Schnitzeljagd

Tatort Düsseldorf 2

 436 Seiten

 

      Taschenbuch

        ISBN 9781517051327

 

       E-Book

 

       Schnitzeljagd-Lösungen

 


Leseprobe

1. Das Rätsel

 

   Mittwoch, 13. Mai: »Eine halbe Million?« fragte Horst Wildermann ungläubig. Jan Klas van Dyk, Chefredakteur der Düsseldorfer Zeitung nickte. »Das ist eine Menge Geld für ein Preisrätsel«, stellte Wildermann fest. Und wieder nickte van Dyk und sah dabei wie ein zufriedener und satter Kater aus.

   »Warum macht er das?«

   »Er hat Vermögen, aber keine Familie. Seine Alternative wäre, es dem Tierschutzverein oder irgendeiner anderen Organisation zu hinterlassen. Dazu fehlt ihm aber wohl jeder Bezug. Seine große Liebe ist nach wie vor seine Stadt und diese Zeitung. Ich glaube tatsächlich, er hasst mich immer noch ein Stück weit, weil ich jetzt an seinem Schreibtisch sitze. Immerhin gibt er sich Mühe, es mich nicht so spüren zu lassen.« 

   Wildermann, Chef der Lokalredaktion, strich über sein kaum noch vorhandenes Haupthaar. »Tja«, sagte er, »das könnte sogar ganz spannend werden. Kann ich mal die Rätsel sehen?«

   Van Dyk schüttelte den Kopf. »Das ist seine Bedingung, oder besser, eine seiner Bedingungen: Er rückt die Aufgaben nicht heraus. Er ist der Einzige, der die Rätsel und ihre Lösungen kennt. Er befürchtet, dass sonst etwas durchsickert und bei einer halben Million Preisgeld ist das tatsächlich nicht ganz abwegig.«

   Wildermann nickte. Es gab jede Menge Mitarbeiter, Redakteure, Schreibkräfte, Verlagsangestellte, Techniker. Da konnte man tatsächlich nicht für jeden die Hand ins Feuer legen. 

   Van Dyk fuhr fort: »Was ich von Ihnen brauche, ist ein Lokalredakteur, der die ganze Aktion leitet und begleitet und darüber schreibt, soweit man das kann, ohne eingeweiht zu sein. Der- oder diejenige müsste in den nächsten Wochen in erster Linie für das Projekt freigestellt sein.«

   »Das ist kein Problem. Wir sind momentan recht gut besetzt. Und man muss schließlich auch den Werbeeffekt für die Zeitung bedenken. Das könnte unsere Auflage ganz nett in die Höhe treiben, wenn ich mir das so recht überlege.«

   »Wir brauchen jemanden mit Phantasie, der das Ganze überzeugend verkauft«, sagte van Dyk. Er stand auf und signalisierte Wildermann, dass das Gespräch sich nun dem Ende zuneigte. 500.000 Euro hin oder her, er hatte auch noch andere Probleme als diese Schnapsidee seines Vorgängers, der im Ruhestand ganz offensichtlich über zu viel Zeit verfügte. Er überreichte dem Lokalchef die Visitenkarte mit der Privatnummer von Paul Darius und empfahl ihn anzurufen, sobald der Verbindungsredakteur gefunden worden sei. Wildermann wuchtete seine 120 Kilo aus dem Besuchersessel und strebte dem Fahrstuhl entgegen, der ihn wieder auf seine Etage brachte. Nur ja nicht ohne Not Treppen laufen.

   Die Lokalredaktion war vor ein paar Monaten in ein offenes Großraumbüro gezogen. Einige Mitarbeiter murrten noch immer mehr oder weniger offen darüber, weil sie die Privatsphäre ihrer Ein- oder Zwei-Mann-Büros vermissten. Für Wildermann bot das offene Arbeiten aber jetzt die Chance, die Häupter seiner Lieben auf einen Blick zu sehen  und relativ unbemerkt zu entscheiden, wer denn wohl den Anforderungen des Chefs am ehesten entspräche. 

   Also man brauchte jemanden mit Erfahrung und Fingerspitzengefühl, der kreativ, absolut zuverlässig und verschwiegen war. Am besten wäre es wohl, das selbst zu übernehmen. Er seufzte. Für solchen Kinderkram hatte er andererseits nun wirklich keine Zeit. Sein Job war die Lokalpolitik und in einer Stadt wie Düsseldorf war man mit dieser Aufgabe mehr als ausgefüllt. 

   Sein Stellvertreter Rainer Hausmann war zuständig für Stadtplanung und Stadtentwicklung und ruinierte sich seit Jahren ein Paar Schuhe nach dem anderen, indem er von Baustelle zu Baustelle trabte. 

   Der Noch-Volontär Sven Ücker verfügte weder über Fingerspitzengefühl noch über Erfahrung, sondern nur über gute Beziehungen. Blieb also das Fußvolk Hans Ahus, Basti Stock, Sibylle Müller und Anna Heine. Wildermann schnaubte kurz und nahm dann Kurs auf Annas Schreibtisch. 

   Die blickte von ihrem Computer hoch und sah ihren Chef lächelnd an. »Hallo Horst.«

   »Hallo Anna. Komm mal mit in mein Büro. Ich habe da eine größere Sache für dich.« Anna speicherte ihre Datei ab und folgte Horst in eins der wenigen kleinen, abgeschlossenen Büros auf der Etage. 

   »Setz dich. Das wird ein bisschen dauern. Möchtest du einen Kaffee?« Anna nickte. Wildermann orderte bei seiner Sekretärin Moni Goslar zwei Kaffee. Moni brachte das Gebräu, lächelte Anna kurz an und verschwand wieder.

   »Ich komme gerade vom Big Boss. Der alte Darius hat anscheinend zu viel Zeit und Geld. Er will zum hundertsten Geburtstag dieser unserer geliebten Zeitung eine Art Schnitzeljagd veranstalten. Gesucht wird ein Leser, nämlich  der Super-Düsseldorfer, der sich in dieser Stadt am besten auskennt. Er oder sie muss zehn Aufgaben bewältigen oder Rätsel knacken oder was weiß ich. Der Sieger bekommt die Kleinigkeit von einer halben Million Euro. Na, was sagst du?«

   Anna schluckte erst einmal. »500.000 Euro? Fällt ihm nichts Besseres ein, was man mit so einer Menge Geld anfangen könnte?«

   »Offenbar nicht. Er hat keine Kinder, denen er es vererben könnte. Wenn du mich fragst, dann langweilt sich der alte Knabe ganz gewaltig, und möchte mit dieser Aktion mal wieder so richtig im Vordergrund stehen.«

   »Stimmt. Mit einer diskreten Überweisung an die Aidshilfe oder das Kinderhospiz hätte er wahrscheinlich lange nicht so viel Spaß.«

   »Wie dem auch sei, unser Jan Klas nimmt Geld und Werbung dankend entgegen. Du bist ab sofort für diese Geschichte zuständig. Hier ist die Karte mit Darius’ Telefonnummer. Du setzt dich bitte sobald wie möglich mit ihm in Verbindung. Du wirst grundsätzlich für die Zeit von allen anderen Aufgaben freigestellt, sofern das erforderlich ist. Du schreibst über diese Schnitzeljagd und bist Darius’ Ansprechpartner und alles das, was er sonst noch will.«

   Anna schnappte nach Luft. Sie wollte eine Menge sagen, aber Horst schnitt ihr das Wort ab. »Lass gut sein, Anna. Wir können es nicht ändern und außerdem kann das richtig spannend werden. Gib dem Ganzen wenigstens eine Chance.«

   Anna ging zurück an ihren Schreibtisch und beendete in aller Ruhe den Artikel über das Marionettentheater auf der Bilker Straße, mit dem sie beschäftigt gewesen war, als Horst sie unterbrochen hatte. Dann erst wählte sie die Nummer ihres ehemaligen Chefredakteurs, dessen gigantische Abschiedsparty mittlerweile bereits über ein Jahr her war. Paul Darius freute sich, als er von Anna begrüßt wurde. Beide hatten in der Vergangenheit gut zusammengearbeitet, wobei zwischen Chefredakteur und Lokalredakteurin schon ein relativ breiter Alltagsgraben geklafft hatte. »Das ist aber nett, dass man ausgerechnet Sie ausgesucht hat, Frau Heine«, sagte er und Anna fühlte sich durch diese Worte augenblicklich besänftigt. Die beiden verabredeten sich für den übernächsten Morgen in Darius’ Haus in Wittlaer. Sie schrieb die Adresse auf und versprach, pünktlich um zehn Uhr bei Darius aufzulaufen.

   Der Rest des Nachmittags verging mit Routinearbeiten. Anna war sich noch nicht sicher, in wie weit dieser Rätseljob sie in den nächsten Wochen von ihren üblichen Aufgaben abhalten würde. Vorsichtshalber erzählte sie ihrer Kollegin Billy schon einmal die wenigen Fakten, die sie kannte. Billy würde für sie einspringen, wenn es erforderlich wäre, genauso wie sie das umgekehrt für ihre Kollegin getan hätte.

   Anna sah auf die Uhr. Bald war Feierabend und auf den freute sie sich an diesem Tag so richtig. Andererseits rotierte ihr Magen auch ein bisschen. Ihre Töchter hätten ihr erklären können, dass es sich wohl um Schmetterlinge handelte, die in diesem Moment in Annas Anatomie ihr Unwesen trieben. 

   In drei Stunden würde Toms Flieger auf dem Düsseldorf International landen und Marie und sie würden ihn abholen. Anna lächelte. Sie hatte Tom Brecht, der bei der Kripo arbeitete, vor einem knappen Jahr erst so richtig kennengelernt, als ihre Freundin und Nachbarin Lisa Rister unter ziemlich mysteriösen Umständen tot aufgefunden worden war. Obwohl Toms Vorgesetzter die Geschichte damals als Selbstmord abtun wollte, hatten Tom und sie sich in den Fall gestürzt und ihn letztlich auch aufgeklärt.

   Trotz dieses Erfolges hatte Tom danach erhebliche Schwierigkeiten mit Kriminalrat Günther Nölle gehabt, der zwar seinem jüngeren Kollegen offiziell recht geben musste, über diesen Umstand aber ziemlich sauer war. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit mobbte er Tom so geschickt, dass der schon über eine Versetzung nachdachte, obwohl Nölles Ruhestand bereits winkte.

   Sein Kollege Jörg Möller, mit dem er normalerweise im Team arbeitete, beobachtete Toms Leiden mit Mitgefühl und brachte ihn schließlich auf die rettende Idee. Er empfahl ihm, sich auf einer entsprechenden Website über einen vorübergehenden Aufenthalt im Ausland zu informieren. Das würde Tom aus Nölles Schusslinie bringen, wäre für seine Karriere sicher nicht schädlich und würde die Nerven aller Beteiligten schonen. 

   Tom hatte sich für einen Aufenthalt in Afghanistan entschieden und acht Monate lang dabei geholfen, die dortige Polizei auszubilden. Heute würde er zurückkehren und hätte danach nur noch eine Woche bis zu Nölles Abschiedsfeier zu überstehen. Dabei würde ihm aber schon sein Einsatzpartner Jörg helfen können, dessen Elternzeit gerade beendet war. 

   Zwischen Anna und Tom hatte es im vergangenen Jahr deutlich gefunkt, aber dabei war es auch geblieben. Wahrscheinlich hätten sie ein bisschen mehr Zeit füreinander gebraucht, aber was nicht war, konnte ja vielleicht noch werden, dachte Anna. Sie waren in der Zwischenzeit über Mails und Nachrichten in ständigem Kontakt geblieben. Und heute würde er endlich wiederkommen.

