Bombenidee

Tatort Düsseldorf 5

427 Seiten

 

Taschenbuch

ISBN 978-1724563118

 

E-Book

 

 

 


Leseprobe

 

Donnerstag, 08.06.2017

 

Es war genau 11.28 Uhr, als dem fassungslosen Floristen Tim Werner der sorgfältig gebundene Trauerkranz aus der Hand fiel. Farblich passte die in Rot und Weiß gehaltene Kreation perfekt zur Blutlache, in der sie gelandet war.

   »O mein Gott«, schrie Tim, seine Wortwahl unwillkürlich der Umgebung anpassend. Sein Schrei hallte von den Wänden des Mausoleums wider. Er rannte zurück durch den kleinen Vorraum in das Kirchenschiff von St. Andreas und rief schrill und laut um Hilfe.

   Gehört wurde er von der einzigen zu diesem Zeitpunkt anwesenden Person, Ursula Knippenberg, einer vernünftigen Endfünfzigerin. Sie verkörperte so ziemlich all das, was die katholische Kirche weiblichen Gemeindemitgliedern an Ämtern zugestand, wenn sie dem Messdieneralter entwachsen waren. Ursula Knippenberg war Mitglied des Gemeinderates, Kirchenführerin und Leiterin von insgesamt drei Gesprächskreisen. St. Andreas war ihr zweites Zuhause.

   Sie war gerade damit beschäftigt, den Ständer mit den Broschüren neu zu bestücken, als sie den Blumenboten hysterisch schreien hörte. Sie runzelte unwillig die Stirn. Warum machte der junge Mann solch einen Lärm? 

   Sie stellte sich ihm in den Weg und fragte kühl: »Was ist denn los? Warum schreien Sie so?«

   »Es ist Jan Wellem. Er ist aus seinem Sarg gekommen und erstochen worden. Überall ist Blut.«

   »Jetzt beruhigen Sie sich erst einmal. Das ist doch Unsinn. Glauben Sie etwa, er ist von den Toten auferstanden?«

   Tim Werner war kreidebleich und konnte nicht denken im Moment. Aber selbst in einem ruhigen Augenblick hätte er sich vermutlich nicht von Ursula Knippenberg in einen theologischen Diskurs verstricken lassen über die Frage, wer glaubhaft wiederauferstehen konnte und wer nicht.

   »Kommen Sie schon mit. Ich zeige es Ihnen«, drängte er.

   Frau Knippenberg hatte keine Lust auf weitere Diskussionen mit einem offensichtlich Verrückten und folgte dem jungen Mann ins Mausoleum, um ihm zu beweisen, dass der Kurfürst nach wie vor in seinem Sarg ruhte.

   »Da. Sehen Sie selbst«, sagte Tim Werner mit einer gewissen Genugtuung in der Stimme. 

   Und Ursula Knippenberg tat genau das. Ihr entfuhr unwillkürlich ein durchaus erschrockener Laut. Dann sagte sie: »Meine Güte« und bekreuzigte sich. 

   Das Mausoleum der Andreaskirche ist ein sechseckiger Raum. Eine Seite des Sechsecks bildet den Eingang. An den übrigen fünf Seiten stehen Särge. Genau gegenüber vom Eingang befindet sich der größte und prächtigste Sarkophag, der die sterblichen Überreste des Kurfürsten Johann Wilhelm enthält oder enthielt. Die Vergangenheitsform war zu diesem Zeitpunkt die Frage, die im Mausoleum stand. Die übrigen Särge dagegen dienen seiner Verwandtschaft nach wie vor unumstritten als jeweilige Ruhestätte.

   Vor Jan Wellems Sarg lag ein Mann in einer Blutlache. Ein Messer ragte aus seiner Brust. Es gehörte also wenig Vorstellungskraft dazu sich auszumalen, wie dieser Mensch ums Leben gekommen war. Der Mann trug ein barockes Kostüm, bestehend aus einer Kniebundhose, weißen Strümpfen und Schnallenschuhen mit einem etwas erhöhten Absatz. Sein langer Gehrock war aus dunkelgrünem Brokat mit Goldbesatz. Seine Allongeperücke war vermutlich beim Kampf mit seinem Mörder verrutscht und bedeckte mehr als die Hälfte seines Gesichtes. 

   Vor ihm in einer Blutlache lag der rot-weiße Trauerkranz, der Tim Werner aus den Händen gerutscht war. Auf einer Schleife stand: 

 

Jan Wellem zum Gedenken

an seinen 301. Todestag

 

Die Düsseldorfer Jonges

 

   »Kommen Sie, wir müssen die Polizei rufen«, sagte Ursula Knippenberg, bei der die Vernunft in diesem Moment den Sieg über die Panik errungen hatte. Tim Werner folgte ihr ins Kirchenschiff. Er zitterte noch am ganzen Körper, begann aber auch langsam wieder, klare Gedanken zu fassen. 

   »Ich habe ein Handy«, sagte er und zog es aus seiner Hosentasche. »So geht es am schnellsten.« Er wählte den Notruf, reichte dann aber das Mobiltelefon an Frau Knippenberg weiter. »Machen Sie das besser. Ich weiß kaum, was ich sagen soll.«

   Frau Knippenberg fasste das Gerät mit spitzen Fingern an, schöpfte aber sofort Vertrauen, als eine Stimme sagte: »Polizei, Notruf. Was kann ich für Sie tun?«

   »Mein Name ist Knippenberg. Ich rufe an aus der Andreaskirche in der Düsseldorfer Altstadt. Hier liegt ein Toter. Er hat ein Messer in der Brust. Können Sie bitte sofort kommen?«

   Es dauerte nicht einmal zehn Minuten, bis zwei Uniformierte die Kirche betraten. Es handelte sich um einen jungen Mann und eine ausgesprochen hübsche Frau mit einem langen blonden Zopf unter der Uniformmütze. Frau Knippenberg sah die beiden Polizisten strafend an. Konnten sie nicht wenigstens im Haus Gottes die Kopfbedeckung abnehmen? Andererseits gab es Wichtigeres in dieser Situation. 

   »Da hinten im Mausoleum«, sagte sie und deutete in die Richtung. »Bitte seien Sie mir nicht böse, wenn ich hier warte. Ich bin so etwas nicht gewöhnt.«

   Die beiden Polizisten gingen nach vorne zum Altar, hielten sich dort links und verschwanden in dem kleinen Flur zwischen Kirche und Mausoleum. Tim Werner, der vor der Tür eine dringend benötigte Zigarette geraucht hatte - einen Flachmann führte er zu seinem Bedauern nicht bei sich - betrat wieder die Kirche und wartete zusammen mit Frau Knippenberg auf das Wiederauftauchen der Beamten. 

   Sie kamen recht schnell zurück. Die junge Beamtin sagte mit gerunzelter Stirn: »Da ist kein Toter.« 

   Ursula Knippenberg und Tim Werner starrten sie verständnislos an. 

   »Sie können ihn doch unmöglich übersehen haben«,  murmelte Tim. »So groß ist der Raum doch nicht.«

   »Jetzt kommen Sie mal mit und zeigen uns, was Sie gemeint haben«, schlug der junge Polizist vor. Alle vier gingen ins Mausoleum. 

   »Das gibt es doch nicht«, japste Frau Knippenberg, als sie den Raum betrat. »Wo ist er denn hin? Eben lag er hier noch.«

   Tim Werner nickte bestätigend. »Mausetot«, sagte er.

   Der Mann im Barock-Kostüm war verschwunden. »Schauen Sie«, insistierte Frau Knippenberg. »Da ist noch die Blutlache.«

   »Und der Kranz«, ergänzte Tim.

   Der Polizist beugte sich über die dunkle Pfütze und schnupperte. Der typisch metallische Blutgeruch hing in der Luft. »Und Sie sind sich beide ganz sicher, dass hier ein Mensch gelegen hat, von dem Sie zumindest angenommen haben, er sei tot?«

   Ursula Knippenberg und Tim Werner nickten im Gleichklang wie ein makabres Ballett.

   »Na gut«, sagte der Polizist und verständigte die Kripo. Diese Geschichte überstieg seine Handlungskompetenz. Aber gespannt war er schon darauf, wie die Kollegen von der Kriminalpolizei das Rätsel angehen würden.

 

*

 

Anna seufzte. An diesem freien Tag hätte sie sich eine Menge Dinge vorstellen können, die sie lieber getan hätte, als ihre heutige To-Do-Liste abzuarbeiten. 

   Anna brauchte ein Outfit für eine Hochzeit: ein Kleid und je nach Farbe des Kleides auch noch Schuhe und eine Handtasche. Weiter suchte sie nach einer Glückwunschkarte für das junge Paar, in der man auch das Geldgeschenk diskret verstauen konnte. Diese Karte würde sich vermutlich als das Geringste der Shopping-Probleme herausstellen. Außerdem hatte Tom sie gebeten, ihm ein weißes Hemd zu besorgen, auch das vermutlich keine besondere Herausforderung. Aber das blöde Kleid kostete sie Nerven.

   Anna Heine, Lokalredakteurin bei der Düsseldorfer Zeitung, musste natürlich von Berufs wegen gelegentlich aufgebrezelt zu irgendwelchen Terminen gehen. Aus diesem Grund hingen auch drei, wie sie fand, bildschöne Hosenanzüge in ihrem Schrank. 

   Ihre Töchter Marie und Jule hatten jedoch entschieden, man könne unmöglich im Business-Look auf eine kirchliche Hochzeit gehen und sie zum Erwerb eines Kleides verdonnert. Für den Einkauf wurde es langsam Zeit, denn am Samstag in zwei Wochen würden sich Elisabeth und Christoph Hill in der Neanderkirche das Jawort geben. 

   Anna war vor zwei Monaten, als sie die Karte aus dem Briefkasten gefischt hatte, total überrascht gewesen, zu diesem Ereignis eingeladen worden zu sein. So eng war der Kontakt zu den Verlobten nun wirklich nicht. Elisabeth hatte jedoch in die Einladung noch eine persönliche Botschaft gelegt, in der sie um Annas und Toms Kommen bat, weil ohne die beiden diese Hochzeit nicht hätte stattfinden können. Christoph und sein Vater Friedrich waren vor zwei Jahren im Rahmen einer mysteriösen Schnitzeljagd beinahe einem Mörder zum Opfer gefallen. Hauptkommissar Tom Brecht von der Kripo Düsseldorf und Anna hatten dies in letzter Minute verhindern können.  

   Anna seufzte erneut. Auf die Hochzeit freute sie sich sogar. Und wenn sie das Kleid einmal hätte, könnte sie es auch zu ihrem 50. Geburtstag anziehen, der drohend immer näher rückte. Sie fütterte ihren Kater Piet, sah sich in der Wohnung um, ob es noch etwas gab, das sie vernünftigerweise aufhalten könnte und beschloss dann, sich nicht länger lächerlich zu machen, sondern sich dem Feind - sprich den Verkäuferinnen der einschlägigen Damenoberbekleidungsgeschäfte - zu stellen.

   Etwa eine Stunde später stand sie zweifelnd vor dem Spiegel ihrer Umkleidekabine und sah eine Frau in einem netten braunen Kleid mit dazu passender beigefarbener Jacke, eine Frau, deren Gesicht ihr zwar bekannt vorkam, deren Rest ihr jedoch absolut fremd war. Sah das jetzt gut aus oder war das langweilig oder im Gegenteil überkandidelt? Sie hatte so überhaupt kein Gefühl dafür. 

   Nach dem sechsten Outfit begann sie zu schwitzen. Ihr Rücken schmerzte und sie verfluchte Elisabeth und Christoph. Die Verkäuferin reichte ihr gerade eine hellblaue Kreation in einer etwas größeren Version und lobte überschwänglich das gelbgeblümte Etuikleid, in dem sie sich gerade unentschlossen vor dem Spiegel hin- und herdrehte.

   »Das sieht doch super aus«, sagte die Verkäuferin. 

