-Nummer«, bat Volker. »Glaub mir, ich bin auch ohne dich kurz davor, die Sache mit Greta zu beenden. Das Ganze wird mir zu heiß. Irgendwann sieht uns mal ein Nachbar aus Niederkrüchten, der mit seiner Frau in der Metropole zum Shopping unterwegs ist.«

   »Du hast die netteste Frau der Welt und tolle Kinder, ich meine übrigens gerade auch mein Patenkind Louis. Du bist einfach verrückt, das wegen so einer 08/15-Affäre aufs Spiel zu setzen.«

   Das war ungerecht, fand Volker. Greta war alles andere als eine 08/15-Affäre. Sie war schön, intelligent, kreativ, zärtlich und hatte sehr angenehme Vorstellungen davon, wie eine Beziehung auszusehen hatte. Sie war eine Klasse-Frau. Aber trotzdem ging es so nicht weiter.

   Also nickte er halbherzig zustimmend. »Es kommt übrigens mindestens noch ein weiteres Rätsel. Das wurde mir auf dem Stück Papier angekündigt, in das der Barren eingewickelt war. Ich darf nur mit niemandem darüber reden.«

   Steffen sah ihn ungläubig an. »Und warum tust du es dann?«

   »Weil du ohnehin alles von mir weißt.«

   »Brauchst du das erste Rätsel noch?«, fragte Steffen. »Ich würde es gern zwei Kolleginnen zeigen, die sich mit so etwas beschäftigen.« Er meinte Anna, die bei der Schnitzeljagd ihr Ratevermögen bewiesen hatte, und Billy, die immer noch an ihrem Buch über Düsseldorf feilte.

   Volker schob ihm das Foto und das Gedicht zu. »Mach dir eine Kopie und gib mir das Original bei Gelegenheit zurück. Ich möchte es als Andenken aufbewahren. Noch ein Bier?« 

 

*

 

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