   Ihre zweite regelmäßige Chatpartnerin war ihre Tochter Jule, die ein halbes Jahr lang als Austauschschülerin in den USA lebte. Jule war mittlerweile 16 und fand sich schon vor ihrer Abreise ziemlich erwachsen, was allerdings von ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester Marie vehement bestritten wurde. Anna ließ die ›Kleine‹ nur äußerst ungern ziehen. Die Vereinigten Staaten waren verdammt weit weg und Jule noch so verflixt schutzbedürftig. Aber alle anderen durften natürlich am Programm teilnehmen und so kam sich Anna mit ihren Ängsten und Bedenken kleinlich vor, schluckte einmal und gab dann ihre Zustimmung. 

   Jule meldete sich wirklich beinahe täglich per WhatsApp, so wie sie es versprochen hatte, und Anna musste zugeben, dass es ihr wirklich gut zu gehen schien. Sie schickte Fotos von ihrer Gastfamilie, von den beiden Hunden und den vier Autos, die dem Vierpersonenhaushalt zur Verfügung standen. Und doch war Anna froh, dass das halbe Jahr bald vorbei war. Sie hatte schreckliche Sehnsucht nach Jule und zählte heimlich die Tage bis zu ihrer Rückkehr, was sie natürlich Marie gegenüber nie zugegeben hätte. 

   Marie hatte gerade ihr Abitur hinter sich gebracht. Die Prüfungen waren gelaufen, die Noten standen noch aus. Sie hatte ein ›ganz gutes Gefühl‹, wie sie sagte. Bei ihr ging es nicht um die Frage, ob sie das Abitur schaffen würde, sondern nur mit welcher Note. Aber es würde schon ein ganz passabler Schnitt werden, da waren sich Anna und Marie beide sicher.

   Anna konzentrierte sich seufzend wieder auf den unsäglichen Artikel eines freien Mitarbeiters, dessen Begeisterung für seine Tätigkeit deutlich größer war als sein Sprachgefühl. Sie korrigierte die schlimmsten Fehler und begradigte den hochtrabenden Stil so gut es ging. Immerhin würde sie durch den neuen Job vermutlich von solchen Routineaufgaben ein wenig freigestellt werden. Fertig. Sie verschickte den redigierten Artikel und dachte an ihr Gespräch am Freitag. 

   Paul Darius hatte sie seinerzeit bei der DZ eingestellt, als sie nach ihrer Scheidung trotz zweier noch relativ winziger Töchter dringend einen Job brauchte. Vor Maries Geburt hatte sie bereits volontiert und einige Jahre als Redakteurin gearbeitet. Sie war Darius damals sehr dankbar gewesen für die Chance, die er ihr gegeben hatte. Er hätte aus einem Pool von Bewerbern durchaus jemanden wählen können, der nicht so arbeitsausfallgefährdet gewesen wäre, aber sie waren sich sympathisch gewesen und er hatte seine Entscheidung auch nicht bereuen müssen. Irgendwie hatte es Anna immer geschafft, Job und Kinder unter einen Hut zu bekommen. 

   So verrückt sich seine Idee auch anhören mochte, Anna würde sie sich erst einmal wohlwollend anhören. Das war sie ihm aus alter Solidarität schuldig. Und die würde er auch von ihr bekommen.

   Der nächste Artikel, den sie redigierte, war wesentlich erfreulicher. Da hatte sich jemand nicht nur Mühe gegeben, sondern auch einen gewissen Witz mit eingebracht. Anna setzte dankbar Absätze und kürzte nur moderat.

   Ihr Handy dudelte. Es war Marie, die darum bat, bei einer Freundin abgeholt zu werden auf dem Weg zum Flughafen. Anna sah auf die Uhr und stellte erfreut fest, dass sie, wenn sie diesen Umweg noch machen wollte, in fünf Minuten los musste. Sie schaltete den Computer aus und ging in den Waschraum, wo sie sich noch ein wenig das Gesicht restaurierte. Keine Ahnung, wie Tom sie in Erinnerung hatte. Was hatten die acht Monate mit ihr angestellt?

   Anna lief die Treppen hinunter. Nach wie vor hasste sie Aufzüge und vermied sie, wo sie nur konnte. Auf dem Hof stand ihr nigelnagelneuer Audi. Ihren alten Golf hatte sie in gute Hände verschenkt. Jeder Euro, den sie für ihn verlangt hätte, wäre ihrer Meinung nach Wucher gewesen. Der Audi war bislang der einzige Luxus, den sie sich nach der Erbschaft von Lisas Geld gegönnt hatte.  

   Natürlich hatten Anna, Marie und Jule über die Möglichkeit nachgedacht, in eine andere Wohnung zu ziehen, um ihrem nervigen Hauswirt Egidius Knecht zu entkommen. Aber irgendwie hatten sie noch nicht das Richtige gefunden und je länger das Geld auf der Bank lag, desto weniger intensiv beschäftigten sie sich mit Immobilien. Eigentlich war alles gut so wie es war. Das Gefühl zu haben, man könne jederzeit ausziehen, reichte schon.

   Anna fuhr in der Abendsonne dieses schönen Tages nach Niederkassel, wo sie Marie einsammelte. Anschließend musste sie zurück auf die andere Rheinseite. Diesmal hatte sie die Sonne im Rücken. 

   »Na, jetzt freust du dich aber«, stellte Marie fest. »Bald ist er wieder da.«

   »Ich weiß gar nicht, wovon du redest«, behauptete ihre Mutter. Marie verdrehte die Augen. »Egal«, sagte sie. »Wenn du es so willst, dann freust du dich halt nicht.«

   »Das hab ich doch überhaupt nicht gesagt. Aber du tust gerade so, als ob ich meinen lange verschollenen Geliebten abhole. Tom ist einfach ein Freund, nicht mehr und nicht weniger.«

   Marie nickte ergeben. Warum sollte sie sich jetzt mit ihrer Mutter über Freundschafts-Definitionen streiten. Das war es nun wirklich nicht wert. 

   Sie kamen gut durch und parkten den Audi im Flughafenparkhaus P3 auf Ebene 2. Sie waren zu früh und deshalb froh, als sie von der Anzeigentafel ablasen, dass Toms Maschine pünktlich landen sollte. Sie kauften sich Laugenbrezeln und aßen die entspannt vor dem Ausgang, aus dem gleich Tom kommen sollte.

   Nach gefühlten hundert Passagieren, die mehr oder minder braungebrannt ihre Koffer Richtung Ausgang schoben, kam endlich Tom, sah sich um und winkte ihnen zu. 

   Annas Herz schlug laut und schnell. Er sah gut aus, wenn auch etwas müde. Er hatte ein paar Kilo abgenommen, war braun und trug einen Bart, der ein paar Tage alt war. Er kam lächelnd auf sie zu, nahm erst Marie kurz und Anna dann etwas länger in den Arm. 

   »Gut seht ihr aus«, sagte er. »Du auch«, antwortete Anna verlegen. Die acht Monate hatten einen Graben errichtet. »Möchtest du direkt nach Hause oder sollen wir erst irgendwo etwas essen?«

   »Hast du Zeit?«, fragte er. Anna nickte. »Klar, den ganzen Abend.«

   »Dann würde ich sehr gern erst nach Hause, kurz duschen und die Klamotten wechseln. Anschließend lade ich euch zum Essen ein. Schlimmstenfalls auch zu Pizza Hut.«

   Anna lachte fröhlich. Sie wusste, Tom teilte ihre Neigung zu Pan-Pizza eher nicht. »Keine Sorge«, sagte sie. »Ich will dich nicht schon am ersten Abend vergewaltigen.« Tom grinste und Marie sah ihre Mutter etwas ungläubig an. Die ging aber ganz schön ran. Anna sah den Blick und schämte sich. So hatte sie das ganz und gar nicht gemeint. Aber weiteres Gerede über dieses Thema wäre jetzt auch nicht wirklich hilfreich. Also schwieg sie und steuerte entschlossen das Parkhaus P2 an. Sie zog das Ausfahrticket und drückte im Fahrstuhl auf Ebene 3. Die Türen schlossen sich und Anna kämpfte entschlossen gegen ihre Panik an. 

   Sie marschierten an endlosen Autoreihen entlang, aber der Audi war einfach nicht zu finden. Alle fünfzig Meter drückte Anna auf den Schlüssel, weil sie hoffte, irgendwo würden die Lichter angehen. »Mein schönes neues Auto«, jammerte sie. »Den Golf hätte niemand geklaut.«

   »Das stimmt«, nickte Marie. »Waren wir nicht auf Ebene 2?«

   »Unsinn, P2, Ebene 3. Das hab ich mir gemerkt. Oder war es vielleicht P3, Ebene 2?« Tom, der nach dem langen Flug das Gefühl hatte, überall zu kleben und auch schon nicht mehr ganz frisch zu riechen, sehnte sich nach seiner Dusche. Hoffentlich würden sie bald das verflixte Auto finden, wo auch immer. 

   Es stand tatsächlich im Nachbarparkhaus. Und kurz danach stand es schon wieder, nämlich vor der Schranke, die den Hinweis ausgab, man habe die Parkdauer des Tickets überschritten. Anna drückte auf die Hilfetaste, erwarb ein weiteres Ticket und versuchte, die sich hinter ihr bildende  Schlange zu ignorieren. Als sie bei Toms Zuhause  angekommen waren, war sie mindestens so verschwitzt wie er. 

   Tom hatte sein Reihenhaus während seiner Abwesenheit untervermietet. Die Zwischenmieter waren aber nun schon seit einer Woche wieder weg. Er schloss auf und ging durch den kleinen Flur ins Wohnzimmer. Dort sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Tom sah sich fassungslos um. Überall stand schmutziges Geschirr herum. In Tassen und Bechern klebten Getränkereste, überzogen von Schimmelschichten. Müll lag locker verteilt auf dem Boden herum. 

   In der Küche sah es noch schlimmer aus: Müll, schmutziges Geschirr und vergammelte Essensreste. Tom ging in die Toilette und kam direkt wieder heraus. »Das willst du nicht sehen«, sagte er und schloss die Tür. »Tut mir einen Gefallen und fahrt nach Hause. Ich muss hier erst einmal Ordnung schaffen.«

   »Wir helfen dir natürlich«, sagte Anna und Marie nickte tapfer. Aber Tom schüttelte den Kopf. »Nein, das ist meine Angelegenheit. Lasst mich jetzt einfach nur in Ruhe. Ich melde mich bei euch. Bitte habt Verständnis und geht jetzt.« 

   Anna sah Tom an. Sein Gesichtsausdruck war so abweisend, dass sie einsah, Diskussionen waren zwecklos. »Wie du willst«, sagte sie und verließ einigermaßen ratlos das Haus. Marie folgte ihr. 

   »Was hat der denn?«, fauchte Marie. »Der tut ja so, als hätten wir das Chaos veranstaltet. Und dabei wollten wir ihm doch nur helfen.« Anna nickte. Genauso sah sie es auch. Trotzdem sagte sie: »Er ist fix und fertig nach dem langen Flug. Wer weiß, was er in den letzten Monaten in Afghanistan erlebt hat. Und jetzt kommt er in sein Haus und dann so eine Schweinerei.«

   »Es gibt schon Idioten«, meinte Marie, wobei nicht ganz klar war, ob sie damit Tom oder seine Mieter meinte. Die beiden Frauen fuhren nach Hause. Anna parkte ihren Audi in der Tiefgarage, die sie sich gönnte, seit das neue Auto in ihr Leben gefahren war. Sie lag ungefähr hundert Meter von dem Haus entfernt, in dem sie wohnte. 