   »Ist das nicht ein bisschen zu jugendlich?«

   »Ach was. Sie können das doch tragen.«

   »Ich weiß nicht.«

   Eine weitere Stunde später hatte sie sich in einem anderen Laden für einen Kompromiss in Nilgrün entschieden. Sie fühlte sich halbwegs wohl darin. Es war weder zu langweilig noch zu jugendlich, also gekauft und Haken dran. Aber es würde nicht leicht sein, passende Schuhe zu finden. Also kaufte sie zunächst Toms weißes Hemd und die Karte, beides innerhalb von ein paar Minuten. Dann verließen sie Mut, Kraft und der letzte Rest von Shopping-Lust. Sie ging nach Hause und würde den Rat ihrer Töchter einholen, was die Schuh-Frage anbelangte.

 

*

 

Tom betrat zu diesem Zeitpunkt St. Andreas, eine Kirche, die er sehr mochte. Er hatte vor einiger Zeit einmal eine Führung durch die in Weiß und Gold gehaltene Barockkirche mitgemacht. Frau Knippenberg kam ihm vage bekannt vor. Entweder sie oder eine ziemlich ähnliche Person hatte ihm die Schönheiten der Residenzkirche nahegebracht.

   Die Streifenpolizisten und die beiden Zeugen hatten in einer der hinteren Kirchenbänke auf die Kripo gewartet. Sie unterhielten sich leise, als Tom zusammen mit seinem Kollegen Axel König auf sie zukam und sich vorstellte. Der junge Streifenbeamte gab Tom und Axel die Hand und bat die beiden, ihm ins Mausoleum zu folgen.

   »Erzählen Sie erst einmal«, sagte Tom auf dem Weg durch das Kirchenschiff. »Wer hat Sie verständigt?«

   »Die ältere Dame. Sie heißt Knippenberg und ist hier irgendwie zuständig für die Kirche. Der junge Mann neben ihr heißt Werner und ist Blumenbote. Die Düsseldorfer Jonges stiften wohl immer Kränze zum Geburtstag und Todestag Jan Wellems. So einen Kranz wollte er vorhin ins Mausoleum bringen. Dort hat er angeblich einen Toten gefunden, und nicht nur irgendeinen, sondern Jan Wellem persönlich. Das war jedenfalls sein erster Eindruck. Der Kurfürst lag erstochen in einer Blutlache. Herr Werner hat dann Frau Knippenberg zu Hilfe geholt. Die hat den Toten auch gesehen und uns angerufen. Als wir kamen, gab es allerdings keine Leiche mehr, nur noch eine Blutlache.«

   »Hier entlang bitte«, sagte die bezopfte Polizistin und deutete auf die Tür zum Mausoleum.

   Tom und Axel betraten den Raum. Die Blutlache trocknete langsam, war aber nicht zu übersehen. Tom näherte sich ihr vorsichtig, ging in die Knie und sog den Geruch ein. 

   »Das ist tatsächlich Blut«, stellte er fest. »Ob es von einem Menschen stammt, muss das Labor überprüfen. Axel, ruf bitte die Technik zu Hilfe. Wir müssen das abklären, egal, ob es sich um einen Mord handelt oder um einen schlechten Scherz.«

   Tom sah sich kurz um. Der Raum war offensichtlich leer bis auf die Sarkophage, den Kranz und das Blut. »Könnten Sie sich mal um den Schlüssel kümmern?«, bat er die Polizistin. Die nickte und kam kurz darauf mit Frau Knippenbergs Schlüsselbund zurück. Das Mausoleum wurde abgeschlossen und die Polizisten gingen zurück zu Tim Werner und Ursula Knippenberg.

   »Wo können wir uns in Ruhe unterhalten?«, fragte Tom. 

   »Im Gemeindebüro. Ich muss auch die Patres informieren«, sagte Frau Knippenberg gequält. »Die wissen ja noch gar nicht, was sich hier abgespielt hat.«

   »Wir auch nicht«, sagte Axel König lakonisch.

   »Haben Sie auch für die Kirche einen Schlüssel?«, fragte Tom. Ursula Knippenberg nickte und deutete auf ihr Schlüsselbund. 

   »Dann schließen Sie jetzt bitte ab.«

   Die Gruppe überquerte die Straße und betrat das Gemeindezentrum. Frau Knippenberg führte sie in einen kleinen Konferenzraum und verschwand kurz, um die Hausherren von dem unerhörten Vorfall in Kenntnis zu setzen. 

   »Wie sind Sie eigentlich auf die Idee gekommen, dass es sich bei dem Toten um Jan Wellem handelt?«, fragte Tom den Blumenboten.

   »Weil er genauso aussah wie auf dem Denkmal am Markt. Er hatte eine Perücke auf und Kniehosen an und Schnallenschuhe und ein Brokatjackett. Außerdem lag er direkt neben seinem Sarg. Wer hätte es denn sonst sein sollen?«

   »War der Sargdeckel offen«, wollte Axel wissen.

   »Nein, das nun wirklich nicht. Wissen Sie, wie schwer der ist?«, fragte Tim ohne Rücksicht auf die Gesetze der Logik.  

   »Beschreiben Sie mal, wie er da gelegen hat, auf dem Bauch oder auf dem Rücken oder wie?«

   »Er lag auf dem Rücken, so ein bisschen zur Seite gedreht. In seiner Brust steckte ein Messer und überall auf der Jacke war Blut. Sie haben ja die Pfütze gesehen.«

   »Konnten Sie sein Gesicht erkennen?«

   »So halb. Es war auf jeden Fall ein Mann. Aber die Perücke war total verrutscht und hing ihm ins Gesicht.«

   »Und Sie sind sicher, dass er tot war?«

   »Absolut sicher.«

   »Haben Sie seinen Puls gefühlt?«

   »Um Himmels willen, nein. Aber glauben Sie mir, er lebte nicht mehr. Er hat sich keinen Millimeter bewegt. Er hat nicht gestöhnt oder so etwas. Er lag in einer riesigen Blutlache und hatte ein Messer in der Brust. Toter geht es ja wohl nicht.«

   »Entweder er hat sich hinterher bewegt oder er ist bewegt worden, und zwar nicht nur um Millimeter«, stellte Axel fest.

   Tim Werner nickte. »Sie haben natürlich recht. Schließlich ist er nicht mehr da. Aber glauben Sie mir, der konnte sich nicht mehr allein bewegen. Der ist von irgendjemandem fortgeschafft worden.«

   Frau Knippenberg kam mit einem Tablett voller Kaffeebecher zurück in den Raum.

   »Die Patres sind alle unterwegs. Ich konnte bisher niemanden erreichen. Die Sekretärin meinte, wir könnten wahrscheinlich alle einen Kaffee vertragen.« Die Tassen wurden dankbar entgegengenommen. Tim Werner zitterte immer noch ein wenig. Er hatte Mühe, seinen Becher unfallfrei zum Mund zu bekommen. 

   »Die Andreaskirche wird doch von den Dominikanern geleitet?«, fragte Tom. 

   Frau Knippenberg nickte. »Im Moment sind es sieben Brüder, die hier im Konvent leben und arbeiten. Sie werden fassungslos sein.«

   »Frau Knippenberg, woran haben Sie gemerkt, dass der Mann im Mausoleum tatsächlich tot war? Hätte er nicht schwer verletzt und bewusstlos sein können?«

   »Sie meinen, weil er kurz danach verschwunden ist? Gott, ich weiß es nicht. Ich mache mir auch schon Vorwürfe, dass ich nicht noch versucht habe, seinen Puls zu fühlen und eventuell Erste Hilfe zu leisten. Was ist, wenn er doch noch gelebt hat? Aber eigentlich bin ich zu hundert Prozent sicher, er war tot. Ich helfe gelegentlich in einem Hospiz. Glauben Sie mir, man merkt, wenn ein Mensch tot ist.«

   Tom hatte da bereits andere Erfahrungen gemacht in seiner langen Berufskarriere.

   »Aber mir ist etwas anderes eingefallen, was Ihnen sicher weiterhilft«, sagte Frau Knippenberg plötzlich.

   »Und das wäre?«

   »Ich glaube, ich kenne den Toten. Wenn mich nicht alles täuscht, handelt es sich um Martin Maurenbrecher. Jemand anders kann es kaum gewesen sein. Herr Maurenbrecher ist Stadtführer. Er läuft als Kurfürst verkleidet durch die Altstadt und bietet Touren zum Thema Jan Wellem an. Ich kenne ihn, weil diese Führungen immer in unserem Mausoleum enden, wo Jan Wellem begraben ist.«

   »Das ist interessant«, sagte Tom. »Sie kennen nicht zufällig seine Adresse.«

   »Nicht genau. Er wohnt hier in der Altstadt. Ich glaube auf der Neubrückstraße. Da bin ich aber nicht ganz sicher.«

   »Das bekommen wir schnell heraus«, sagte Tom und nickte Axel zu. Der verließ den Raum, um die Anschrift zu ermitteln. Gleichzeitig kam ein Kollege der Spurensicherung herein, um sich den Schlüssel für Kirche und Mausoleum abzuholen. Tom bat Ursula Knippenberg und Tim Werner um einen Moment Geduld und begleitete die drei Kollegen, die er gut kannte, zum Fundort der verschwundenen Leiche. 

   »Noch ist ziemlich unklar, was hier passiert ist. Variante eins: Es hat eine Tötung stattgefunden und irgendwer hat die Leiche entfernt, zu seinem Pech aber erst, nachdem sie gesehen worden ist. Variante zwei: Der Mann war nur schwer verletzt und hat sich irgendwie noch selbst wegschleppen können. Variante drei: Irgendjemand spielt hier ein makabres Spiel mit uns und das Blut stammt aus einer Metzgerei.«

   Fabian Jerschke, der Chef des Spurensicherungsteams, nickte. Er und Tom arbeiteten seit knapp zwanzig Jahren reibungslos zusammen. »Wir werden besonders auf Blutspuren achten. Egal, welche deiner Varianten stimmt, niemand kann in einer solchen Lache gelegen haben, und sich dann ohne weitere Spuren zu hinterlassen, entfernen oder entfernt werden. Ich melde mich bei dir, sobald wir etwas gefunden haben.«

   Tom ließ die Kollegen allein. Er wusste aus Erfahrung, dass sie sich am liebsten ungestört ihren Tatorten widmeten. Also ging er zurück ins Gemeindezentrum. Axel König hatte inzwischen Martin Maurenbrechers Adresse ermittelt. Er wohnte nicht auf der Neubrückstraße, sondern auf der parallel verlaufenden Liefergasse. Tom verabschiedete die uniformierten Kollegen von der Altstadtwache und wandte sich dann noch einmal Ursula Knippenberg und Tim Werner zu. 

   »Herr Werner, ich denke, Sie können jetzt erst einmal gehen. Wir wissen ja, wo wir Sie erreichen können. Sie müssen in den nächsten Tagen noch Ihre Aussage unterschreiben. Außerdem kann es sein, dass wir Sie noch zu Details befragen müssen. Aber zunächst müssen wir mal so weit wie möglich abklären, was überhaupt passiert sein könnte. Vielen Dank. Wir melden uns bei Ihnen.«

   Die Aussicht auf eine Zigarette in den nächsten paar Minuten ließ den Floristen förmlich aufblühen. Hastig verließ er das Gemeindezentrum und überlegte, wie er seinem Chef diese Geschichte und seine lange Abwesenheit vom Laden glaubhaft würde vermitteln können. 