   Das Glück war ihnen immerhin in diesem Moment hold. Es gelang ihnen, sich an Egidius Knechts Wohnungstür vorbeizuschleichen, ohne den Hauseigentümer auf ihre Anwesenheit aufmerksam zu machen. Egidius sah offenbar eine Vorabendserie im Fernsehen und das bei gehobener  Lautstärke. 

   »Der wird auch immer schwerhöriger«, stellte Marie fest. »Beschwer dich nicht über seinen Krach. Denk daran, wie er unter unserem schon gelitten hat.« Marie dachte an Metallica und 50 Cent und grinste stillvergnügt. 

   Anna schloss auf und Piet kam schnurrend auf sie zu. Anna warf ihre Tasche auf den Küchentisch und nahm den Kater auf den Arm. Immerhin er freute sich, sie zu sehen. Sie hatte zwar Marie gegenüber versucht, Toms Verhalten zu entschuldigen, aber sie war schwer enttäuscht. Natürlich hätte es keinen großen Spaß gemacht, den Dreck zu beseitigen, aber sie hätten das gemeinsam erledigen und sich dann ebenso gemeinsam darüber freuen können, dass es geschafft war. Aber er hatte sie ganz klar ausgeschlossen. 

   Anna und Marie brutzelten sich Spiegeleier und aßen gemeinsam. Danach sah Marie auf die Uhr und machte sich eilig auf den Weg ins Kino, wo sie sich kurzfristig verabredet hatte, nachdem das Date mit Tom ins Wasser gefallen war. 

   Anna setzte sich mit einem Glas Frustwein auf den Balkon und genoss den Anblick ihres grünen Innenhofes und das Gezwitscher der Vögel. Der Verkehrslärm war trotz absoluter Innenstadtlage nur leise zu hören. Piet ringelte sich auf ihrem Schoß zusammen. Sie beschloss, sich Tom zunächst einmal aus dem Kopf zu schlagen. Er hatte gesagt, er würde sich melden. Wenn er das tun würde, gut, wenn nicht, auch in Ordnung. Sie war bisher prima ohne ihn ausgekommen und das würde sie auch in Zukunft. Nur schade, sie hatte sich das alles ein bisschen anders vorgestellt. Sie freute sich auf den kommenden Feiertag und war gespannt auf das, was ihr Paul Darius am darauf folgenden Morgen erzählen würde. 

 

*

 

   Freitag, 15. Mai: Das neue Auto hatte natürlich ein Navi. Anna war immer noch glücklich darüber. Wie oft hatte sie sich trotz guter Ortskenntnisse und intensiven Kartenstudiums in ihrem Leben schon verfahren. Aber nun gab die Frau in ihrem Auto ihr ebenso freundliche wie genaue Anweisungen, nach denen sie sich gerne richtete. In Wittlaer kannte sie sich nicht besonders gut aus. Es handelte sich zwar um einen Düsseldorfer Stadtteil, aber um einen ganz am Rand im Norden, in dem gut betuchte Bürger wohnten und sich bisher nicht allzu viel für die Zeitung Relevantes abgespielt hatte. 

   Paul Darius wohnte in einer Straße, die auf beiden Seiten von großzügigen weißen Villen eingefasst wurde. Anna fragte sich, ob er sich nach dem Tod seiner Frau hier wirklich noch wohlfühlte. Das Haus war so groß, dass sich schon zwei Personen erfolgreich aus dem Weg gehen konnten. Für einen alleine war es einfach viel zu riesig und unpraktisch. Vielleicht hatte er ja nette Nachbarn, die ihn hier festhielten. Aber das war nicht ihre Sache.

   Sie klingelte. Ihr ehemaliger Chef schien schon auf sie gewartet zu haben. Der Türöffner brummte jedenfalls augenblicklich. Die Begrüßung fiel herzlich aus. Darius servierte Kaffee und Kekse und kam dann auch gleich zur Sache. 

   »Sie werden sich vermutlich fragen, was der ganze Blödsinn soll«, sagte Darius mit einem kleinen Schmunzeln im Gesicht. Anna machte eine höflich abwehrende Bewegung, obwohl sie genau das dachte.

   »Ich hatte mich wirklich auf meinen Ruhestand gefreut. Meine Frau und ich waren dabei, ein paar wunderbare Reisen zu planen. Dann ist sie ganz plötzlich verstorben. Ich weiß nicht, ob Sie davon gehört haben?«

   Anna nickte. 

   »Irgendwie musste ich aus diesem Loch wieder heraus, was so ganz ohne Familie schon schwierig ist. Und dann kam mir ganz plötzlich die Idee zu diesem Projekt. Ich habe kaum Verwandtschaft, und die, die ich habe, braucht wirklich kein Mensch. Aber ich habe eine große Liebe und das ist meine Stadt. Und derjenige, der dieses Preisausschreiben gewinnt, muss Düsseldorf genauso lieben wie ich oder wenigstens dazu bereit sein, sich mit seiner Heimat intensiv zu beschäftigen. Vielleicht finde ich ja auf diesem Weg sogar ein paar gleichgesinnte Seelen.« Er starrte einen Moment lang vor sich hin. Anna schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen?

   »Wie dem auch sei, der zweite Pluspunkt war für mich, dass auch ich mich noch mal eingehend mit meinem Lieblingsthema auseinandersetzen musste. Natürlich kenne ich die Stadt besser als die meisten anderen, und trotzdem mussten die Rätsel erarbeitet werden. Ich hatte plötzlich wieder einen Grund, morgens aufzustehen. Ich habe gelesen und getüftelt, habe Stadtführungen mitgemacht, war in Museen, habe in Buchhandlungen gestöbert und Filme angesehen. Dabei habe ich interessante Menschen kennengelernt und durchaus Dinge erfahren, die auch ich noch nicht wusste. Es war spannend und nach ein paar Wochen habe ich gemerkt, dass ich langsam wieder zur alten Form auflaufe.«

   Darius trank einen Schluck Kaffee. »Natürlich vermisse ich meine Frau immer noch ganz schrecklich. Wir waren 35 Jahre verheiratet. Aber die Recherche für die Rätsel hat meinem Leben einen neuen Schubs gegeben. Und jetzt bin ich sehr gespannt, wie die Schnitzeljagd ablaufen wird. Ich erzähle Ihnen das alles, damit Sie mein Motiv verstehen. Ich weiß selbst, dass ich das Geld allen möglichen gemeinnützigen Organisationen hätte spenden können, auch solchen, von denen die Stadt profitieren würde, aber ein bisschen Spaß will ich eben auch haben. Und es ist trotzdem noch genug da für das Regenbogenland und die Tafel, wenn es mal so weit ist.« 

   Anna lächelte ihren ehemaligen Chef an. »Sie müssen sich nicht rechtfertigen Herr Darius, und schon gar nicht mir gegenüber. Aber andererseits verstehe ich jetzt ein bisschen besser, was sie sich vorstellen und erhoffen. Was ist denn nun mein Part in dieser Geschichte?« Sie zog ein Aufnahmegerät aus ihrer Tasche und legte es auf den Tisch. Als Darius nickte, schaltete sie es ein.

   »Zunächst soll am Samstag, also morgen, die ganze Geschichte veröffentlicht werden. Ich stelle mir vor, dass Sie eine Seite im Lokalteil nehmen und dort das Preisausschreiben richtig groß ankündigen. Die Teilnahmebedingungen müssen klar definiert sein und ein paar Hintergründe, die ich Ihnen gleich noch mitteilen werde. Ich persönlich will nicht erwähnt werden. Schreiben Sie einfach, ein engagierter Düsseldorfer Bürger hat das Preisgeld gestiftet und sich die Rätsel ausgedacht. 

   Ich habe das Ganze so geplant, dass pro Woche eine Aufgabe gestellt werden soll, und zwar immer samstags. Das erste Rätsel ist für jeden verfügbar. Mit dieser ersten Lösung müssen sich die teilnehmenden Gruppen anmelden. Maximal fünf Teilnehmer pro Gruppe sind erlaubt. Nur die Gruppen oder natürlich auch Einzelkämpfer, die das erste Rätsel gelöst haben, nehmen weiter teil. Anders macht es ja auch keinen Sinn. Der Gewinner soll schließlich alle zehn Rätsel lösen, und wenn er schon beim ersten scheitert, sind die übrigen neun für ihn uninteressant.

   Eigentlich brauche ich danach die Zeitung nicht mehr, weil ich ja dann die Gruppennamen und deren Adressen habe und denjenigen, die ein Rätsel lösen, das nächste stellen könnte. Aber die Aktion ist schließlich auch als Werbung zum hundertsten Geburtstag der DZ geplant und außerdem macht es natürlich viel mehr Spaß, wenn die Suche nach dem Super-Düsseldorfer öffentlich verfolgt werden kann.«

   Anna hörte gespannt zu. Das schien doch interessanter zu werden als sie gedacht hatte. 

   »Mein Problem ist ehrlich gesagt, dass ich den Schwierigkeitsgrad jedes einzelnen Rätsels nicht genau einschätzen kann. Für mich ist natürlich jetzt alles glasklar, weil ich die Lösungen kenne, aber wie schwer sich die Leser damit tun werden, weiß ich einfach nicht. Ich habe leider vorab keine Testperson am Start gehabt, weil ich niemanden habe, dem ich zu hundert Prozent vertrauen könnte. Ich habe mich bemüht, die Rätsel so zu gestalten, dass man die Lösung nicht innerhalb von 30 Sekunden googeln kann. Sie sollen schwierig sein. Schließlich kann man eine halbe Million gewinnen, aber sie sollen auch mit entsprechender Mühe lösbar sein. 

   Optimal wäre es, wenn Sie ab sofort als begleitende Testerin agieren würden. Das heißt, Sie bilden bitte zusammen mit ein paar anderen Personen, Freunden, Familie oder was weiß ich, eine Gruppe, die natürlich außer Konkurrenz miträt und mich in der jeweiligen Woche auf dem Laufenden hält, wo möglicherweise Probleme liegen, die ich nicht berücksichtigt habe. In der allergrößten Not könnte ich dann noch Hinweise geben oder Bedingungen verändern. Stellen Sie sich bloß einmal vor, es wird nach einem Gegenstand gefragt, der unmittelbar vor der Aufgabenstellung aus irgendwelchen Gründen von seinem Platz entfernt worden ist. Damit würde meine schöne Schnitzeljagd im Sande verlaufen und das darf einfach nicht geschehen.«

   Anna nickte. Marie würde begeistert mitmachen, da war sie sicher. 

   »Ich stelle mir also vor, dass einmal pro Woche über die Schnitzeljagd berichtet wird. Die Lösung der Vorwoche wird veröffentlicht. Teilnehmer, die das Rätsel gelöst haben, könnten über die Suche berichten oder Sie könnten eine Reportage zu den Hintergründen der Lösung schreiben. Am Ende der von jetzt an noch elf  Wochen, am Geburtstag der Zeitung, steht der Sieger fest und bekommt sein Geld.«

   »Was passiert, wenn mehrere Gruppen alle Rätsel lösen?«, fragte Anna. »Wird der Preis dann geteilt?«

   »Nein«, antwortete Darius. »Es wird einen Sieger geben oder eine Siegergruppe. Ich warte erst einmal ab, wie die Resonanz ist und wie fähig die Mitspieler sind. Schlimmstenfalls wird eine der letzten Aufgaben sozusagen unter Laborbedingungen gestellt und nur die schnellsten richtigen Lösungen kommen weiter.«

   Anna nickte. Paul Darius sah sie an.

   »Nehmen Sie mir das jetzt bitte nicht übel, Frau Heine. Ich weiß durchaus, dass Sie keine Volontärin mehr sind, deren Berichte überprüft oder redigiert werden müssen. Sie sind verantwortliche Redakteurin. Aber in diesem Fall muss ich darauf bestehen, die Rätselseiten zu kontrollieren, bevor sie in den Druck gehen. Es könnten einfach deshalb Missverständnisse bei Ihnen auftreten, weil Sie nicht ausreichend informiert sind. Ich will Sie andererseits aber auch nicht vollständig ins Bild setzen, weil Sie ja mitraten sollen.«

   Anna knabberte an einem der vorzüglichen Kekse und dieser Aussage und dachte einen Moment über das Argument nach. Es leuchtete ihr ein. Also würde sie sich der Darius’schen Zensur unterwerfen müssen. »Unter einer Bedingung«, sagte sie. »Wenn Sie Änderungen vornehmen wollen, sprechen Sie die bitte mit mir ab.« So verlor sie die Kontrolle nicht komplett. Darius war einverstanden. »Wir sollten in dieser Zeit sowieso engen Kontakt halten«, regte er an. 

   »An diesem Samstag, also morgen, soll die Ankündigung erscheinen, dass es in der kommenden Woche losgeht, und am Samstag danach wird die erste Frage veröffentlicht. Dann kommen wir mit der Zeit genau bis zum Jubiläum hin. Was ich noch brauche, ist eine Kontaktperson in der Technik, die nur darüber informiert werden sollte, dass sie meinen möglicherweise auch kurzfristigen Anordnungen Folge zu leisten und ansonsten den Mund zu halten hat.«

   »Das muss ich mit Wildermann besprechen. Wenn ich weiß, wer das machen könnte, melde ich mich bei Ihnen.«

   Die nächste halbe Stunde verging mit technischen Details wie einem Anmeldeformular, das auf der Samstagsseite abgedruckt werden sollte, der Möglichkeit, per Mail teilnehmen zu können und welche Fotos auf die Ankündigungsseite sollten. Anna wollte auf keinen Fall die Seite mit einem Gebäude oder einer Person verzieren, die dann womöglich zufällig die Lösung eines Rätsels darstellte. Sie einigten sich auf eine Illustration des Jan-Wellem- Denkmals auf dem Rathausplatz, weil, wie Darius lächelnd versicherte, Jan Wellem zwar in einem Rätsel vorkomme, jedoch nicht als Lösung. Der Kurfürst war also ungefährlich.  

   Anna verabschiedete sich, sobald es die Höflichkeit zuließ. Sie würde am Nachmittag reichlich damit zu tun haben, die Seite zu erstellen. Sie fragte sich, ob dieser Termin nicht bereits ein paar Tage früher hätte stattfinden können. Anna und Paul Darius tauschten Mailadressen und Handynummern aus und Anna versprach, die fertige Seite am späten Nachmittag als Mailanhang zu schicken, damit sie vom Gott des Preisausschreibens noch abgesegnet werden konnte.

   Sie fuhr zügig in die Redaktion und besorgte sich auf dem Weg zwei belegte Brötchen, um keine Zeit mit dem Mittagessen zu verlieren. Sie klopfte an Wildermanns Bürotür und informierte ihn über das Gespräch. 

   »Wieso will er einen technischen Redakteur haben?«, fragte sich der Lokalchef mit Unbehagen. »Und eine Carte blanche, mit der er ihn benutzen kann? Wenn es nicht der Ex-Boss wäre, würde ich dem nicht zustimmen. Der kann ja sonst was ins Blatt setzen und wir merken das erst, wenn es schon zu spät ist. Also gut, gib ihm Hermanns Nummer. Ich sag ihm Bescheid. Und du nimmst Seite 3 und wir kündigen das Ganze auf der ersten Lokalseite in einem kleinen Kasten an. Auf geht’s.«

   Und auf ging es. Kurz vor fünf atmete Anna erleichtert durch, als sie die Mail an Paul Darius abschickte. Auf Seite 3 forderte ein Vierspalter die Leser der DZ auf, der Zeitung bei der Suche nach dem ultimativen Düsseldorfer zu helfen, indem sie die Ankündigung des Preisausschreibens durch Mund-zu-Mund-Propaganda und durch das Teilen des Beitrags bei Facebook verbreiteten. Auch die Online-Redaktion saß mit im Boot.

   Die Teilnahmebedingungen standen in einem Kasten und ein Anmeldeformular war abgedruckt. In der Mitte der Seite prangte Jan Wellem auf seinem Ross. Anna war zufrieden.

   Paul Darius war es auch, wie er eine Viertelstunde später mailte. Anna biss in ihr vergessenes belegtes Brötchen und machte sich auf den Heimweg. Tom hatte noch immer kein Lebenszeichen von sich gegeben. Sie überlegte, ob sie vielleicht doch eben kurz bei ihm vorbeifahren sollte, um zu sehen, ob mittlerweile alles wieder halbwegs in Ordnung wäre, aber sie entschied sich dagegen. Das wäre nicht gut. Er wollte sich melden.

 

*

 

   Tom lag seit Mittwochabend im Bett. Er hatte Fieber. Es war in der ersten Nacht gekommen. Nein, eigentlich hatte er sich schon am Abend seiner Rückkehr nicht wohlgefühlt, das aber auf den Schock zurückgeführt, sein Haus in solch einem chaotischen Zustand vorzufinden. 

   Er hatte kurzerhand den ganzen Müll seiner Vorgänger aus dem Schlafzimmer in den Flur geworfen, sein Bett frisch bezogen - immerhin war noch saubere Bettwäsche im Schrank - und sich dann hingelegt. Die Dusche war unbenutzbar. Was nun? Es war kein Essen im Haus, überall nur der ekelhafte Dreck. Er fröstelte. Es war alles sowieso egal. Er schlief wieder ein. 

   Stunden später klingelte es. Er wollte eigentlich nicht aufstehen, denn das würde bedeuten, sich dem Chaos stellen zu müssen. Er ignorierte das Klingeln. Am Freitagabend klingelte es erneut. Tom fühlte sich etwas besser. Und das Klingeln hörte nicht auf, also schien es einfacher, an die Tür zu gehen. 

   Er stand auf, ging auf den Flur und stieß sich den Zeh an einem Bündel, das er selbst aus dem Schlafzimmer geworfen hatte. Er fluchte. Es klingelte nach wie vor und jemand klopfte an die Haustür.

   Jörg Möller stand mit besorgtem Gesicht vor der Tür. »Dein Glück, dass du endlich aufgemacht hast. Ich war schon kurz davor, die Kollegen zu rufen. Was ist denn hier passiert? Und was ist mit dir los? Du siehst aus, als ob du drei Tage und Nächte durchgesoffen hättest. Ich hatte gehofft, du würdest dich nach deiner Rückkehr sofort bei mir melden.« 

   »Ich glaube, ich habe Fieber. Und meine Untermieter waren Messies. Und ich habe Hunger und Durst. Kannst du mir vielleicht helfen, Partner?«

   »Mann, Mann, Mann«, sagte Jörg. »Warum hast du denn nicht angerufen?« Tom zuckte mit den Schultern. Auf die Idee war er nun wirklich nicht gekommen. Jörg überlegte. »Ich bringe dich jetzt erst mal zum Arzt. Vielleicht hast du dir irgendetwas ekliges Tropisches eingefangen.«

   »Unsinn«, wehrte Tom ab. »Es geht mir schon viel besser. Ich brauche nur etwas zu essen und zu trinken.«

   »Sollst du haben. Zieh dich an und nimm ein paar Klamotten mit. Du kommst erst mal zu uns. Du kannst im Gästezimmer schlafen. Und hier schicken wir am besten die Tatortreiniger rein.«

   Tom zog sich die Sachen, die er auf dem Flug getragen hatte, wieder an. Er roch wirklich nicht mehr angenehm. Er griff den unausgepackten Koffer und folgte seinem Freund. 

   »Lieber Himmel Tom, was ist denn mit dir los?«, fragte Jörgs Frau Bine eine Viertelstunde später. »Komm mir besser nicht zu nahe«, sagte Tom, als Bine ihn naserümpfend umarmen wollte. »Ich müffele und brüte auch noch irgendetwas aus, wahrscheinlich etwas Afghanisches.«

   »Was für ein Glück, dass ich Ärztin bin und mit Gerüchen kein Problem habe. Aber lass mich eben kurz die Kleine wegbringen. Sie muss sich ja nicht anstecken.« Bine griff ihre zappelnde Tochter und steckte sie trotz deren Proteste in einen Laufstall. 

   »Sicherheitsverwahrung?«, fragte Tom. »Ein Glück, er macht schon wieder Witze, es scheint ihm besser zu gehen«, freute sich Jörg, der inzwischen eine Flasche Mineralwasser und ein Duschtuch geholt hatte und beides seinem Freund in die Hand drückte. 

   Eine Stunde später war Tom geduscht und hatte aus dem Koffer noch die letzten frischen Klamotten geangelt. Nora hatte den Laufstall mit einem Gitterbett getauscht – keine große Verbesserung der Haftbedingungen, wie Tom fand –    und er, Bine und Jörg saßen am Küchentisch bei Brot, Aufschnitt und einem Bier. 

   »Wer waren denn die Mieter?«, fragte Jörg. 

   »Eine IT-Firma, die es als Gästehaus nutzen wollte.« 

   »Morgen früh rufst du da an. Die sollen das Haus komplett reinigen. Sonst zeigst du sie an. Und solange bis alles fertig ist, wohnst du hier.« Bine nickte. Sie hatte Tom ganz kurz untersucht und war zu dem Ergebnis gekommen, dass er keine Gefahr für Nora darstellte. Seine Temperatur war auch schon fast wieder im Normalbereich. Sie nahm an, am nächsten Tag würde Tom wahrscheinlich wieder topfit sein und nicht das Häufchen Elend, das sie aufgenommen hatten. 

   »Wann musst du wieder arbeiten?«, fragte Jörg. 

   »Montag.« 

   »Hoffentlich erreichst du morgen jemanden bei dieser IT-Firma. Schließlich ist Wochenende.« Das war Tom an diesem Abend ziemlich gleichgültig. Er würde es versuchen. Spätestens am Montag würde er sicher Erfolg haben.

   Er erzählte bei einer zweiten Flasche Bier ein ganz klein wenig von seinem Leben in Mazar-e Sharif, aber auch nur das Banale, die wenigen heiteren Episoden zwischen all dem Sand, dem Heimweh, dem Schotter, der Angst, den Taliban,  der mörderischen Hitze und der Korruption, die sein Leben dort bestimmt hatten. Aber all das waren keine Themen für diesen ersten Abend bei Freunden. 

 

*

 

   Samstag, 16. Mai: Wie von Jörg prophezeit sprang bei Toms Untermietern am Samstagvormittag nur der Anrufbeantworter an. Tom sprach eine präzise Drohung auf das Band für den Fall, dass man ihn nicht am Montagmorgen sofort zurückriefe, und zwar bereits mit einer Lösung im Ärmel. 

   Jörg und Bine beruhigten ihn. Es sei nicht nur kein Problem, nein sie freuten sich sogar, wenn er ein paar Tage länger bei ihnen bliebe. Gästebett und Waschmaschine ständen jederzeit zu seiner Verfügung. Tom wertete diese Aussage zu Recht als Aufforderung und kippte seinen Koffer vor der Waschmaschine aus. Feiner afghanischer Sand verzierte nach  dieser Aktion Bines Küchenboden. Tom holte Schaufel und Handfeger. 

   Bine und Jörg brachen auf, um ihren Wocheneinkauf zu erledigen. Nora nahmen sie mit. Tom hatte die Wohnung für sich allein und machte sich einen Kaffee. Auf dem Küchentisch lag die Samstagausgabe der Düsseldorfer Zeitung. Ihr Anblick verursachte augenblicklich ein schlechtes Gewissen bei Tom. Er hätte sich längst bei Anna melden müssen. 