   Ursula Knippenberg sah Tom und Axel erschöpft an. »Ich bin fix und fertig«, sagte sie. »So etwas erwartet man ja nun wirklich nicht. Und dann auch noch in einer Kirche. Was sind das nur für Menschen, die so etwas tun?«

   »Sie können auch gleich nach Hause gehen«, tröstete Tom. »Ich möchte nur noch eins wissen: Wie sicher sind Sie, dass es sich um Herrn Maurenbrecher handelt? Haben Sie ihn wirklich erkannt oder schließen Sie nur aus dem Kostüm, dass er es gewesen sein könnte? Und was wissen Sie sonst noch über ihn? Haben Sie ihn genauer gekannt?«

   Frau Knippenberg ging in sich. »Hundertprozentig erkannt habe ich ihn wohl nicht. Ich hatte solch einen Schock. Aber er könnte es ganz bestimmt gewesen sein, nach allem, was ich so von ihm gesehen habe. Andererseits hat die Perücke sein Gesicht größtenteils verdeckt. Also, ich glaube, er war es, aber einen Eid würde ich darauf nicht schwören. Gekannt habe ich ihn mehr oder weniger nur vom Sehen. Wir haben uns gegrüßt und gelegentlich ein paar Worte miteinander gewechselt. Das war alles.«

   »Waren Sie heute Morgen, bevor Herr Werner das Opfer gefunden hat, schon einmal im Mausoleum?«

   »Ja, ich bin so gegen zehn gekommen und habe die Kirche und die Grabkammer aufgeschlossen. Dabei habe ich einen flüchtigen Blick ins Mausoleum geworfen. Um diese Zeit lag dort definitiv noch niemand. Dann war ich aber noch kurz im Gemeindebüro, bevor ich wieder in die Kirche gegangen bin.«

   Auch Frau Knippenberg wurde verabschiedet. Tom und Axel machten sich zu Fuß auf den Weg zur Liefergasse, die nur ein paar Minuten von der Andreaskirche entfernt liegt. Sie klingelten, aber niemand schien zu Hause zu sein. 

   Tom drückte auf die beiden anderen Klingeln des Hauses. Der Türöffner summte und eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm erwartete sie an der Wohnungstür des Hochparterre. 

   Tom zückte seinen Ausweis, stellte Axel und sich selbst vor und sagte: »Wir müssten dringend mal den Herrn Maurenbrecher sprechen. Leider macht er uns nicht auf. Wissen Sie zufällig, wo er sein könnte, Frau Vowinkel?« Den Namen hatte er einem großen, bunten Salzteigschild entnommen, auf dem ›Hier leben Ben, Julia und Dirk Vowinkel‹ zu lesen war. Ben – oder war es Dirk? – begann zu brüllen. Julia rammte ihm einen Schnuller in den Mund. Der Erfolg rechtfertigte das rigorose Mittel. Es herrschte wieder Ruhe im Treppenhaus. 

   »Keine Ahnung, wo Martin ist. Vielleicht ist er gerade auf Tour. Er ist Stadtführer. Oder Sie versuchen es mal im Stadtarchiv. Dort arbeitet er auch, allerdings nicht Vollzeit. Ich weiß also nicht, ob er gerade da ist.«

   »Sie haben nicht zufällig einen Schlüssel für die Wohnung, Frau Vowinkel?«

   »Und wenn? Haben Sie einen Durchsuchungsbeschluss?«

   »Nein, haben wir nicht. Wir würden nur gern feststellen, dass es Herrn Maurenbrecher gut geht. Wenn Sie also vielleicht mal nachschauen könnten, ob alles in Ordnung ist.«

   Julia Vowinkel schüttelte den Kopf. »Normalerweise habe ich einen Schlüssel, aber Martin hat ihn sich letzte Woche bei mir abgeholt, weil er seinen irgendwo liegengelassen hatte. Er hat ihn mir bisher nicht zurückgegeben. Aber wenn es wirklich wichtig ist, gebe ich Ihnen die Nummer seiner Freundin. Die hat einen Schlüssel.« Sie ging in ihre Wohnung und kam kurz danach mit ihrem Handy zurück. »Karla Brandt«, sagte sie und diktierte Tom eine Mobilfunknummer.

   Karla Brandt meldete sich und versprach, in ungefähr einer Viertelstunde in Martins Wohnung zu sein. Sie reagierte am Telefon nervös und – wie Tom fand – übermäßig aufgeregt auf die Ankündigung, man wolle einfach nur mal nachsehen, ob mit Martin alles in Ordnung sei. 

   Julia Vowinkel bat Tom und Axel in ihre Wohnung und bot ihnen einen Kaffee an. »Was ist denn eigentlich los mit Martin?«, fragte sie besorgt. 

   »Wir wissen es ganz ehrlich selbst nicht«, antwortete Tom. »Wir haben einen Hinweis erhalten, dass er möglicherweise verletzt sein könnte. Und dem müssen wir nun nachgehen. Wahrscheinlich ist überhaupt nichts an der Sache dran.«

   Karla Brandt beeilte sich wirklich. In nicht einmal zehn Minuten war sie zur Stelle und klingelte wie vereinbart bei Familie Vowinkel. Julia Vowinkel umarmte sie und fragte: »Was ist denn bloß los, Charly?« Karla schüttelte hilflos den Kopf. Sie war eine hübsche, fast magere Blondine mit großen Augen. Ungeschminkt sah sie ein klein wenig farblos aus.

   Sie war offenbar extrem beunruhigt. Sie wirkte fahrig und nervös und ließ erst einmal den Wohnungstürschlüssel fallen beim Versuch, ihn ins Schlüsselloch zu stecken. Tom nahm ihn ihr aus der Hand und schloss auf. In der Tür rief er: »Hallo, Herr Maurenbrecher. Mein Name ist Tom Brecht. Ich bin Hauptkommissar bei der Düsseldorfer Kripo. Sind Sie in der Wohnung? Dürfen wir hereinkommen?«

   Es blieb still. 

   Tom, Axel und Karla Brandt betraten die Wohnung. Karla rief mit dünner Stimme: »Martin? Martin, wo bist du?«

   Keine Antwort. 

   Die Wohnung war nicht groß. Sie bestand aus Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche, Bad und einem kleinen Flur. Kein Mensch war da. Trotzdem sahen sich Tom und Axel alarmiert an. Es sah aus, als sei eine Bombe eingeschlagen. Schubladen waren aus dem Wohnzimmerschrank herausgerissen worden, der Inhalt lag auf dem Fußboden verstreut. Eine Blumenvase lag umgestoßen auf der Seite. Ein paar weiße Lilien welkten bereits. Die Wasserpfütze bildete einen dunklen Fleck auf dem Teppich. In der Küche ein ähnliches Bild: Glas- und Porzellanscherben bedeckten den Boden. Nudelpackungen, Zucker- und Mehltüten waren aufgerissen und ihr Inhalt hatte sich zu einem unappetitlichen Gemisch auf den Fliesen verteilt. Zwei Stühle lagen umgestoßen auf dem Boden. Im Schlafzimmer lagen die Kleidungsstücke auf einem großen Haufen halb auf dem Bett, halb auf dem Fußboden. Bilder waren von den Wänden gerissen worden. Kurz: Es herrschte Chaos. Die Kollegen vom Einbruchsdezernat hätten bei diesem Anblick etwas von einem ganz normalen Alltagsgeschäft geäußert. Für Tom und Axel war so etwas nicht unbedingt das Übliche. 

   »Um Himmels Willen, was ist denn hier los?«, stammelte Karla Brandt fassungslos. »Und jetzt sagen Sie mir endlich, was mit Martin ist. Ihm ist doch bestimmt etwas passiert. Sonst wären Sie doch nicht hier.«

   »Frau Brandt, wir wissen nicht, was geschehen ist. Haben Sie irgendeine Idee, wo er sein könnte?«, fragte Tom.  »Hat er Ihnen gesagt, was er heute vorhat? Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?«

   »Ich habe ihn gestern am späten Nachmittag hier in seiner Wohnung besucht. Da war noch alles in Ordnung. Ich bin von hier aus zur Arbeit gegangen und nach Dienstschluss zu mir nach Hause. Da war ich noch, als Sie mich vorhin angerufen haben.«

   »Wo arbeiten Sie?«

   »Im Schauspielhaus. Ich bin Gewandmeisterin, also für die Kostüme zuständig. Deshalb habe ich oft abends Dienst während der Vorstellungen.«

   »Wann genau sind Sie von hier aus weggegangen?«

   »Oje. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut. Es muss so zwischen sechs und halb sieben gewesen sein. Ich habe noch etwas eingekauft und bin dann zum Theater Central am Hauptbahnhof gelaufen. Das Schauspielhaus ist ja wegen der Renovierung geschlossen.« 

   »Wann fing Ihr Dienst an?«

   »Um halb acht. Ich war aber etwas früher da. Und jetzt sagen Sie mir doch bitte endlich, was Sie über Martin wissen.«

   Tom sah Martin Maurenbrechers Freundin prüfend an. Sie stand offenbar kurz vor einem Zusammenbruch vor lauter Sorge. Entweder er wiegelte ihre Frage ab oder er musste ihr zumindest einen Teil der Wahrheit sagen. 

   »Herr Maurenbrecher ist offenbar verletzt im Mausoleum von St. Andreas gesehen worden. Er trug ein Jan Wellem-Kostüm, war also vermutlich bei seiner Arbeit als Stadtführer. Kurze Zeit später, als die herbeigerufene Polizei ins Mausoleum kam, war er verschwunden. Wegen der Verletzung machen wir uns jetzt Sorgen um ihn. Und dieser Einbruch verstärkt unsere Befürchtungen, dass etwas nicht in Ordnung ist.«

   Karlas weiche Knie gaben nach. Sie schaffte es noch gerade auf einen Sessel. Axel, der in den letzten Minuten telefoniert hatte, kam wieder ins Wohnzimmer und sagte zu Tom: »Keine entsprechende Einlieferung in den Krankenhäusern. Auch nichts bei den Kollegen vom Notruf. Er ist wie vom Erdboden verschluckt.«

   »Danke, Axel. Bitte ruf den Kollegen Jerschke an. Wenn das Spusi-Team im Mausoleum fertig ist, soll es bitte hier weitermachen. Frau Brandt, wir müssen ausführlich miteinander reden. Wir brauchen alle Informationen über Herrn Maurenbrecher, die wir bekommen können. Möchten Sie lieber mit aufs Präsidium kommen oder sollen wir uns bei Ihnen zu Hause unterhalten? Vielleicht ist das angenehmer für Sie. Ich sehe ja, dass es Ihnen nicht gut geht.«

   »Nein, nein, auf keinen Fall. Ich komme mit ins Präsidium. Meine Wohnung ist momentan nicht gerade besuchertauglich aufgeräumt. Ich hatte in den letzten Tagen unheimlich viel zu tun. Das wäre mir wirklich unangenehm.«

   Tom hatte schon viele unaufgeräumte Wohnungen gesehen, aber er merkte, für Karla Brandt wäre jetzt ein Besuch der Polizei in ihrem Zuhause mit deutlich mehr Stress verbunden als ein Gespräch im Präsidium.  

   Daher fuhr er mit der Freundin des mutmaßlichen Opfers zum Jürgensplatz, während Axel bei Familie Vowinkel auf das Team der Spurensicherung warten sollte. Mittlerweile war Dirk nach Hause gekommen. Ben lag schlafend in seiner Wippe, so dass sich Axel ungestört mit Martin Maurenbrechers Nachbarn unterhalten konnte. Er vermittelte eine äußerst vorsichtige und knappe Version der Ereignisse. Das reichte völlig, um Julia und Dirk zur Zusammenarbeit zu motivieren.  

   »Er ist ein bisschen verrückt, der Martin, aber ein guter Nachbar und fast schon so ein bisschen ein Freund«, sagte Dirk, der sich nach einem kurzem Blick auf die Uhr und einer gemurmelten Entschuldigung, heute sei nun einmal kein normaler Tag, eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank geholt hatte. Axel hatte dankend abgelehnt. 