   Auf eine halbe Stunde würde es nicht ankommen, überlegte er. Ihm war unbehaglich, wenn er an dieses Gespräch dachte. Deshalb schob er es vor sich her. Anna war ein Problem. Wäre er nicht nach Afghanistan gegangen, hätte sich zwischen ihm und ihr durchaus etwas entwickeln können. Es hatte bereits heftig geknistert.

   Im Moment jedoch hatte er andere Sorgen als eine neue Beziehung. Sein Körper war eindeutig in Düsseldorf, aber seine Gefühle und seine Gedanken befanden sich größtenteils noch am Fuß des Hindukusch. Schon irre, dachte er, da packen Bine und Jörg die kleine Nora in den Buggy und kommen gleich mit Tüten beladen wieder zurück. Sie gehen einfach auf die Straße, ohne Angst vor irgendwelchen Heckenschützen haben zu müssen. Sie gehen in einen Laden und können da alles kaufen. Merkwürdig. Er seufzte. Was für dämliche Gedanken. Das hier war schließlich sein Alltag. Mazar-e Sharif war der Ausnahmezustand in seinem Leben gewesen, auch wenn er das nach acht Monaten noch nicht ganz realisiert hatte.

   Entschlossen schlug er die DZ auf, blieb aber natürlich sofort an einem Artikel über die politische Situation in den islamischen Ländern hängen. 

   Es folgte der Sportteil. Tom hatte auch während seiner Abwesenheit per Internet die Bundesliga verfolgt, war also diesbezüglich auf dem Laufenden. 

   Im Lokalteil lachte ihm auf Seite 3 der Name Anna Heine entgegen. Neugierig las er die Überschrift, die groß und fett über der Seite prangte:

500.000 € für ein Superhirn

Düsseldorfer Schnitzeljagd

   Die Mitte der Seite beherrschte ein Foto des Reiterstandbildes von Jan Wellem. Im Hintergrund war das Rathaus zu sehen. Ein Kasten enthielt eine Art Teilnahmeformular. Eintragen sollte man einen Gruppennamen, eine Telefonnummer, eine Mailadresse und maximal fünf Namen. Außerdem gab es Platz für ein Lösungswort. 

   Tom vertiefte sich interessiert in Annas Vierspalter. Offenbar stiftete ein Verrückter eine halbe Million Euro für den Gewinner eines Düsseldorf-Preisausschreibens. Tom spürte  einen schlechten Geschmack im Mund als er daran dachte, wie viele Kinder man jahrelang in Mazar-e Sharif für 500.000 Euro in die Schule schicken könnte. 

   Ihm war klar, er musste sich solche Gedankengänge ein Stück weit wieder abgewöhnen, wenn er in seinem weiteren Düsseldorfer Leben nicht als totaler Spinner gebrandmarkt werden wollte. 

   Also gut, das Preisausschreiben. Wo war denn die erste Aufgabe? Hier stand etwas: Das Rätselraten würde in der nächsten Woche beginnen. Am folgenden Samstag würde die erste Frage in der Zeitung stehen. Er zog sein Handy aus der Hosentasche und drückte entschlossen auf das grüne Telefonsymbol, alle Kontakte und Annas Namen. 

   Er hatte Glück. Anna freute sich, seine Stimme zu hören. Tom entschuldigte sich für seine Reaktion am Mittwoch. Anna demonstrierte Verständnis für die blöde Situation. Sie verabredeten sich für den Abend. Anna war glücklich, Tom dagegen eher skeptisch. Andererseits war er froh angerufen zu haben. Alles andere wäre einfach unhöflich gewesen. Er beschloss, locker an die Verabredung heranzugehen. Vielleicht würde es ja wieder so sein wie vor acht Monaten. Und wenn nicht, konnte ihn schließlich niemand dazu zwingen, diese Beziehung zu vertiefen. 

   Familie Möller schloss tütenbepackt die Wohnungstür auf und Tom und Jörg liefen noch einmal herunter, um den Rest der Beute hochzutragen. Nora brüllte wie am Spieß und Bine wärmte hektisch ein Glas mit Kindernahrung auf, mit der sie ihrer Tochter erfolgreich den Mund stopfte. Anschließend waren Mutter und Tochter erschöpft. Nora erfrischte sich bei einem längeren Mittagsschlaf, Bine dagegen räumte die Vorräte weg und deckte den Mittagstisch für drei Personen. 

   Das Trio saß lange zusammen. Jörg stellte einfühlsame Fragen und Tom ertappte sich dabei, jetzt doch Dinge zu erzählen, die er eigentlich für sich hatte behalten wollen. Bine sah ihn mit großen Augen an. »Das waren wohl schwierige Monate«, stellte sie fest. Tom nickte. Jörg sagte: »Und ich dachte, es wäre da einfacher für dich, ein paar tausend Kilometer entfernt von Nölle.« Bine lächelte. »Du hättest Nölle nach Afghanistan vermitteln sollen.« 

   »Um Himmels Willen. Das arme Volk ist auch ohne ihn gestraft genug«, sagte Tom. »Wie war es hier? An was arbeitest du gerade?«

   »Ich bin ja noch nicht mal einen ganzen Monat wieder im Dienst«, antwortete Jörg. »Wir hatten einen Banküberfall, bei dem einer der Angestellten angeschossen und schwer verletzt wurde. Vorgestern haben wir die Täter gefasst. Es waren Vater und Sohn. So eine Art Familienunternehmen.«

   »Wie lange ist Nölle noch da? Kennt man schon seinen Nachfolger?« 

   »Wir verabschieden ihn mit großem Tamtam am nächsten Freitag. Und seine Nachfolgerin ist eine Frau. Sie kommt aus Kiel und heißt Steiner. Mehr weiß ich bisher nicht. Aber sie ist ab Montag da. Nölle soll sie noch einarbeiten. Ich weiß zwar nicht in was, aber er wird schon was finden, was ihn so aussehen lässt, als ob sich mit irgendetwas beschäftigt hätte in seinem Berufsleben.«

   Jörg und Tom gehörten eindeutig nicht zu Nölles Fanclub. Deswegen waren sie an dieser Stelle auch ein klein wenig ungerecht. 

   »Ok. Eine Woche halte ich ihn noch aus. Hoffentlich ist diese Frau Steiner angenehmer im Umgang.«

   »Und kompetenter«, ergänzte Jörg. 

   Dass Tom das Treffen mit Anna keineswegs gleichgültig war merkten Jörg und Bine spätestens in dem Moment, als sie Tom mit einem Eisen bewaffnet am Bügelbrett erblickten, wo er ein frisch gewaschenes Hemd malträtierte. Bine beobachtete ihn. 

   »Du bügelst nicht oft selbst, oder?«, fragte sie, als sie ihm das Eisen aus der Hand nahm. Tom schüttelte den Kopf. Das Bügeln gehörte tatsächlich nicht zu seinen Kernkompetenzen. Dabei fiel ihm ein, er musste seine Haushaltshilfe dringend von seiner Rückkehr informieren. Sobald sein Haus wieder bewohnbar wäre, hoffte er, würde sie ihn wieder betreuen. Hoffentlich hatte sie inzwischen keine zusätzlichen Jobs angenommen. 

   Frisch gewaschen und gebügelt traf Tom am Abend Anna. Sie hatten sich am Köbogen verabredet, nahmen sich in den Arm, küssten sich auf die Wange und gingen Richtung Altstadt, wo sie eine verhältnismäßig ruhige Nische in einem der Brauhäuser fanden. 

   »Wie sieht es in deiner Messie-Behausung aus? Ist alles wieder sauber?« Tom schüttelte den Kopf. »Ich habe alles stehen- und liegenlassen und bin ausgezogen. Wenn meine Untermieter am Montag keine Putzkolonne schicken, hören sie von meinem Anwalt.«

   »Wo wohnst du denn jetzt?«, fragte Anna. Warum hatte er nicht sie gefragt, wenn er eine kurzfristige Unterkunft gebraucht hatte? Schließlich war Jules Zimmer frei.

   »Bei meinem Freund und Kollegen Jörg und seiner Frau Bine. Mir ging es gestern richtig schlecht. Ich hatte Fieber. Jörg stand plötzlich vor der Tür und hat darauf bestanden,  ich sollte mit zu ihnen kommen.«

   Vielleicht hätte sie sich doch nicht so leicht abwimmeln lassen sollen nach dem Schock im Reihenhaus, dachte Anna. »Erzähl mal, wie ist es dir in Afghanistan ergangen?«

   »Lass uns doch lieber über angenehmere Dinge reden. Ich bin ehrlich gesagt noch nicht so weit. Ich glaube, ich brauche noch ein paar Tage Abstand von Mazar-e Sharif. Glaub mir, es war kein Vergnügen. Die Reise hat mein ganzes Denken und meine Prioritäten ziemlich durcheinandergewirbelt. Irgendwann erzähle ich dir davon. Aber im Moment würdest du mir helfen, wenn wir stattdessen über das Leben hier reden könnten, über dich, die Mädels, deinen Job und was sich hier so getan hat, solange ich weg war. Ich muss mich schließlich wieder eingewöhnen.«

   Anna sah ihr Gegenüber kritisch an. Er machte wieder komplett dicht, so wie auch schon am Mittwoch. Offenbar war Geduld gefragt. Sie beschloss, sich erst einmal auf dieses Spiel einzulassen.

   »Uns geht es prima. Ich denke mal, Marie hat ihr Abi bestanden. Die Mottotage und die Prüfungen haben wir schon erfolgreich hinter uns gebracht. Marie ist ganz zufrieden, weil sich ihr in den Klausuren keine Tetraeder des Grauens oder ähnliche Absurditäten in den Weg gestellt haben. Die Noten werden erst in ein paar Wochen bekanntgegeben. Momentan hat sie so eine Lufthol-Phase.«

   »Und die Kleine? Ist sie immer noch konsequent abstinent?« Tom spielte auf eine Episode im vergangenen Jahr an, als Jule ihre Grenzen in Sachen Alkohol ausprobiert hatte.

   »Im Moment bleibt ihr nichts anderes übrig. Du weißt ja, dass sie seit einem knappen halben Jahr zum Schüleraustausch in den USA ist. Dort hast du mit 16 wenig Gelegenheit, an Alkohol zu kommen.«

   »Dafür darf sie wahrscheinlich mit den Waffen ihrer Gasteltern herumspielen und kommt als Kunstschützin zurück«, sagte Tom.

   »So wie ich es verstanden habe, sind die Gasteltern absolute Pazifisten.«

   »Glück gehabt«, sagte Tom und freute sich über das Schnitzel, das ihm gerade serviert wurde. Anna nahm einen Salat in Empfang. Sie kämpfte gerade wieder einmal gegen ein paar überflüssige Kilos.

   »Wann kommt Jule zurück?«

   »Nächsten Freitag. Ich freue mich schon ganz schrecklich.«

   »Das wird ein glücklicher Tag in unser beider Leben. Im Präsidium feiern wir Nölles Abschied. Ich werde ihm so was von frohem Herzen zum Ruhestand gratulieren. Und nicht nur ich. Hoffentlich sehe ich ihn danach nie wieder.« 

   Anna grinste. Auch sie hatte im Laufe der Jahre ihre schlechten Erfahrungen mit dem Kriminalrat gemacht und würde ihm auch ganz sicher keine Träne nachweinen.