   »Erzählen Sie doch einfach mal ein bisschen von ihm. Ich habe Zeit, Ihnen zuzuhören, bis die Kollegen kommen. Und alles kann uns weiterhelfen.«

   »Martin ist ein intelligenter und witziger Typ, aber trotzdem kommt er irgendwie nicht so richtig in die Pötte, beruflich meine ich. Er ist genauso alt wie ich, 36. Wir sind nur zwei Wochen auseinander, deshalb weiß ich das so genau. Er hat halt diesen Nebenjob im Stadtarchiv und er macht seine Jan Wellem-Führungen. Und dabei hat er ein abgeschlossenes Hochschulstudium. Er ist Kunsthistoriker.«

   »Vielleicht will er ja gar keinen Ganztagsjob«, sagte Axel mit leiser Sehnsucht in der Stimme. »Manchmal nervt das auch.«

   »Nein, nein«, schaltete sich Julia Vowinkel ins Gespräch ein. »Er hatte jede Menge Pläne für die Zukunft, aber irgendetwas hat nie gepasst. Er ist nicht glücklich im Archiv, das hat er mir gesagt, aber nur von seinen Auftritten als Jan Wellem bei irgendwelchen Firmenjubiläen und seinen Führungen kann er einfach nicht leben.«

   »Aber er hat nie aufgegeben«, bestätigte Dirk. »Er schreibt zum Beispiel ein Buch über Jan Wellem. Er ist fast fertig damit und hat erzählt, ganz Düsseldorf würde staunen. Sein Buch wäre ganz schön brisant.«

   Axel erinnerte sich an die Schleife der Düsseldorfer Jonges. »Unser Kurfürst ist über 300 Jahre tot. Was will er denn da für Skandale aufdecken? Wen interessiert das denn noch?«

   Dirk nickte. »Ich wette, das ist wieder mal der wunde Punkt. Aber er hat niemandem geglaubt, der ihm das gesagt hat. Er war sicher, die Verlage würden sich um sein Manuskript reißen, wenn er damit fertig wäre. Ich fürchte, ihm hätte wieder einmal eine Enttäuschung bevorgestanden.«

   »Er war schon ganz schön fixiert auf die Düsseldorfer Stadtgeschichte und speziell auf Jan Wellem«, sagte Julia. »Denk mal an das Theater im letzten Jahr.« Sie wandte sich von Dirk zu Axel und erklärte ihren letzten Satz: »Zum 300. Todestag hat so gut wie nichts stattgefunden in Düsseldorf. Das fand ich übrigens auch schade. Wir sind natürlich durch Martin ein kleines bisschen infiziert mit dem Jan Wellem-Fieber. Er war schließlich eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Düsseldorfer Geschichte. Man hätte doch zum Beispiel ein Stadtfest veranstalten können. Martin ist damals von Pontius nach Pilatus gerannt, um etwas auf die Beine zu stellen. Aber er ist überall vor die Wand gelaufen, bei der Stadt, bei den Parteien, beim Düsseldorf-Marketing. Das hat ihn ziemlich verärgert.«

   »Das kann ich sogar verstehen«, sagte Axel. »Ich kenne mich da natürlich nicht so aus. In der Schule habe ich so einiges über Jan Wellem gehört, aber das vergisst man auch wieder. Ich hätte überhaupt nicht sagen können, von wann bis wann er gelebt hat. An mir ist der Todestag im vergangenen Jahr jedenfalls auch unbemerkt vorbeigegangen. Eigentlich schade. So ein historisches Fest hätte bestimmt Spaß gemacht.

   Aber mal was ganz anderes: Haben Sie eigentlich überhaupt nichts davon mitbekommen, was über Ihnen in der Wohnung passiert ist? So wie es bei Herrn Maurenbrecher aussieht, muss der Einbrecher einen ganz schönen Radau veranstaltet haben.«

   »Nein«, sagte Julia. »Aber wir waren auch nicht die ganze Zeit zu Hause. Heute Morgen ist Dirk gegen sieben aus dem Haus gegangen. Benni und ich waren einkaufen und dann noch bei meiner Mutter. So ab neun Uhr war niemand mehr hier bis gegen Mittag.«

   »Was ist mit der dritten Partei hier im Haus?«, fragte Axel. 

   »Die Wohnung steht leer. Zum 1. Juli ist sie wohl wieder vermietet, aber im Moment ist da niemand.«

   »Haben Sie einen Schlüssel oder hat Martin Maurenbrecher einen?«

   »Wir haben keinen. Ich wüsste auch nicht, wieso Martin einen haben sollte. Ich gebe Ihnen gern die Telefonnummer unseres Vermieters«, antwortete Dirk. Er schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn Axel. Im selben Moment klingelte es. Die Kollegen von der Spurensicherung waren da. 

   Axel verabschiedete sich zunächst von den Vowinkels, führte Fabian Jerschke in die verwüstete Wohnung und lief dann eine Etage höher, um festzustellen, ob die dortige Wohnung abgeschlossen war. Das war der Fall. Axel rief den Hauseigentümer an und bat ihn, die leerstehende Wohnung aufzuschließen. Er wollte sich lieber nicht vorstellen, was passieren würde, wenn Martin Maurenbrechers Leichnam dort nach einigen Tagen durch einen unangenehmen Geruch auf sich aufmerksam machen würde.

   Die Aktion hätte er sich schenken können. Der Hauswirt, der nur ein paar Häuser entfernt auch in der Liefergasse wohnte, war innerhalb kürzester Zeit mit dem Schlüssel vor Ort. Die Wohnung wartete sauber und leer auf den neuen Mieter. Axel bedankte sich höflich und versuchte, den ebenso hilfsbereiten wie neugierigen Mann wieder loszuwerden. Als ihm das gelungen war, ging er noch einmal zu den Kollegen von der Spurensicherung.

   »Tja«, sagte Fabian Jerschke. »Das sieht nach einem Einbruch aus, bei dem der oder die Täter nach etwas gesucht haben. Das kann natürlich etwas Konkretes gewesen sein oder er oder sie haben ganz allgemein nach Wertsachen Ausschau gehalten. Wisst ihr, ob etwas Bestimmtes verschwunden ist?«

   Axel schüttelte den Kopf. »Habt ihr einen Computer gesehen oder einen Laptop? Oder das Manuskript eines Buches?«

   »Nein und nein, aber was für euch vielleicht ganz interessant ist, auch keinerlei Blutspuren. Dieser Maurenbrecher hat sich also ganz bestimmt nicht vom Mausoleum hierher geschleppt.«

   »Das hattet ihr doch eigentlich schon in St. Andreas ausgeschlossen oder nicht?«

   Fabian Jerschke nickte. »Stimmt. Die letzten Blutspuren haben wir im Vorraum des Mausoleums gefunden. Wir haben hier übrigens DNA-Material gesichert. Wir dachten, ihr wollt bestimmt einen Vergleich mit dem Blut aus dem Mausoleum haben.«

   »Super. Passt nur auf, dass ihr nicht die DNA seiner Freundin erwischt. Die scheint sich hier auch häufig aufgehalten zu haben.«

   »Sei beruhigt, Kollege. Das bekommen wir schon hin.«

   Axel rief Tom an und berichtete ihm vom Gespräch mit den Nachbarn und den ersten Erkenntnissen der Spurensicherung. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass er ab sofort eher störte als helfen konnte, machte er sich zu Fuß auf den Weg ins Präsidium. Das Wetter war schön und der flotte Spaziergang auf der Rheinuferpromenade hob seine Laune ungemein. Sein Ganztagsjob war doch gelegentlich auch mehr als erträglich.

 

*

 

Anna beendete mit einem Seufzer das kurze Telefonat mit Tom und legte ihr Handy neben sich auf den Tisch, an dem neben ihren Töchtern Marie und Jule auch ihr Kollege und Nachbar Sven Ücker und dessen Freundin, die Volontärin Leonie Schmitz-Talaue saßen. Es war der zweite Donnerstag im Monat, also der Jour fixe für das monatliche Treffen der Hausgemeinschaft. Reihum wurde zum gemeinsamen Abendessen geladen. Diesmal war Anna an der Reihe.

   »Lass mich raten. Tom kommt mal wieder später oder überhaupt nicht«, sagte ihre Tochter Jule durchaus erleichtert. »Dann können wir ja jetzt endlich mit dem Essen anfangen. Mein Magen knurrt schon seit einer halben Stunde.«

   Anna nickte. »Es sieht nicht so aus, als ob wir ihm etwas übriglassen müssten. Er ist auf der Suche nach einer Leiche, egal ob tot oder lebendig, wie er merkwürdigerweise gesagt hat. Das kann noch Stunden dauern. Wahrscheinlich ist er danach so erledigt, dass er direkt zu sich nach Hause fährt.« 

   »Wenn er total erledigt ist, hast du ja auch nichts von ihm«, stellte Marie pragmatisch fest. 

   Anna lief zartrot an, Sven Ücker grinste und seine Freundin Leonie sprach die nebulösen Worte: »Erschöpfte Ermittler erschlaffen eben.«

   Leonie war nur noch kurze Zeit Volontärin bei der Düsseldorfer Zeitung. Anna und Sven arbeiteten dort im Lokalressort als Redakteure. Leos weiteres berufliches Schicksal war noch ungewiss. Der Chef der Lokalredaktion, Horst Wildermann, rang noch mit sich, ob er ihr einen unbefristeten Vertrag anbieten sollte. 

   Einerseits war sie keine schlechte Journalistin, sie hatte Sprachgefühl, Energie und Beharrlichkeit, andererseits passte sie nicht gerade in das übliche Schema. Leos Liebe galt neben Sven dem Punk. Sie hatte zwar nach anfänglichen heftigen Auseinandersetzungen in der Redaktion verinnerlicht, dass es in ihrem Leben eine strikte Trennung zwischen Privatleben und Beruf geben musste. Also entfernte sie bei Dienstbeginn sämtliche Piercings, schminkte und kleidete sich dezent und verzichtete komplett auf leuchtende Haarfarben und auffällige Schnitte. 

   Horst hatte sie jedoch vor kurzem zufällig in der Altstadt getroffen, wo sie sich im privaten Punk-Modus befunden hatte. Sie hatte ihn freundlich gegrüßt – Leo war in jedem Modus ein Sonnenschein – und Horst hatte zwar zurückgegrüßt, sich aber entsetzt gefragt, was wohl der Oberbürgermeister davon halten würde, wenn er die junge Frau, die ihn vielleicht noch am Vormittag zur Kommunalpolitik befragt hätte, so sehen könnte. Er hatte sich vorgenommen, demnächst mit Anna über dieses Thema zu reden. Schließlich war sie offenbar mit diesem Schnösel Ücker und seiner Punkerin eng befreundet. Von dieser drohenden Entwicklung ahnte Leonie an diesem Abend noch nichts.

   »Erschöpfte Ermittler erschlaffen eben?«, wiederholte Jule verblüfft. 

   Sven erläuterte hilfsbereit: »Leo macht gerade ihre Alliterationsphase durch. Mach dir keine Sorgen. Das ist hoffentlich nur ein kurzer Anfall. Andere Menschen bekommen Pickel oder werden unfreundlich, wenn sie erwachsen werden, Leo leidet lieber literarisch.«

   »Scheint ansteckend zu sein«, stellte Marie fest.

   »Was meint Tom eigentlich mit der Suche nach einer Leiche, egal, ob tot oder lebendig? Das hört sich ziemlich schräg an«, fragte Sven, elegant das Thema wechselnd. 

   »Das habe ich auch nicht verstanden«, gab Anna zu. »Wenn so ein Fall noch nicht spruchreif genug für eine Pressemitteilung ist, verwandelt er sich in letzter Zeit in eine Auster. Er will sich wahrscheinlich nicht vorwerfen lassen, mich gegenüber den anderen Medien zu bevorzugen.«

   »Die Skrupel hatte er aber früher nicht«, sagte Marie. »Wir waren doch immer seine Task Force.«

   »Du bist unsensibel wie immer«, stellte Jule fest. »Da waren Mama und er auch noch nicht zusammen.«

   Anna sagte nichts. Aber sie dachte eine Menge und das nicht nur in diesem Augenblick. Waren sie und Tom wirklich zusammen? Offiziell ja, seit einem sehr schönen gemeinsamen Wochenende im Herbst des vergangenen Jahres. Tom hatte sich damals endlich überwunden und zugelassen, dass aus der bereits jahrelang dauernden, engen Freundschaft eine Beziehung wurde. Trotzdem hatte Anna das Gefühl, längst nicht alle Mauern überwunden zu haben, die Tom rings um sich aufgebaut hatte. Aber sie wusste, nichts hätte den Beginn ihrer Beziehung schneller und wirksamer wieder beendet, als Forderungen ihrerseits nach mehr Nähe, nach größerer Intensität und weniger Freiheit für den Einzelnen. 