   »Erzähl doch mal von diesem Preisausschreiben. Ich habe heute Morgen deine Seite gesehen und den Artikel gelesen. Ich glaube, da mache ich auch mit. Eine halbe Million könnte ich gut gebrauchen.«

   »Ja und nein. Ich hoffe, du wirst mitraten, aber leider wirst du nicht gewinnen. Ich suche noch ein bis zwei Mitstreiter für eine Testgruppe. Dafür spendiere ich dir aber auch dein Schnitzel. Hast du Lust?«

   »Ein Schnitzel oder eine halbe Million, was ist da schon groß für ein Unterschied? Was stellst du dir unter einer Testgruppe vor? Was hätte ich da zu tun?«

   Anna erklärte es ihm. Tom versprach mitzumachen. Marie hatte sich zwar der Gruppe ihres Freundes Benedikt  anschließen wollen, war aber von ihrer Mutter mit dem Hinweis aus dem Rennen genommen worden, Redaktionsmitarbeiter und deren Angehörige seien von der Teilnahme ausgeschlossen. Das hatte sie kurzfristig erbittert, aber andererseits würde sie in der mütterlichen Raterunde vielleicht ein paar Tipps und Hintergrundinformationen bekommen, die die anderen nicht haben würden. 

   Der Abend in der Altstadt war nett, aber auch nicht mehr als das. Sie gaben sich beide redlich Mühe, aber die Distanz ließ sich nicht so schnell überbrücken. Sie blieben wohlweislich in ihrer Nische im Brauhaus, auch wenn das Wetter schön genug für die Kasematten am Rhein gewesen wäre. Aber es war Samstagabend und der komplette Niederrhein hatte sich rund um die Bolkerstraße und den Rhein versammelt. 

 

2. Die Gottheit

 

   Montag/Dienstag, 18./19. Mai: In der Redaktion war am Montag der Teufel los gewesen. Moni hatte gegen Mittag ein knallrotes Gesicht und keine Stimme mehr. Anna hatte das natürlich mitbekommen und überlegte, wie sie helfen konnte. »Gib mir all die Fragen der Leute. Ich werde sie in einem Artikel beantworten. Dann hast du wenigstens ab morgen wieder deine Ruhe.«

    »Das hilft mir aber heute nicht«, krächzte Moni. Und wieder bimmelte das Telefon. »Nein, Sie können sich nur zusammen mit der ersten Lösung registrieren. - Nein, es gibt keine Teilnahmebeschränkung, außer Sie sind Mitarbeiter des Verlags. Kein Problem. Viel Spaß beim Raten.«

   Am Dienstag wurde es etwas ruhiger. Anna hatte viele Fragen, die sich bei den Lesern ergeben hatten, beantwortet. Nein, man musste kein Düsseldorfer sein. Wenn man der Meinung war, die Fragen auch von Koblenz aus beantworten zu können, bitte sehr. Ja, die Gruppen waren tatsächlich auf fünf Personen beschränkt. Was man bei sechs Teilnahmewilligen machen sollte? Zwei Gruppen bilden natürlich. Ja, auch Minderjährige durften mitmachen. Allerdings musste wenigstens ein Gruppenmitglied volljährig sein. Und so weiter, und so weiter. Anna war wirklich gespannt darauf, was alles geschehen würde, wenn erst einmal die erste Frage gestellt worden war. 

   Tom war am Montag wieder an seinem alten Arbeitsplatz erschienen. Er teilte immer noch ein winziges Büro mit Jörg, allerdings waren die beiden umgezogen worden. Ihr altes, etwas größeres Zimmer war sofort von Kollegen annektiert worden, als der eine in Elternzeit und der andere im Ausland war.

   Tom richtete sich an seinem Schreibtisch ein und führte einige Telefonate mit seinen Ex-Untermietern. Erst beim dritten Anlauf erreichte er jemanden, dem die Sache so peinlich war, dass er ohne Rücksicht auf Kosten sofort eine Putzkolonne organisierte. Tom hatte mittlerweile auch wieder den Kontakt zu seiner Haushaltshilfe aufgenommen, die froh über seine Rückkehr war, sich seine Klagen geduldig anhörte und sofort bereit war, sich mit dem Putztrupp in Toms Haus zu treffen und deren Arbeiten zu überwachen. So wurde alles aufs vortrefflichste geregelt und Tom konnte tatsächlich am Montag Abend zurück in sein Zuhause ziehen, wo alles sauber war und aufgeräumt. Der intensive Geruch nach Desinfektionsmittel würde sich bei entsprechendem Lüften sicher auch bald wieder verziehen. 

 

*

  

   Erst am Dienstag lernte er seine zukünftige Chefin kennen, die von Nölle durch die Flure des Präsidiums am Jürgensplatz geführt wurde. Ohne anzuklopfen enterte Nölle das kleine Büro. »Das ist ja eine Freude, dass Sie beide sich auch mal wieder die Ehre geben. Liebe Frau Steiner, das sind die Kollegen Möller und Brecht. Wir haben Glück, dass der eine nicht gerade sein Kind betreuen muss und der andere nicht in der Weltgeschichte herumgondelt.« Er lächelte über seine gelungene Vorstellung.

   Frau Steiner war ungefähr 50, hatte kurze, blonde, lockige Haare und ein paar Kilo zu viel auf den Hüften. Sie lächelte freundlich und begrüßte die beiden Männer, indem sie ihnen die Hände schüttelte. »Ich freue mich schon darauf, Sie näher kennenzulernen.« Sie wandte sich an Tom: »Wo genau sind Sie denn herumgegondelt?«

   »Mazar-e Sharif«, antwortete Tom. »Respekt«, sagte Frau Steiner. Nölle zupfte an ihrem Ärmel. »Ich denke, wir sollten weiter. Sie müssen noch eine Menge anderer Kollegen begrüßen.« Sie ging auf Abstand zu Nölle und befreite ihren Ärmel, nickte dann aber. »Auf Wiedersehen und auf gute Zusammenarbeit, meine Herren.« Die Tür schloss sich hinter ihnen.

   »Was meinst du?«, fragte Jörg. 

   »Schwer zu sagen. Auf den ersten Blick ganz nett, aber das kann sich auch noch ändern. Warten wir es ab.«

 

*

   

   Mittwoch, 20. Mai: Anna klemmte sich den Hörer zwischen Kinn und Schulter, um beide Hände frei zu haben, während sie am Telefon auf Tom wartete. In der Redaktion galt er als ihre Kontaktperson innerhalb des Polizeipräsidiums. Wildermann hatte eine Rückfrage zu einer Pressemitteilung der Polizei und folgerichtig Anna mit der Recherche beauftragt. Sie blätterte durch die DZ, wozu sie an diesem Tag noch keine Zeit gehabt hatte. Alles war furchtbar hektisch gewesen. 

   Die Kanzlerin weilte in der Türkei, wo sie dem Regierungschef in deutlichen Worten mitgeteilt hatte, was sie von der dortigen Menschenrechtssituation hielt. Dennoch hatte sie ein Wirtschaftsabkommen unterzeichnet. 

   Beim Standardpanzer der Bundeswehr lösten sich die Ketten in Wohlgefallen auf, sobald sie mit Streusalz in Berührung kamen. 

   Die Fortuna hatte am Wochenende wieder mal verloren und der Sportredakteur suchte nach dem dafür Verantwortlichen. Außer den Fans hatten wohl alle Schuld daran, wenn man dem Bericht glauben durfte. 

   Eine Kunstausstellung war im Ehrenhof eröffnet worden. Anna würde sie sich gern anschauen. Die Besprechung las sich so, als ob sich ein Besuch lohnen würde. Illustriert wurde der Bericht durch einen Adventskranz mit zwei brennenden Kerzen. Im Mai? Hatte wahrscheinlich mit der Ausstellung zu tun. Sie blätterte weiter.

   Im Lager der Karnevalisten gab es Ärger. Die Venetia der vergangenen Session hatte gegen ihren Prinzen, der gleichzeitig Präsident eines der vielen Vereine war, Anschuldigungen erhoben, andere Vereine benachteiligt zu haben. Anna dachte flüchtig an einen Sack Reis.  

   »Bist du noch da, Anna?«

   »Ja, natürlich. Hast du etwas herausgefunden?«

   »Ja, hab ich. Die Sache ist wasserdicht. Der Überfall wurde offenbar tatsächlich von dem Tankstellenpächter selbst inszeniert. Er ist in Haft. Das könnt ihr so schreiben.«

   »Danke Tom. Du hast mir sehr geholfen.« Ich gebe es an die Kollegen weiter. Alles gut bei dir?«

   »Bestens. Ich wohne wieder in meinem Haus. Die neue Chefin macht einen netten Eindruck und ich fühle mich von Tag zu Tag wohler in Düsseldorf. Mazar-e Sharif verblasst langsam. Treffen wir uns am Wochenende zur ersten Rätselrunde?«

   »Sehr gerne. Dann ist Jule auch wieder da. Sie kommt Freitagabend am Flughafen an. Magst du Samstagnachmittag kommen? Dann können wir erst knobeln und anschließend zusammen essen.«

   So wurde es vereinbart. Es folgten zwei Tage gefüllt mit  Routinekram für Tom und Jörg und freudiger Erwartung auf Jules Ankunft bei Anna. In der Redaktion arbeitete sie konzentriert ihr Schreibtischkörbchen leer. Schließlich hatte sie keine Ahnung, was ab Samstag wegen des Preisausschreibens los sein würde. 

   Donnerstag fanden hektische Vorbereitungen für die Abschiedsparty von Kriminalrat Günther Nölle statt. Niemand hatte sich zuständig gefühlt, weil Nölle keinem wirklich am Herzen lag. Schließlich hatte sich aber ein Kollege erbarmt und schlenderte mit einem Geldumschlag und einer Glückwunschkarte durch die Flure. 

   Um das Catering hatte sich Nölle glücklicherweise selbst gekümmert. Da niemand eine Ahnung von eventuellen Hobbys Nölles hatte – außer natürlich, dass der mit Vorliebe Menschen seiner Umgebung fertigmachte – wurde einfach ein gigantischer Präsentkorb erstanden. Unpersönlicher ging es nun wirklich nicht, aber das war schließlich Nölles eigene Schuld. Er hatte nie Wert darauf gelegt, Everybody’s Darling zu sein und so war er schließlich zu Nobody’s Darling geschrumpft. 

   Der Kollege mit dem Umschlag hatte überall nachgefragt, ob denn nicht irgendwer irgendetwas zum Besten geben wolle: eine Rede, ein Lied, ein Gedicht?

   Tom erklärte sich bereit, die zweite Stimme von »So ein Tag, so wunderschön wie heute...« zu übernehmen, wenn sich denn noch jemand für die erste fände. Der Kollege tippte sich freundlich an die Stirn und versuchte sein Glück im Nachbarbüro. Vergeblich. Und so wurde die Verabschiedung  von Günther Nölle nach mehr als dreißig Jahren Dienst am Jürgensplatz zu einer ziemlich drögen Angelegenheit, auch wenn an Sekt, Bier und Softgetränken  kein Mangel herrschte. Der Polizeipräsident sprach einige wenige warme Worte, der Personalrat überreichte den Präsentkorb. Nölle selbst wünschte seiner Nachfolgerin alles Gute und das war es dann zur Erleichterung aller. Es folgte business as usual. 

   Deutlich emotionaler gestaltete sich Jules Ankunft am Flughafen. Anna hatte den Parkplatz samt Nummer mit ihrem Smartphone fotografiert. Diesmal würde sie ihr Auto wiederfinden. Eine halbe Stunde vor der Landung war sie bereits mit Marie vor Ort. »Ich habe dir doch schon zu Hause  gesagt, wir sind viel zu früh hier«, beschwerte sich ihre Tochter. »Ist doch egal. Besser als zu spät.« Marie zog die Augenbrauen hoch. Das sah sie etwas anders. Ergeben steckte sie sich Stöpsel in die Ohren und überbrückte die Wartezeit mit Musik aus ihrem Handy. 

   Irgendwann stürmte dann tatsächlich Jule auf ihre Familie zu, umarmte Mutter und Schwester und redete in einer Tour. »Wie schön, dass ihr hier seid! Ich habe euch Supergeschenke mitgebracht! Ich bin so froh, wieder hier zu sein! Es war so krass in Amerika! Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Ich wollte eigentlich am liebsten da bleiben! Meine Familie ist so nett, und die Hunde erst! Ich habe euch so vermisst! Ich durfte da sogar Auto fahren! Und die Schule könnt ihr euch gar nicht vorstellen! Die ist wie eine Kleinstadt! Und die Lehrer sind so nett! Ich habe voll gut Englisch gelernt! Habt ihr Schwarzbrot zu Hause? Ich sterbe für ein Schwarzbrot mit Käse!«

   Marie schlug die Augen gen Himmel. Frei nach Thin Lizzy: The Kids are back in Town. Jule war eindeutig wieder da. 

   Der Abend wurde nur teilweise zur Familienidylle. Es gab mehr als genug zu erzählen. Jule war immer noch völlig hin und weg von dem erlebten Kulturschock. Zwischendurch hielt sie regen Nachrichtenkontakt zu ihren amerikanischen Gasteltern und Geschwistern, was besonders Marie irgendwann auf die Nerven ging. »Nun leg doch endlich mal das Handy weg. Du hast ›deiner‹ Familie doch nun wirklich oft genug mitgeteilt, dass du hier gut angekommen bist. Für das, was hier so gelaufen ist, interessierst du dich überhaupt nicht.« 

   Jule wies das weit von sich und forderte Mutter und Schwester auf, endlich auch mal etwas zu erzählen. Anna meinte, eigentlich sei alles so wie vor Jules Abreise, nur Tom sei seit ein paar Tagen aus Afghanistan zurück und die Zeitung veranstalte ein ziemlich spannendes Preisrätsel, an dem sie sich zwar beteiligen würden, aber leider nichts gewinnen konnten. 

   Marie berichtete vom Abi und erwähnte nur in einem Nebensatz, dass sich zwischen ihr und Benedikt Schuster aus der WG in der Etage über ihnen zarte Bande entwickelt hatten. »Du und der Bene?«, fragte Jule schockiert.

    »Ja und?«  

   »Der ist wirklich nett, aber das hätte ich nie gedacht. Du kennst den doch schon seit zwei Jahren.« Marie schnaubte. Jule hatte sich durch das amerikanische Abenteuer nicht ein bisschen verändert. 

   Irgendwann schlug Annas Handy Alarm. Billy, die Abenddienst hatte, war am Telefon. »Hi Anna, ich sollte dich doch anrufen wegen des Preisausschreibens. Ich finde übrigens Herrn Darius etwas anstrengend. Abends um acht  gibt er erst das Rätsel durch und ich kann gucken, wie ich das unterbringe.«

   »Du Arme. Ich verspreche dir, nächsten Freitag halte ich wieder die Stellung in der Redaktion. Aber du weißt ja, wir haben Jule vom Flughafen abgeholt. Ist es denn sehr viel Text?«

   »Das kann man nun wirklich nicht sagen«, antwortete Billy. »Es handelt sich lediglich um eine Grafik. Ich schick sie dir gerade mal per WhatsApp. Du kannst mich ja danach noch mal kurz zurückrufen.« 

   Annas Handy meldete sich. Sie öffnete das Nachrichtenprogramm und klickte unter Chats den Namen Billy an. Ein Bild wurde heruntergeladen. Anna starrte es an.

  

 

  Marie sah über ihre Schulter. »Hä?«, sagte sie. »Ist das alles?«

   »Sieht so aus.«

   »Was denn für eine Gottheit?«, fragte Jule.

   »Das ist offenbar das Rätsel«, dozierte Marie.

   »Sehr merkwürdig«, staunte Anna, während sich Marie bereits im Ratemodus befand und in ihr Handy bei Google das Wort Gottheit eingab. »Was wollt ihr wissen?«, fragte sie. »Es gibt lange Listen von Gottheiten, Funktionen, Geschlechtern, Religionen...«

   Anna rief wie vereinbart in der Redaktion an und sprach mit Billy. »Ich habe keine Ahnung, was das soll. Aber das ist ja wahrscheinlich auch der Sinn der Aktion.«

   Billy war zwar in der Sache ratlos, aber nicht, was den technischen Ablauf anbelangte. Sie sorgte dafür, dass Annas Artikel zum Thema ›Aufgabe 1 für den Super-Düsseldorfer‹ wie geplant zusammen mit Darius’ Grafik in der Samstagausgabe der DZ erschien. Sollten sich andere die Zähne ausbeißen.

 

*

 

   Samstag, 23. Mai: Einer davon war Manni van Tekel. Manni war 58, Frührentner – wobei, so früh war es nun auch wieder nicht – der lange Zeit in einem großen Telekommunikationskonzern gearbeitet hatte und vor einem Jahr mit einem goldenen Handschlag in die Freiheit entlassen worden war. Manni hatte nicht ernsthaft versucht, einen neuen Job zu finden. Es hatte eine Menge Vorteile, nicht mehr jeden Morgen im Büro antreten zu müssen. Finanziell lief es so lala. Manni war alleine, musste also nicht für Frau und Kinder in irgendwelchen Ausbildungen sorgen. Das passte schon.

   Große Sprünge konnte er nicht machen, aber für Wohnung, Essen, Bier und Zigaretten reichte es locker. Seinen Traum - eine All-Inclusive-Weltreise auf einem komfortablen Schiff - würde er sich aber ohne Job nicht mehr erfüllen können, es sei denn mit diesem Preisrätsel. Und warum eigentlich nicht? Manni hatte Zeit, war ein Ratefuchs, ein alter Düsseldorfer und dumm war er auch nicht.

   Er studierte am Samstagmorgen eine Zeitlang die Grafik, fand aber so auf Anhieb noch kein Anpackende. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen Schluck Kaffee. Für weitere Stimulantien schien die Tageszeit noch nicht ideal.

   Gottheit? Das Ding darüber war wohl ein Heiligenschein. Schein? Geldschein? Shining bright? Was war das für eine Schriftart? Manni probierte in seinem Textprogramm herum. Ganz sicher war er sich nicht. Aber seiner Meinung nach war es eine Baskerville. Der Hund von Baskerville? Sherlock Holmes? Rätsel? Jo. Und nun?

   Manni tüftelte den ganzen Vormittag vergeblich an der ersten Aufgabe herum und hatte irgendwann keine Lust mehr. Er sah auf die Uhr. Alles hatte seine Zeit, das Rätsel, das Leben, der Tod. Aber jetzt war es Samstag, 15.30 Uhr, Liga live im WDR. Er holte sich ein Bier und wandte sich den wichtigen Dingen des Lebens zu.  

 

*

 

   Marie hatte den Vorabend brav im Familienkreis verbracht und der Rückkehr ihrer jüngeren Schwester gewidmet, obwohl Benes WG zu einem Spieleabend geladen hatte. Mutter und Töchter hatten noch ein wenig hin und her gerätselt, waren aber nicht wirklich vorangekommen und dann schlafen gegangen. Marie hatte an diesem Samstag gegen halb zehn genug Kernfamilie genossen, beschloss, Bene einen Besuch abzustatten, versprach aber, nachmittags um drei Uhr pünktlich wieder zu Hause aufzulaufen. Das war die Zeit, zu der Tom erwartet wurde. Dann wollte man das Rätsel erneut angehen.

   Marie vermutete zu Recht, dass der Spieleabend zu einer Spielenacht eskaliert war und lief ein paar Straßen weiter, wo sie frische Brötchen für alle WG-Bewohner kaufte. Auf dem Rückweg öffnete sich die Haustür, als sie gerade aufschließen wollte.

   »Ach, die Marie! Na so was, schon so früh am Morgen auf? Und das bei dem Krach in der WG gestern Abend. Hast du den mitveranstaltet? Oder seid ihr auch in eurer Nachtruhe gestört worden? Die bekommen jedenfalls heute noch eine Abmahnung!«

   »Guten Morgen, Herr Knecht«, sagte Marie schicksalsergeben. »Nein, ich war nicht beteiligt. Meine Schwester ist gestern aus Amerika zurückgekommen und  da hatte ich leider keine Zeit, Krach zu machen.«  

   »Immer witzig. Hahaha! Kannst du mir vielleicht einen kleinen Tipp geben zu der Gottheit? Deine Mutter weiß doch bestimmt Bescheid. Und ich würde ihr auch vom Gewinn etwas abgeben. Sie darf doch bestimmt nicht offiziell mitmachen.«

   »Tut mir leid Herr Knecht. Wir kennen die Lösung auch nicht. Und jetzt muss ich leider weiter. Ein schönes Wochenende noch.« Eilig quetschte sich Marie am Hauseigentümer Egidius Knecht vorbei. Knechts relative Liebenswürdigkeit war noch schlechter zu ertragen als seine offenen Angriffe im vergangenen Jahr. Jetzt hatte er jedoch einen neuen Feind im Haus, die WG.

   Dort klingelte Marie und wurde von Funda hereingelassen. Funda hatte zwar türkische Wurzeln, sprach aber, wenn es darauf ankam, reinstes Düsseldorfer Platt. Sie war hier geboren und beabsichtigte auch nicht, diese Stadt zu verlassen, es sei denn, es ließe sich beruflich nicht vermeiden. Funda studierte Medizin an der HHU.

   »Brötchen«, stellte sie erfreut fest.

   »Ist Bene schon wach?«

   Funda nickte. »Jep. Er ist in der Küche.«

   Marie enterte die WG-Küche und gab ihrem am Küchentisch sitzenden Liebsten einen flüchtigen Kuss. »Hi«, sagte sie in die Runde. Neben Benedikt saßen die beiden anderen WG-Mitglieder Lukas und Patrick. Patrick lebte schon seit zwei Jahren mit den anderen zusammen und war mit Bene, Funda und Marie befreundet. Lukas war ganz neu.

   »Ich habe Brötchen mitgebracht«, sagte Marie und warf die Tüte auf den Tisch. »Oder habt ihr schon gefrühstückt?«

   »Um diese Uhrzeit?«, fragte Bene entsetzt. Marie warf einen Blick auf ihr Handgelenk und stellte fest, dass es mittlerweile zehn war. Patrick stand auf und holte verschiedene Teller aus dem Schrank, die zusammen mit einem Tassen-Sammelsurium ein buntes Bild auf dem Tisch boten. Bene räumte die Zeitung beiseite. Funda holte Nutella und dann Margarine und Wurst aus dem Kühlschrank.

   »Ihr seid die einzigen Leute aus meiner Generation, die eine Zeitung aus Papier lesen«, stellte Marie kopfschüttelnd fest. »Reicht euch die DZ-Online nicht?«

   »Wir haben ein kostenloses Probeabo für ein Vierteljahr. Danach werden wir sie wohl wieder abbestellen«, erklärte Funda.

   »Es sei denn, wir gewinnen das Preisrätsel. Dann werden wir aus Verbundenheit das Abo verlängern. Bei einer halben Million Preisgeld sollte das kein Problem sein.«

   »Sagt nicht, ihr ratet auch mit.«

   »Klar. Und du machst natürlich mit. Jede Gruppe darf bis zu fünf Mitglieder haben. Wir brauchen deine Mathekenntnisse.« Bene lächelte seine Freundin überredend an.