   Anna wäre mit Freuden bereit gewesen, auf sehr viel Distanz zu verzichten, aber es war nun mal so, wie es war, und das akzeptierte sie. Deshalb war sie keineswegs sicher, ob sich Tom an diesem Abend in sein ungeliebtes Zuhause in Unterrath verziehen würde oder ob sie innerhalb der nächsten Stunden hören würde, wie er mit seinem Schlüssel ihre Wohnungstür öffnete. Anna hatte übrigens für Toms Reihenhaus keinen Schlüssel, was symptomatisch für das Ungleichgewicht ihrer Beziehung war. 

   Anna holte zwei Bleche mit Flammkuchen aus dem Ofen und schnitt sie mit einer Brotsäge in tellergerechte Portionen. Eine große Schüssel Salat stand schon auf dem Tisch. 

   Anna lebte mit ihrer Tochter Jule in der zweiten Etage eines Mehrfamilienhauses an der Karl-Anton-Straße. Über ihr, unter dem Dach, wohnte ihre ältere Tochter Marie in einer Wohngemeinschaft zusammen mit ihrem Freund Benedikt, der Medizinstudentin Funda und dem ewig abwesenden angehenden Juristen Patrick. Nur Marie hatte an diesem Abend Zeit für das Essen gefunden. Benedikt war für ein paar Tage zu seinen Eltern gefahren, Funda hatte Dienst im Altenheim, in dem sie sich Geld fürs Studium verdiente, und Patrick war wie immer verschollen. 

   Im Parterre wohnte ganz offiziell mit Mietvertrag Annas Kollege Sven Ücker und – zum Leidwesen sowohl von Svens Eltern als auch vom Hauswirt Egidius Knecht – Leonie, inoffiziell, aber mittlerweile ziemlich dauerhaft. 

   Egidius Knecht gehörte aus mancherlei guten Gründen nicht zur Donnerstagsrunde. Fairerweise muss man jedoch sagen, er hätte eine solche Einladung selbst auch weit von sich gewiesen. Schließlich musste man irgendwo eine Trennlinie ziehen zwischen bloßen besitzlosen Mietern und einem Hauseigentümer. Tat man das nicht, säße man über kurz oder lang womöglich zusammen mit Obdachlosen an ein und derselben Tafel der Franziskaner. 

   So bekam er also kein Stück des Flammkuchens ab, sondern aß einen - wie er selbst fand - schmackhaften Erbseneintopf aus der Dose und vermisste in seiner Wohnung in der Beletage nichts und niemanden, genau so wenig, wie seine Person von der Runde in Annas Wohnung direkt über ihm vermisst wurde.

   Anna verteilte die Teller mit dem Flammkuchen und setzte sich zu ihren Gästen. 

   »Famoser Flammkuchen«, stellte Leonie zufrieden fest. 

   »Was machst du eigentlich, wenn es mal flott gehen muss mit einem Satz?«, fragte Marie leicht genervt.

   »Super-schnell schalten«, antwortete Leonie. »Nein im Ernst, das ist nur ein privates Späßchen. Glaub ja nicht, ich rede in der Redaktion so. Was meinst du, was Herr Wildermann sagt, wenn ich ihn mit ›Hallo, holder Horst‹ begrüße?« 

   »Das will ich mir nicht wirklich vorstellen«, sagte Marie schaudernd. 

   Leonie wandte sich kauend und daher etwas undeutlich an Jule. »Was ist denn aus deinen Amerika-Plänen geworden?«

   »Ich fliege am Tag nach Mamas Geburtstag nach Boston und sehe mich dort an der Uni um. Ich habe mich noch nicht endgültig entschieden.«

   Dieses Thema war gefährliches Terrain, um nicht zu sagen vermintes Gebiet. Annas Exmann Stanley, der Vater von Marie und Jule, hatte seine Familie vor vielen Jahren von jetzt auf gleich verlassen und war in seine amerikanische Heimat zurückgekehrt. Die Mädchen waren ohne ihn aufgewachsen und genau wie Anna ziemlich verblüfft, als er vor knapp zwei Jahren plötzlich wieder auf der Bildfläche aufgetaucht war. Anna hatte es inzwischen geschafft, ihre persönliche Verbitterung in eine gedankliche Besenkammer zu sperren und sich auf eine halbwegs freundschaftliche Beziehung zu ihm einzulassen, ausschließlich der Kinder wegen. 

   Marie hatte sich zunächst unversöhnlich gezeigt, war aber vor kurzem auch schon einmal in den Vereinigten Staaten gewesen, um ihre unbekannte und am familiären Desaster völlig unschuldige Großmutter kennenzulernen. Bei diesem Besuch hatte sie sich auch vorsichtig wieder ein kleines bisschen an ihren Vater herangetastet. Immerhin redeten die beiden wieder miteinander, aber an ein herzliches Verhältnis war nicht zu denken.

   Jule hatte sich wesentlich versöhnlicher verhalten. Sie war als Erste der Familie zu einem Besuch nach Boston aufgebrochen und hatte dort festgestellt, dass die Befürchtung, Stanley sei völlig mittellos und wolle sich deshalb wieder an seine wohlhabende Familie heranmachen, absolut nicht zutraf. Stanley residierte in einer Villa in einem der reicheren Vororte der Stadt in Neuengland und war durchaus bereit, seinen Reichtum mit seinen Töchtern zu teilen. 

   Unter anderem hatte er Jule nach deren Abitur vor ein paar Wochen vorgeschlagen, die Heinrich-Heine-Universität doch zugunsten von Harvard oder einem der anderen Ivy League-Institute links liegen zu lassen. Er würde Unterhalt und die horrenden Studiengebühren zahlen. 

   Stanley hatte keine Ahnung, in welche Gefühlskrise er seine Exfrau und seine beiden Töchter mit diesem großzügigen Angebot stürzte. Marie forderte von ihrer jüngeren Schwester bedingungslose Loyalität. Harvard kam daher nicht infrage. Marie vergab und vergaß nicht so schnell. Das bekam seit seinem Wiedereintritt in den Familienkosmos Stanley zu spüren und das würde auch Jule merken, sollte sie der amerikanischen Versuchung nicht widerstehen.

   Anna wusste, sie würde Jule schrecklich vermissen, aber natürlich würde sie ihr nicht im Weg stehen. Also tat sie so, als sei Boston dank der guten Flugverbindungen nur unwesentlich weiter entfernt als Köln. Anna hätte es niemandem - nicht mal Tom - gegenüber zugegeben, aber sie wurde von einer Sorge gequält: Was wäre, wenn Jule in den Vereinigten Staaten die große Liebe finden würde und für den Rest ihres Lebens dort bliebe? So drei bis vier Jahre konnte man prima überbrücken – aber ein ganzes Leben wäre etwas anderes. Sie war jedoch vernünftig genug, den Mund zu halten. Das hatte allerdings auch etwas mit der Furcht vor der sich selbst erfüllenden Prophezeiung zu tun. Was man nicht herbeiredete, würde hoffentlich nicht geschehen.  

   »Also bist du ab Anfang Juli erst einmal drüben?«, fragte Sven. 

   Jule nickte. »Genau.«

   »Und wie lange bleibst du? Bis wann musst du dich entschieden haben? Es gibt doch bestimmt Immatrikulationsfristen für das Wintersemester oder etwa nicht?«, fragte Leonie interessiert. 

   »Ich bleibe drei Wochen drüben. Und dann muss die Entscheidung sehr schnell fallen. Ende August ist dort  Studienbeginn, anders als hier. Hier hätte ich noch bis Mitte Oktober Zeit.«

   »Das ist doch ein Argument für die gute alte HHU«, sagte Sven, der, wie alle am Tisch hoffte, dass Jule sich für Düsseldorf entscheiden würde. »Außerdem: Wenn man schon Heine heißt... «

   Jule zuckte unentschlossen mit den Schultern. Neben dem Wissen, dass ihre Familie unglücklich über ihre Abwesenheit sein würde, quälte sie sich insgeheim mit einer weiteren Sorge herum: Sie hatte höllische Angst, den Anforderungen, die man in Harvard an sie stellen würde, nicht gewachsen zu sein. Nicht umsonst hatte die Uni solch einen exzellenten Ruf. Wenn sie es dort nicht schaffen würde, hätte ihr Vater ganz umsonst eine Menge Geld ausgegeben. Und alle würden sie auslachen, weil sie diese hochfliegenden Pläne gehabt hatte und kläglich gescheitert wäre. Und dazu die Sprachbarriere. Jule hatte zwar seit der fünften Klasse Englischunterricht gehabt, aber reichte das, um kompliziertesten Sachverhalten folgen zu können?

   Andererseits würde sie es sich nie verzeihen, diese Riesenchance nicht wahrgenommen zu haben. Warum stand ausgerechnet sie vor dieser Entscheidung, die sie völlig überforderte? Warum war Marie schon mitten im Studium gewesen, als Stanley wieder in ihr Leben getreten war? Warum war das Leben für Marie grundsätzlich so viel leichter als für Jule? Und nach außen musste sie auch noch lässig wirken. Angsthasen waren überhaupt nicht cool. 

   »Mal abwarten«, sagte sie.

 

*

 

»Wieso abwarten?«, fragte Karla Brandt erbost. »Tun Sie doch endlich irgendetwas! Er muss doch irgendwo sein. Wenn alles in Ordnung wäre, hätte er mich längst angerufen. Er schaltet nie sein Handy aus. Da ist etwas passiert.«

   In diesem Punkt stimmte Tom mit ihr überein. Ein Mann in einer Blutlache, der mit einem Messer in der Brust unter mysteriösen Umständen verschwunden war, und eine verwüstete Wohnung deuteten nicht gerade darauf hin, dass Martin Maurenbrechers Tag normal verlaufen war. 

   »Alles, was wir tun können, haben wir veranlasst. Wir haben mit allen Krankenhäusern telefoniert, die Suche nach ihm läuft auf Hochtouren, rund um die Andreaskirche fahren Polizisten verstärkt Streife, alle Kollegen haben sein Foto und unser Dezernat ist mit weiteren Ermittlungen beschäftigt. Was sollen wir Ihrer Meinung nach darüber hinaus tun?«

   Karla ließ den Kopf hängen. »Ich weiß es nicht.«

   »Je mehr Informationen Sie mir jetzt geben, desto schneller finden wir ihn wahrscheinlich. Wie sieht es mit Herrn Maurenbrechers Familie aus? Gibt es Eltern und Geschwister? Wer sind seine engsten Freunde? Wo könnte er nach so einem Angriff untergekommen sein? Vielleicht hat er Angst vor weiteren Überfällen und versteckt sich irgendwo.«

   »Seine Eltern sind schon früh gestorben. Geschwister hat er nicht, allerdings jede Menge Cousins und Cousinen. Soweit ich weiß war er mit niemandem aus der Familie enger befreundet. Es gab einmal im Jahr ein großes Familientreffen und man schrieb sich zu den Geburtstagen und zu Weihnachten. Das war es.

   Sein bester Freund ist Wolfgang Holstein, der Wirt vom ›Ratsherreneck‹. Dann gibt es noch eine Freundin, die beim Stadtmarketing arbeitet und ihn immer wieder einsetzt, wenn irgendwo ein Jan Wellem gebraucht wird. Ich glaube, die beiden kennen sich schon aus der Schulzeit. Sie heißt Astrid Brunner und wohnt in Derendorf. Ich habe ihre Handynummer. Und dann die Vowinkels. Die haben Sie ja schon kennengelernt. Martin hat natürlich jede Menge Bekannte. Jemand, der so lebt wie er, kennt einfach Gott und die Welt, zumindest in der Altstadt.«

   Tom notierte sich Astrid Brunners Telefonnummer. »Was für ein Auto hat Herr Maurenbrecher?«, fragte er.

   »Überhaupt keins. Ich habe ein altes Mini-Cabrio. Das hat er sich manchmal ausgeliehen, wenn er einen fahrbaren Untersatz gebraucht hat. Er selbst ist der Meinung, wenn man so zentral wohnt wie er, ist man mit öffentlichen Verkehrsmitteln bestens bedient. Und finden Sie mal in der Altstadt einen Parkplatz.«

   »Wo ist Ihr Auto jetzt gerade?« 

   »Bei mir vor der Tür, am Spichernplatz. Da steht es schon seit ein paar Tagen. Ich fahre meistens mit der Bahn ins Theater oder zu Martin. Das geht schneller als mit dem Wagen, inklusive Parkplatzsuche.«

   »Hat Herr Maurenbrecher einen Schlüssel für Ihr Auto?«

   »Nur gelegentlich, wenn ich ihm meinen Zweitschlüssel gebe. Im Moment hat er ihn nicht, soweit ich mich erinnere. Ich müsste zu Hause nachschauen. Eigentlich bin ich aber sicher, dass ich beide Schlüssel habe. Außerdem würde er nie einen Ausflug mit meinem Wagen machen, ohne mich gefragt zu haben oder mich wenigstens im Nachhinein anzurufen.« 

   Tom ließ sich Farbe – dunkelgrün – und Kennzeichen von Karlas Auto geben und bat telefonisch darum, einen Streifenwagen zum Spichernplatz zu schicken, um festzustellen, ob das Auto noch auf seinem Parkplatz stand. 

   »Mein Kollege hat mich darüber informiert, dass ein Computer und ein Buchmanuskript verschwunden sein sollen. Was können Sie mir dazu sagen?«

   »Martin hat einen Laptop. Keine Ahnung, um welche Marke es sich handelt. Ich habe nie darauf geachtet. Er war schwarz, soweit ich weiß. Damit hat er ein Buch geschrieben über Jan Wellem und die Düsseldorfer Geschichte zu dieser Zeit. Er war fast fertig damit. Deshalb hat er ein Exemplar ausgedruckt. Er hat mir gesagt, er könne es auf Papier besser korrigieren als am Bildschirm. Er fand so leichter irgendwelche Fehler und konnte auch noch Anmerkungen an den Rand schreiben.«

   »Die Kollegen von der Spurensicherung stellen gerade in der Wohnung alles auf den Kopf. Sie haben es bisher nicht gefunden.«

   »Ich weiß genau, wo es gestern Abend gelegen hat. Woanders zu suchen ist sinnlos. Martin hatte es auf seinem Schreibtisch. Als ich kam, hat er gerade daran gearbeitet. Und jetzt sagen Sie, es ist verschwunden. Ist denn der Laptop auch weg?«

   »Es sieht so aus. Gibt es eine externe Festplatte oder einen Stick, auf dem Herr Maurenbrecher seine Daten gesichert haben könnte?«

   »Das glaube ich nicht. Sichern Sie Ihre Daten noch einmal auf einem anderen Gerät?«

   Tom seufzte. »Wenn sie mir wirklich wichtig sind, dann ja. Haben Sie denn das Manuskript gelesen? Mir ist ehrlich gesagt nicht klar, warum die Einbrecher es mitgenommen oder vernichtet haben sollten. So ein Laptop ist eine interessante Beute, die gut verkauft werden kann. Aber das Manuskript eines unbekannten Autors? Ich kann das nicht nachvollziehen.«

   »Vollständig gelesen habe ich es nicht. Martin will es mir erst zeigen, wenn er fertig ist. Aber einzelne Passagen hat er mir vorgelesen.«

   »Handelt es sich denn um einen historischen Roman oder um ein geschichtliches Sachbuch?«

   »Das ist nicht so leicht zu beantworten. Ich würde mal sagen, so ein Mittelding aus beidem. Ein reines Sachbuch hätte sich vermutlich nicht gut verkauft. Deshalb hat sich Martin schon so eine Art Romanhandlung ausgedacht, aber basierend auf Fakten, und zwar solchen Fakten, die noch nicht allgemein bekannt sind. Schließlich arbeitet er im Stadtarchiv und sitzt sozusagen an der Informationsquelle.«

   »Trotzdem habe ich Zweifel, dass solch ein Text für einen Dieb interessant wäre. Herr Maurenbrecher schreibt schließlich keinen neuen Harry Potter oder die Fortsetzung von ›Game of Thrones‹.«

   »Dann zweifeln Sie mal ruhig weiter. Martin war jedenfalls überzeugt davon, etwas sehr Brisantes verfasst zu haben.«

   Toms Handy machte sich bemerkbar. Ein Kollege bestätigte, der grüne Mini von Karla Brandt stehe ordnungsgemäß geparkt und abgeschlossen am Spichernplatz. Niemand befinde sich auf den ersten Blick sichtbar im Auto, also außerhalb des Kofferraums.  

   »Ihr Mini steht noch vor Ihrer Tür. Damit ist er also nicht unterwegs.«

   Karla Brandt nickte wenig überrascht.

   »Sie machen die Kostüme für das Schauspielhaus?«

   »Einen Teil davon. Ich habe durchaus noch Kollegen. Einiges wird auch fertig gekauft.«

   »Ich nehme mal an, Sie haben Herrn Maurenbrechers Jan Wellem-Kostüm genäht?«

   »Das stimmt. Oder vielmehrdie Kostüme. Insgesamt gibt es drei Stück, zwei etwas Alltäglichere und ein Prachtkostüm für besondere Anlässe. Alle drei sind unterschiedlich.« 

     »Das heißt, wenn wir die beiden anderen Kostüme finden, könnten Sie uns das Fehlende genau beschreiben?«

   Karla nickte. Tom und sie sahen einander an, Karla abwartend, Tom etwas ratlos. Karlas Augen füllten sich mit Tränen. »Ich habe solche Angst, dass etwas ganz Schlimmes passiert ist. Glauben Sie, er lebt noch?«

   »Ich wünschte, ich wüsste es«, sagte Tom, aber er hatte starke Zweifel daran, dass Martin Maurenbrecher sein Manuskript noch würde vollenden können.

 

 

Freitag, 09.06.2017

 

Im Büro des Oberbürgermeisters wurde an diesem Vormittag eine Delegation aus Frankreich erwartet. Es waren noch zahllose organisatorische Kleinigkeiten zu klären und zu erledigen und dafür standen nur noch knapp drei Wochen zur Verfügung – bis zum Grand Depart. 

   Der OB hatte sich höchstpersönlich dafür stark gemacht, den Start der diesjährigen Tour de France nach Düsseldorf zu holen. Nun sollte dieses Event auch ein voller Erfolg werden. Alle Mitarbeiter seines Büros waren zu diesem Zeitpunkt Rädchen in einem großen Tour-Getriebe. Das Team war durch Praktikanten und Studenten kurzfristig aufgestockt worden, was die übliche Routine ein wenig aus dem Gleichgewicht brachte. 

   So saß an diesem Morgen eine ebenso motivierte wie kenntnisarme Praktikantin vor dem Postberg und hatte die Aufgabe, die Briefumschläge wenigstens schon einmal aufzuschlitzen, und zwar alle, die nicht mit ›persönlich‹ oder ›vertraulich‹ beschriftet waren. Den Inhalt sollte sie herausholen und auf drei Stapel verteilen: Werbung, Gesuche und Beschwerden sowie alles Übrige. Falls die Absender nur auf den Umschlägen zu finden waren, sollte sie die mittels einer Büroklammer an dem jeweiligen Schreiben befestigen.

   Etwa auf halber Strecke auf dem Weg durch den Berg öffnete sie einen Brief ganz ohne Absender mit folgendem Inhalt:

 

   »14 Helfer sind in Not. Wenn ihr den Helfern helfen wollt, entrichtet heute einen Obolus von 14.000 Euro pro Person bis 14 Uhr im Zuhause der Helfer. Sonst wird es die Helfer in mehr als 14 Stücke reißen.«

 

   Die Praktikantin las, stutzte, las noch einmal und beschloss, es handele sich wohl noch am ehesten um ein Gesuch. Also legte sie es auf den entsprechenden Stapel. 

 

*

 

Tom hatte die Nacht tatsächlich in Unterrath verbracht. Nach der Befragung von Karla Brandt hatte er noch mit Axel über den Fall diskutiert und sich dann schließlich für den längeren Heimweg in Verbindung mit garantierter Ruhe entschieden. Er fand es in der Tat schwierig, in solch einem Stadium eines Falles mit einer Journalistin das Bett zu teilen. Anna machte ihren Job und er seinen und manchmal passte das einfach nicht zusammen. Dann konnte sogar das ungeliebte Unterrath ›The Place to Be‹ sein. 

   Da diese Nächte im Norden der Stadt immer seltener wurden, öffnete er an diesem Morgen ohne große Hoffnung seine Kühlschranktür. Er roch vorsichtshalber an einem Rest Fleischwurst und warf ihn nach diesem Test in den Mülleimer. Immerhin hatte er noch Kaffee im Haus. Er biss in einen trockenen Zwieback und bedauerte, nicht bei Anna übernachtet zu haben. Es hätte sicherlich auch andere Themen zwischen ihnen gegeben als den neuesten Vermisstenfall. Oder war es doch ein Tötungsdelikt? Ohne Leiche war das schwer zu entscheiden. 

   Eine gute Stunde später griff er dankbar in die Kuchentüte seiner Chefin, Dörte Steiner. Die Kriminalrätin brachte täglich Backwerk mit in den Konferenzraum. Sie betrachtete das als vertrauensbildende Maßnahme innerhalb ihres Teams. Außerdem aß sie selbst gern Kuchen. 

   »Morgen bin ich aber mal dran«, sagte Tom, dem es langsam peinlich wurde, sich täglich auf Frau Steiners Kosten mit Plunderteilchen abzufüllen. »Schließlich haben Sie ja wohl keine Bäckerei-Flatrate.«

   »Das nun wirklich nicht«, sagte Frau Steiner lachend. »Ich versuche aber immer noch, meinen Steuerberater davon zu überzeugen, dass es sich um Werbungskosten handelt, wenn ich meine Mitarbeiter bewirte. Aber er ist störrischer als das Finanzamt und schmeißt einfach immer die Bäckerbons weg. Aber egal.

   So, meine Herren, was haben wir denn heute? Ich habe schon gehört, Ihnen soll eine Leiche abhandengekommen sein. Sehr bedauerlich. Hätten Sie nicht ein bisschen besser aufpassen können, zumal es sich ja wohl um ein Mitglied des Hochadels handelt?«

   »Nicht nur das«, sagte Axel und grinste mit seiner Chefin um die Wette. »Der finstere Fürst ist auch noch ein Zombie. Er ist seit genau 301 Jahren tot.«

   Jörg Möller, der am Vortag eine Fortbildung im Münsterland besucht und bisher nichts vom verschollenen Kurfürsten mitbekommen hatte, sah Tom fragend an. »Ich war doch nur einen einzigen Tag lang weg. Was ist denn aus unserem schönen Kommissariat geworden?«

   Bevor Tom antworten konnte, betrat Fabian Jerschke mit einer Mappe unter dem Arm gut gelaunt den Konferenzraum. »Guten Morgen allerseits. Ich habe ein paar Neuigkeiten und dachte mir schon, dass ich euch hier finde.«

   »Wunderbar«, sagte Dörte Steiner. »Möchten Sie auch ein Plunderteilchen? – Wirklich nicht? Na dann, um uns alle erst einmal auf den gleichen Stand zu bringen, Herr Brecht, bitte eine kurze Zusammenfassung der gestrigen Ereignisse, besonders für den Kollegen Möller, aber auch für mich.«

   Tom nickte. »Gestern Vormittag hat ein Blumenbote einen Kranz in das Mausoleum der Andreaskirche gebracht. Auftraggeber waren die Düsseldorfer Jonges, die der Geburtstage und Todestage Jan Wellems auf diese Weise gedenken. Gestern war Jan Wellems 301. Todestag. Der Blumenbote Tim Werner fand im Mausoleum einen Mann in einem Kostüm des Kurfürsten. Er lag in einer Blutlache und hatte ein Messer in der Brust. 