   »Würde ich gerne, darf ich aber nicht«, sagte Marie. »Redakteure und Familienangehörige sind von der Teilnahme ausgeschlossen. Außerdem muss ich bei einer innerfamiliären Testgruppe mitmachen zusammen mit meiner Mutter, Jule und Tom. Meine Mutter hat nämlich auch keine Ahnung. Und sie soll trotzdem darüber schreiben. Es kann durchaus sein, dass sie euch mal interviewt. Habt ihr schon eine Lösung für die Gottheit?« Kollektives Kopfschütteln war die Antwort.

 

*

 

   Auch Christoph Hill hatte eine Brötchentüte unter dem Arm, als er kurz klingelte um sich anzukündigen, dann aber die Haustür selbst aufschloss. Seine Mutter hatte die Klingel gehört und kam ihm lächelnd entgegen. »Schön, dass du da bist«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange.

   »Ich habe Brötchen mitgebracht.«

   »Perfekt. Geh schon auf die Terrasse. Papa sitzt draußen. Ich komme gleich mit dem Kaffee.«

   Friedrich Hill schaute von der Zeitung auf, als sein Sohn durch die Tür zum Wohnzimmer ins Freie trat. »Da bist du ja«, sagte er erfreut und ließ sich von Christoph zur Begrüßung auf die Schulter klopfen.«

   »Geht es dir besser?«, fragte Christoph.

   »Ich kann von Tag zu Tag ein bisschen weiter laufen. Ich hoffe mal, so in einer Woche oder maximal zwei bin ich wieder fit wie der berühmte Turnschuh.« Noch aber hatte Friedrich seinen frisch operierten Fuß auf einem Hocker hochgelagert.

   Christophs Mutter kam mit einer Thermoskanne auf die Veranda. »Was gibt es Neues?«, fragte sie ihren Sohn. Der schüttelte den Kopf. »Nicht viel. Es plätschert alles so vor sich hin.«

   »Du willst nur nicht, dass ich so schnell wieder in die Kanzlei komme«, vermutete sein Vater.

   »Es ist wirklich ruhig. Lass dir Zeit mit dem Gesundwerden. Wenn es eng wird, bringe ich dir einfach ein paar Akten vorbei. Aber die OP ist doch schon mal eine gute Übung für den Ruhestand.«

   Friedrich sah das im Prinzip ähnlich. Für das Ende des Jahres war sein Ausscheiden aus der von ihm vor langer Zeit gegründeten Rechtsanwaltskanzlei sowieso geplant. Er war jetzt 66 und freute sich auf mehr Freizeit. Sein Sohn hatte auch Jura studiert und arbeitete nun schon seit fünf Jahren an seiner Seite. Der Übergang war fällig.

   »Ich langweile mich schon ein bisschen, was natürlich auch daran liegt, dass ich mich noch nicht so bewegen kann, wie ich es gerne würde.«

   Christoph nickte. Das verstand er. Er war selbst sportlich sehr aktiv und war in diesem Jahr erstmals beim Düsseldorf-Marathon mitgelaufen. Er war angekommen, fand aber, seine Zeit sei durchaus noch verbesserungswürdig.

   »Mach doch bei dem Preisrätsel mit«, sagte er und deutete auf die noch zusammengefaltete Samstagausgabe der DZ.

   »Stimmt. Heute müsste das erste Rätsel abgedruckt sein. Wie kommst du jetzt darauf?«

   »Ich dachte, wenn du dich langweilst, könntest du es ja mal versuchen. Du bist doch alter Düsseldorfer und kennst dich aus.«

   »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Vielleicht muss man ja viel dabei herumrennen. Das kann ich im Moment noch nicht.«

   »Das Rennen könnte ich ja übernehmen«, sagte sein durch  den Marathon gestählter Sohn. »Du könntest ja mal mit dem Denken beginnen.«

   »Ich wusste gar nicht, dass du die DZ abonniert hast«, sagte seine Mutter.

   »Habe ich auch nicht. Aber wir haben sie in der Kanzlei. Und ich bin vor ein paar Tagen mit einem neuen Mandanten darüber ins Gespräch gekommen. Letzte Woche gab es wohl eine große Ankündigung, eine ganze Seite oder so. Er wollte jedenfalls mit ein paar Freunden zusammen teilnehmen und hat mich richtig neugierig gemacht. Daraufhin habe ich es mir auch angesehen.«

   »Ein neuer Mandant? Eine größere Sache?«, fragte Friedrich.

    »Das weiß ich noch nicht. Er ist dabei, eine Firma zu gründen und es geht um die Verträge. Wahrscheinlich braucht er eher einen Steuerberater als einen Rechtsanwalt. Mal abwarten, was daraus wird.«

   »Ich habe diese Ankündigung am letzten Samstag auch gelesen. Uschi, haben wir die Zeitung noch?« Seine Frau stand auf und kam mit einem Zeitungsstapel zurück. »Das ist das Altpapier der letzten Woche. Wahrscheinlich sind auch die Anzeigenblätter noch dabei.«

   Inzwischen hatte Christoph die aktuelle DZ durchforstet und sagte irritiert. »Diese Woche suchen sie jedenfalls eine Gottheit.«  

 

*

 

   Manni war bei der Bundesligakonferenz plötzlich eine Art  Erleuchtung gekommen. Erst war es eine Idee. Dann schlug er noch einmal die Ankündigung der Vorwoche auf, durchforstete danach die folgenden Ausgaben, wurde fündig, bemühte das Internet und sagte zu sich selbst: »Na bitte, so schwierig war es doch überhaupt nicht.« Er füllte das Anmeldeformular aus, gab seiner ›Gruppe‹ den Namen Einzelkämpfer und trug das Lösungswort in die dafür vorgesehene Zeile ein.

 

*

 

   Währenddessen brüteten Tom, Anna, Marie und Jule noch über der Herausforderung. »Gottheit ist einfach nicht eindeutig«, klagte Marie. »Gibt es denn nicht noch einen zweiten Hinweis?«

   Jule, die ja vor einer Woche noch in den USA gewesen war, hatte sich die Ankündigungsseite ihrer Mutter vom letzten Samstag geschnappt und las die aufmerksam. »Warum ist da Jan Wellem abgebildet? Vielleicht hat der Gott was mit dem Kurfürsten zu tun.«

   Ihre Mutter schüttelte den Kopf. »Im Gegenteil. Ich habe mit meinem Ex-Chef abgesprochen, welches Bild wir zur Illustration nehmen. Er sagte, dass Jan Wellem zwar etwas mit Düsseldorf, aber nichts mit diesem Rätsel zu tun hat und deshalb auf der Seite ungefährlich ist.«

   Jule las noch immer aufmerksam den Text. Hier steht wörtlich: »Heute werden die Bedingungen veröffentlicht. In der kommenden Woche geht es dann los. In der nächsten Samstagsausgabe finden Sie die erste Aufgabe.«

   Anna nickte. »Dieser Textteil stammt von Darius selbst. Er hat Wert auf die genaue Formulierung gelegt.«

   Tom legte seine Stirn in Falten. »Vielleicht haben wir einen Fehler gemacht. Wir sind bisher davon ausgegangen, dass es sich um zwei Zeitpunkte handelt, nämlich letzten Samstag die Bedingungen und am Samstag darauf, sprich heute, die Frage. Was wäre, wenn es aber drei Termine wären, letzten Samstag, in der darauffolgenden Woche irgendwann und dann erst wieder an diesem Samstag?«

   Jule sah ihn verwirrt an. Aber Marie hatte verstanden, was er vermutete. »Du meinst, das Rätsel hat im Laufe der Woche schon angefangen und es hat irgendwelche Hinweise gegeben?«

   »Aber das müsste Mama doch wissen. Sie betreut das doch in der Redaktion«, gab Jule zu bedenken.

   »Nicht unbedingt«, sagte Anna. Darius arbeitet noch mit einem technischen Redakteur zusammen, der die Anweisung hat, auf Darius Wünsche bedingungslos einzugehen und darüber den Mund zu halten.«

   Marie holte den Stapel Zeitungen, der auf die letzte Reise zum Altpapiercontainer wartete, aus der Besenkammer. Zusammen mit Jule sortierte sie die Ausgaben der letzten Woche aus und begann mit dem Studium der alten Zeitungen.

   »Langweilig«, sagte Jule verdrossen. »Soll ich vielleicht zum Bäcker gehen und Kuchen holen?« Niemand antwortete. Seufzend griff sich auch Jule wieder ihre Ausgabe. Sie wusste überhaupt nicht, nach was sie suchen sollte. Sie konnte doch jetzt nicht jeden Artikel lesen. Gelangweilt überflog sie einen Bericht über die Bundeskanzlerin in der Türkei.

   »Ich denke, wir sollten uns auf den Lokalteil konzentrieren«, sagte Marie. »Schließlich ist das ein Düsseldorf-Rätsel.«

   Anna nickte. »Aber vergesst den lokalen Sport- und Kulturteil nicht.«

   Dankbar legte Jule den Politikteil beiseite und schnappte sich den nächsten Stoß Papier. Im Düsseldorfer Schauspielhaus hatte es in der vergangenen Woche die Premiere eines Ibsen-Stücks gegeben. Jule seufzte, las aber brav die laue Zustimmung des Rezensenten. Das Ganze hatte überhaupt nichts mit Gott zu tun.

   Eine Ausstellung im Ehrenhof wurde angekündigt. Hoffentlich würde sie da nicht mit ihrem Kunst-Grundkurs hingeschickt. Ihr Kunstlehrer liebte Ausstellungen. Was hatte das Foto eines Adventskranzes mit dieser Ausstellung zu tun?

Sie las ›Viele Kerzen leuchteten auch 24 Stunden später noch heller am zweiten Advent 1978.‹ Sie las noch einmal den Ausstellungs-Artikel gründlich durch. Keine Spur von Advent. »Ich glaube, ich habe was«, sagte sie aufgeregt.

   »Das ist zumindest merkwürdig«, meinte auch Tom, während Marie bereits ›Zweiter Advent 1978‹ in ihr Handy eingab.

   »Gottheit und Advent haben beide etwas mit Kirche zu tun. Vielleicht ist ja eine Kirche in Düsseldorf gesucht«, mutmaßte Anna.

   »Am zweiten Advent 1978 gibt es nichts bei Google«, stellte Marie enttäuscht fest.

   »Ich glaube trotzdem, wir sind auf der richtigen Spur«, meinte Tom. »Gib doch mal zweiter Advent 1978 und Düsseldorf ein. Vielleicht ist hier irgendetwas passiert.«

   Marie tippte konzentriert.

   »Vielleicht sollten wir mal das Datum recherchieren. Wann war denn der zweite Advent?«, fragte Anna. Diesmal stellte Jule ihrem Handy diese Frage. Der ewige Kalender brachte das Datum zutage. »Am Sonntag, den 10. Dezember.«

   »Schade«, sagte Marie mit Blick auf ihr Smartphone. »Am 9.12.1978 hat die Fortuna Bayern München mit 7:1 geschlagen. Aber das kommt ja nicht hin.«

   »Moment mal«, grübelte Tom. »Hier steht, dass die Kerzen auch 24 Stunden später noch hell leuchteten. Das Ereignis muss also am Samstag stattgefunden haben.«

   »Aber was hat ein Fußballspiel mit einer Gottheit zu tun?«, fragte Anna.

   »Man spricht doch vom Fußballgott«, stellte Tom in den Raum.

   »Meine Gottheit sind wir blöd«, strahlte Marie. »Die Lösung ist natürlich Fortuna, die Glücksgöttin. Damit haben wir dann auch direkt die Verbindung zu Düsseldorf hergestellt. Und darum soll es doch im Rätsel schließlich gehen.«

 

*

 

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