   Werner rannte aus dem Mausoleum und fand Hilfe beim Mitglied des Gemeinderats, Ursula Knippenberg. Beide informierten sofort die Polizei. Die Kollegen, die wenig später in die Kirche kamen, fanden im Mausoleum nur noch die Blutlache. Der Tote oder Verletzte selbst war verschwunden. Frau Knippenberg glaubt das Opfer zu kennen. Ihrer Meinung nach handelt es sich um den Stadtführer Martin Maurenbrecher, der seine Touren als Jan Wellem verkleidet durchführt.

   In Maurenbrechers Wohnung in der Liefergasse ist offenbar eingebrochen worden. Sie sieht chaotisch aus und der Laptop sowie ein Buchmanuskript, das Herr Maurenbrecher verfasst hat, sind verschwunden. Auch Herr Maurenbrecher selbst ist wie vom Erdboden verschluckt. Seine Freundin und seine Nachbarn haben keine Ahnung, wo er sein könnte. Herr Werner und Frau Knippenberg sind überzeugt davon, der Mann im Mausoleum könne nicht mehr gelebt haben, als sie ihn fanden. Sie haben ihn jedoch nicht genauer untersucht. Das ist der Stand der Dinge.«

   »Danke, Herr Brecht. Das ist ein ziemlich kurioser Fall. Hat die Presse schon etwas mitbekommen?«

   Tom wusste genau, in welche Richtung diese Frage zielte. »Ich habe heute Morgen nichts darüber gelesen.« Das war allerdings kein Wunder, weil Tom überhaupt noch keine Zeitung zu Gesicht bekommen hatte.

   »Im Netz steht auch noch nichts«, bestätigte Axel. »Der Blumenbote hat offenbar dichtgehalten.«

   »Vielleicht kann ich euch ein bisschen weiterhelfen«, sagte Fabian Jerschke, dem das Meeting bereits etwas zu lange dauerte. »Wir haben ein paar ganz interessante Dinge herausgefunden.«

   Damit hatte er sich die Aufmerksamkeit aller gesichert. 

   »Das Wichtigste zuerst: Das Blut aus dem Mausoleum stammt zweifelsfrei von Martin Maurenbrecher. Wir haben einen DNA-Schnelltest gemacht und das Blut mit entsprechendem Material aus seiner Wohnung verglichen. Die endgültige Analyse steht natürlich noch aus, aber ich kann euch jetzt schon versichern, da bleiben kaum Zweifel. 

   Der zweite Punkt bezieht sich auf den Ort, an dem wir Blutspuren gefunden haben, oder besser gesagt, wo es keine mehr gab. Im Mausoleum selbst war einmal die Lache, in der das Opfer gelegen hat, und es gab auch weitere Spuren, vor allem in Richtung der Eingangstür. Das verwundert nicht, denn irgendwie ist er ja mit Blut besudelt herausgeschafft worden.«

   »Oder er hat sich selbst  herausgeschleppt«, warf Jörg ein.

   »Dazu komme ich jetzt«, sagte Fabian Jerschke. »Im Vorraum zum Mausoleum verstärken sich die Blutspuren ganz erheblich. Wir haben zwar keine Lache, aber kleinere Blutmengen finden sich an den verschiedensten Stellen. Es handelt sich um Tropfen und Schmierblut. Und dann ist auf einmal Ende im Gelände. Es gibt drei mögliche Ausgänge aus dem Vorraum. Der eine führt ins Freie. Darauf komme ich gleich noch. Der zweite führt in weitere Räumlichkeiten der Kirchengemeinde. Er war abgeschlossen. Wir haben dahinter auch nichts gefunden, das uns glauben lässt, das Opfer könne diesen Weg genommen haben. Der dritte Ausgang führt direkt in die Kirche, in der Frau Knippenberg und Herr Werner auf die Polizei gewartet haben. Sie hätten Herrn Maurenbrecher sicherlich bemerkt, tot oder lebendig. Aber auch hier haben wir keinerlei Spuren gefunden.

   Der wahrscheinlichste Weg, oder besser gesagt der einzig mögliche Weg, den Herrn Maurenbrechers Körper genommen haben kann, führt also ins Freie, und zwar in einen Innenhof, der zum Hotel De Medici gehört. Von dort aus kommt man durch ein für alle offenes Tor auf die Mühlenstraße. Die Tür, die vom Vorraum ins Freie führt, ist innen durch einen Riegel gesichert. Ob der zur Tatzeit verschlossen war, wissen wir natürlich nicht. Als unser Team kam, war die Tür zwar geschlossen, aber nicht verriegelt.

   Wir haben ganz besonders die Treppe untersucht, die von der Tür in den Innenhof führt. Es handelt sich nur um fünf Stufen. Nach dem inneren Vorraum, also ab der Tür ins Freie, gibt es keinerlei Blutspuren mehr. Auch der Innenhof in der Nähe der Treppe ist absolut blutspurenfrei. 

   Das kann unserer Ansicht nach nur bedeuten, dass das Opfer nicht selbstständig den Vorraum zum Mausoleum verlassen hat. Wir glauben, man hat ihn dort in irgendeinen flüssigkeitsdichten Behälter gepackt und dann vom Tatort entfernt. Wobei uns«, der Kriminaltechniker kratzte sich unentschlossen am Kopf, »das Wort Behälter eine Menge Interpretationsspielraum lässt. Es könnte sich auch um Folie oder einen dichten Müllsack in entsprechender Größe gehandelt haben. Wichtig ist nur, dass der blutverschmierte Körper ab diesem Punkt keinerlei Spuren mehr hinterlassen hat.

   Auch in der Wohnung des Opfers haben wir übrigens kein Blut gefunden.«

   »Damit ermitteln wir also aller Voraussicht nach in einem Tötungsdelikt und nicht länger in einem Vermisstenfall«, stellte Dörte Steiner fest.

   »So sieht es aus«, bestätigte Fabian Jerschke.

   »Kannst du uns noch etwas zu dem Einbruch sagen?«, fragte Tom.

   Fabian nickte. »Durchaus. Wir haben keinerlei Einbruchsspuren an der Wohnungstür gefunden. Entweder hatte der Täter einen Schlüssel oder er war ein Profi, der die Tür ohne Spuren von Gewalt hat öffnen können.

   Die Wohnung war für meine Verhältnisse ein bisschen zu sehr verwüstet, obwohl wir ja wissen, dass sich manche Einbrecher wie Vandalen verhalten, wenn sie ärgerlich darüber sind, nichts gefunden zu haben, was einen Diebstahl lohnt. 

   In diesem Fall hätten die Täter aber durchaus mehr Beute machen können. Herr Maurenbrecher hatte in einer Kommode einige wertvolle Uhren. Im Schreibtisch lagen fünfzig Euro in bar, die man sich ohne weiteres hätte in die Tasche stecken können. Außerdem gab es noch eine Spiegelreflexkamera, ein iPad und Silberbesteck. Ich habe allerdings keine Ahnung, was das wert sein könnte. Auch einige Antiquitäten hingen beziehungsweise standen herum.«

   »Was ist mit einem Smartphone, dem Schlüssel und der Brieftasche?«

   »Nichts davon haben wir gefunden. Entweder die Einbrecher haben die Sachen mitgenommen oder Herr Maurenbrecher bewahrt sie in Taschen seines Kostüms auf.«

   »Das müssen wir seine Freundin fragen. Die hat die Kostüme genäht und müsste wissen, ob es Taschen gibt und ob Herr Maurenbrecher sie für so etwas genutzt hat«, sagte Tom und machte sich eine Notiz. 

   »Fassen wir also zusammen«, schlug die Kriminalrätin vor. »Martin Maurenbrecher verließ gestern seine Wohnung in seinem Stadtführerkostüm und wurde vor oder nach einer Führung – das sollten wir feststellen – im Mausoleum von St. Andreas von einem oder mehreren Unbekannten erstochen. Der oder die Täter verließen für eine gewisse Zeit das Mausoleum, vielleicht, um die Gerätschaften zu holen, mit denen sie ihr Opfer wegbringen wollten. Herr Werner und Frau Knippenberg entdeckten die Leiche und entfernten sich wieder, um Hilfe zu holen. In diesem Zeitraum kamen die Täter zurück und nahmen die Leiche mit. 

   Ob der Einbruch in Maurenbrechers Wohnung kurz davor, zeitgleich oder direkt im Anschluss an die Tötung stattfand, und ob er von den gleichen Tätern verübt wurde, wissen wir zwar nicht, aber ein Zusammenhang dürfte wohl höchstwahrscheinlich bestehen. Es fehlen das Handy, die Brieftasche, der Schlüssel, ein Laptop und ein angeblich brisantes Manuskript über einen Mann, der mehr als 300 Jahre tot ist. Habe ich die wichtigsten Fakten berücksichtigt?«

   Ihre Mitarbeiter nickten. Nur Tom war unzufrieden.

   »Die ganze Geschichte kommt mir wie ein Schmierentheater vor«, sagte er. »Der Vorhang geht hoch. Auf der Bühne sieht man das Mausoleum, getaucht in diffuses Licht. Das Opfer erscheint im Kostüm des Sarkophagbewohners. Ist der Tote etwa aus dem Sarg gekrochen, bevor die Bühnenbeleuchtung anging? Der Zuschauer weiß es nicht. Der Kostümierte wird gemeuchelt. Danach Abgang unbekannter Mörder durch Tür Nummer eins. Auftritt Blumenbote durch Tür Nummer zwei. Abgang Blumenbote und erneuter Auftritt zusammen mit glaubwürdiger Zeugin. Abgang beider durch Tür zwei. Auftritt Mörder durch Tür eins. Abtransport Leiche durch Tür eins. Auftritt Polizei durch Tür zwei. Kommt euch das etwa nicht total konstruiert vor?«

   »Wenn man es so darstellt, dann schon«, sagte Jörg. »Aber verrenne dich nicht, Tom. Ich glaube, es war für den oder die Täter ziemliches Pech, dass der Blumenbote ausgerechnet direkt nach der Tat ins Mausoleum gekommen ist. Wahrscheinlich waren die Täter nur kurz weg, um den Transport zu organisieren. Falls die Tat geplant war, hatten sie bestimmt schon alles vorbereitet und zum Beispiel einen Wäschewagen oder eine Mülltonne im Hotelinnenhof vor der Treppe stehen. Sollte es sich um ein spontanes Verbrechen gehandelt haben, mussten sie den Transport natürlich noch arrangieren. Wenn alles gut geklappt hätte, wäre die Leiche fort gewesen und der Blutfleck aufgewischt, bevor der nächste Besucher das Mausoleum betreten hätte. Niemand hätte etwas bemerkt.«

   Axel nickte. »Irgendwann hätte Frau Brandt ihren Freund als vermisst gemeldet und die Ermittlungs-Mühlen hätten langsam angefangen zu mahlen. Oder sie hätte den Einbruch angezeigt. Wahrscheinlich hätte sie beides parallel getan. Und wir hätten wertvolle Zeit damit vertrödelt, nach dem lebendigen Martin Maurenbrecher zu suchen.«

   »Also gut«, sagte Dörte Steiner. »Wir betrachten den Fall als Tötungsdelikt und nicht als Vermisstensache. Das heißt, ich werde mich darum kümmern, dass Sie noch mindestens durch einen weiteren Kollegen unterstützt werden in den nächsten Tagen. Ich muss mal schauen, wen ich irgendwo anders loseisen kann. Derjenige meldet sich bei Ihnen, Herr Brecht. Ich treffe jetzt den Pressesprecher. Wir müssen uns irgendwie äußern.«

   Frau Steiner stand auf, nahm die mittlerweile leere Kuchentüte mit, winkte den Zurückbleibenden einen Gruß zu und verschwand. Fabian Jerschke stand ebenfalls auf. »Wenn ihr noch Fragen habt, wisst ihr ja, wo ihr mich findet. Der schriftliche Bericht folgt. Ihr könnt übrigens jederzeit in die Wohnung Maurenbrechers. Wir sind da fertig. Hier ist der Schlüssel, den uns die Freundin des Opfers gegeben hat.«

   »Tja«, sagte Tom zu Jörg und Axel. »Dann wollen wir mal die Jobs verteilen.«

 

*

 

Das geschah zum gleichen Zeitpunkt auch in der Redaktion der Düsseldorfer Zeitung. Die Redaktionskonferenz – von den jüngeren Redakteuren auch gern als Meeting bezeichnet – näherte sich dem Ende. Anna hatte bis zum Schluss darauf gehofft, dass Redaktionssekretärin Moni Goslar noch eine Pressemitteilung der Polizei hereinreichen würde, aber das war nicht geschehen. Toms Anruf am Vorabend war eindeutig gewesen. Etwas Größeres war ganz offensichtlich im Busch, aber noch nicht spruchreif. Anna machte während der Konferenz ganz bewusst keine Andeutungen. Genau wie Tom war auch ihr klar, in Situationen wie dieser war von beiden Partnern Fingerspitzengefühl gefragt. 

   An diesem Freitag war es nicht nur um die Tagesplanung für die Samstagsausgabe gegangen, sondern um eine gewisse Saure-Gurken-Prophylaxe. Im Moment war das große und beherrschende Thema der Grand Depart, also der Auftakt der Tour de France in Düsseldorf am ersten Juli-Wochenende und das thematisch damit verbundene Frankreichfest eine Woche später. Danach würde man in das große Sommerloch fallen. Die Ferien würden beginnen und man wäre wieder auf Reportagen über Kleingartenvereine, den während der Ferienzeit deutlich stärkeren Fluglärm und die Parkplatzsituation während der Rheinkirmes in Oberkassel angewiesen. Same Procedure as Every Year.

   Das fand auch der Chef der Lokalredaktion. »Ich mache das jetzt seit dreißig Jahren und wir haben das Blatt noch immer voll bekommen«, polterte Horst Wildermann genervt. »Irgendwas passiert immer. Das sollte euch eure Erfahrung lehren. Ich weiß also nicht, warum wir hier herumlungern und uns den Kopf über ungelegte Eier zerbrechen. Wenn es in ein paar Wochen kritisch wird mit den Themen, können wir immer noch anfangen, über irgendwelche Serien nachzudenken.«

   »Eben nicht, Horst«, sagte sein Stellvertreter Rainer Hausmann betont geduldig. »Du bist ab Mitte Juli für vier Wochen in deiner Kur und brauchst dann nur noch über deine Gesundheit nachzudenken. Wir anderen sind es, die sich dann kurzfristig irgendwelche Themen aus den Rippen schneiden müssen. Und da ich weder über dreißig Jahre Erfahrung noch über dein Improvisationstalent verfüge, möchte ich, dass sich hier und heute alle wenigstens ein paar Gedanken über mögliche Themen machen.«

   »Ich könnte dir mindestens zehn Serienthemen nennen.«

   »Sehr gerne, Horst. Ich höre und schreibe mit.«

   »Tja, also lass mich mal überlegen. Wie wäre es mit einer Serie über die Brücken? Wenn ich allein an die Oberkasseler Brücke und ihre Verschiebung – wann war das? Irgendwann in den Siebzigern, glaube ich – denke. Das kann man sehr spannend erzählen. Oder die U-Bahn und ihre Haltestellen...«

   »Niemand will noch etwas über die U-Bahn lesen. Alle sind froh, wenn sie einfach nur fährt.«

   »Dann macht doch was über Mode. Stellt Düsseldorfs Designer vor.« Horst sah sich im Kreis seiner Kollegen um. Begeisterung sah anders aus. »Ja, ich weiß, originell ist das nicht. Aber es kommen doch immer ein paar neue Kreative dazu. 

   Wenn ihr nicht wollt, dann eben nicht. Dann nehmt euch doch mal die Straßennamen vor. Wer war Immermann? Wer war Maximilian Weyhe? Oder Tußmann?«

   »Wer war Kölner? Oder Ratinger oder Berliner?«, flüsterte Leonie Sven ins Ohr. 

   »Was ich tatsächlich schon immer mal machen wollte, ist eine Serie über berühmte Düsseldorfer oder Menschen, die zumindest eine wichtige Zeit in ihrem Leben hier verbracht haben«, sagte Anna. »Das ginge ein bisschen Hand in Hand mit den Straßennamen. Die wirklich wichtigen Düsseldorfer haben bestimmt alle eine Straße oder Schule, die nach ihnen benannt ist. Vielleicht gibt es sogar interessante Zusammenhänge. Warum heißt ausgerechnet die Heinrich-Heine-Allee so und nicht eine der Parallelstraßen?« 

    Hausmann nickte Anna freundlich zu. »Das ist bisher noch die beste Idee. Ich hänge eine Liste ans schwarze Brett und bitte bis Montag um Vorschläge. Vielleicht kann sich dann jeder ein bis zwei Berühmtheiten herauspicken und in den nächsten Wochen schon ein bisschen recherchieren, wenn gerade nicht so viel zu tun ist.«

   »Heute ist aber viel zu tun. Deshalb bitte ich nun jeden an die Arbeit. Das Tagesgeschäft ruft laut und vernehmlich, während die Serie lediglich leise säuselt.«

   »So parliert ein prächtiger Poet, Herr Wildermann«, sagte Leonie Schmitz-Talaue. Horst sah sie misstrauisch an.

 

*

 

Tom, Jörg und Axel hatten die Aufgaben ohne Murren unter sich aufgeteilt. Jörg fuhr zum Stadtarchiv an der Worringer Straße, um mit Martin Maurenbrechers Kollegen zu sprechen, Tom und Axel machten sich auf den Weg in die Altstadt. Tom hoffte, von Martins bestem Freund Wolfgang Holstein hilfreiche Informationen zu bekommen.

   Axels Job bestand darin, den Innenhof des Hotels De Medici unter die Lupe zu nehmen und festzustellen, wer aus welchen Fenstern möglicherweise etwas gesehen haben könnte. Das war einer Haus-zu-Haus-Befragung sehr ähnlich, obwohl es sich hierbei bequemerweise nur um Zimmer handelte. Weiter sollte er sich um Wäschewagen, Mülltonnen und ähnliche Gerätschaften des Hotels kümmern, die geeignet schienen, damit Leichen abzutransportieren. Das würde eine Menge Zeit in Anspruch nehmen und ob überhaupt etwas dabei herauskommen würde, war fraglich. Aber Axel war der Jüngste im Team und ebenso belastbar wie enthusiastisch seit seiner Versetzung in seine absolute Traumdienststelle, das KK 11, das sich mit Gewaltverbrechen befasste. Momentan hatte er dort lediglich eine befristete Stelle. Er war eingesprungen, als die Kollegin Verena Maar sich in den  Erziehungsurlaub verabschiedet hatte. 

   Verena hatte Ende letzten Jahres ihren Sohn zur Welt gebracht und vertrat gleichzeitig Mutterstelle bei dessen drei Halbgeschwistern Franka, Finn und Fee. Bei der Suche nach einem Namen für das gemeinsame Kind mit ihrem Lebensgefährten Thomas Neven hatte sie übrigens lediglich F-Worte wie Felix, Florian, Fiona oder Fanny ausgeschlossen. Man hatte sich schließlich auf Heinrich geeinigt. Vier Kinder beanspruchten Verena momentan rund um die Uhr und so wussten weder Axel noch der Rest des Kommissariats, ob, und wenn ja, wann Verena wieder ins Präsidium zurückkehren würde. 

   Axel hoffte insgeheim, sie möge möglichst bald noch einmal schwanger werden. Ihr familiäres Glück lag ihm ebenso am Herzen wie ihr Job, den er zu gern auf Dauer für sich beansprucht hätte. Axel war erst Anfang 30 und sein Examen an der Polizeifachhochschule lag noch nicht allzu lange zurück. Er war sich sicher, mit Toms Team das große Los gezogen zu haben. Und auch die Chefin Frau Steiner war normalerweise ziemlich umgänglich. 

   Axel hatte Geschichten über ihren Vorgänger Kriminalrat Nölle gehört, die ihm die Haare zu Berge stehen ließen. Der Typ war offenbar ein Soziopath gewesen, der es sogar geschafft hatte, den friedfertigen Tom Brecht für ein halbes Jahr in ein Polizei-Ausbildungscamp nach Afghanistan zu verscheuchen. Tom hatte sich freiwillig dorthin versetzen lassen, um die Zeit bis zu Nölles Pensionierung zu überbrücken. Nach drei Bier hatte Tom an einem denkwürdigen Abend im Kollegenkreis erzählt, anderenfalls hätte die Mordkommission wohl gegen ihn ermitteln müssen. Solche Äußerungen fand Axel ziemlich cool. 

   Auch Jörg Möller war eigentlich ein ganz Netter, dachte Axel. Ein bisschen spießig vielleicht, aber im Prinzip schon in Ordnung. Seine Frau Bine, eine Ärztin, und seine Tochter Nora, die im Kindergartenalter war, bildeten sein Universum. Es war immer etwas schwierig, Jörg zu einem lockeren, gemeinsamen Abend zu überreden, aber Axel war bei solchen Unternehmungen nicht auf Kollegen angewiesen. 

   Axel stammte aus Düsseldorf und hatte einen umfangreichen Freundes- und Bekanntenkreis, was in seiner Altersklasse dazu führte, dass er sich ungefähr zehnmal im Jahr auf irgendwelchen Junggesellenabschieden wiederfand. Er hoffte, dass irgendwann in naher Zukunft die entsprechend Interessierten alle ihre Pendants gefunden haben würden, damit dieser Spuk endlich ein Ende hätte. Axel selbst bezeichnete sich momentan als glücklichen Single, was ihn aber nicht daran hinderte, auf freundlich gemeinte Offerten einzugehen. Er war offen für das, was das Leben bereithalten mochte, beruflich und privat.

   Und so stand er an diesem Vormittag auch mit dem positiven Gedanken an der Rezeption des noblen Hotels De Medici, dass er im Laufe des Tages bestimmt etwas Konstruktives zur Lösung des mysteriösen Zombie-Mordes - das war der von ihm gewählte Arbeitstitel des Falles - würde beitragen können. 

   Sein freundliches Auftreten in Verbindung mit seinem Dienstausweis brachte ihn schnell ins Büro des Hotel-Managers. Der lauschte Axels Bericht über die Ereignisse des Vortags in seinem Innenhof aufmerksam, verzog dann aber sein Gesicht zu einer leicht hilflosen Grimasse.

   »Verstehen Sie mich bitte nicht falsch, Herr König«, sagte der Manager, »ich will Sie natürlich unterstützen, so gut ich kann, aber bitte denken Sie an den Datenschutz. Ich kann Ihnen doch nicht einfach eine Gästeliste aushändigen. Stellen Sie sich bloß mal vor, Sie rufen bei einem der Gäste von gestern zu Hause an, Sie erwischen die Ehefrau und der Gatte war angeblich beruflich in Hannover. Was wäre dann? Das ist jetzt nur so ein typisches Klischee-Beispiel, aber Sie verstehen bestimmt mein Problem.«

   Axel nickte. »Im Prinzip schon. Aber lassen Sie uns doch erst einmal herausfinden, von welchen Fenstern man überhaupt die Tür zum Mausoleum sehen kann. Danach stellen Sie dann fest, welche dieser Zimmer gestern bewohnt waren und ob die Gäste vielleicht immer noch da sind. Bei den abgereisten Gästen sehen wir dann weiter. 

   Außerdem würde ich gern mit Ihrem Housekeeping sprechen wegen der Wäschewagen, der Mülltonnen und anderer großer Container. Vielleicht ist ja gestern solch eine Tonne abhandengekommen?«

   Axel wartete immer noch freundlich lächelnd auf eine Reaktion. Der Manager nickte schließlich wenig begeistert, und damit begann eine Tour durchs Hotel, die sich bis in die Abendstunden hinziehen sollte.

 

*

 

Jörg war mit seiner Befragung deutlich schneller fertig. Das Stadtarchiv war an diesem Vormittag nur spärlich besetzt. Jörg wurde schnell zu Peter Koslowski weitergeleitet, einem direkten Kollegen von Martin Maurenbrecher. 

   Koslowski passte kaum hinter seinen Schreibtisch. Jörg schätzte ihn auf mindestens zwei Meter Größe. Er musste sich gehörig zusammenklappen, um auf seinem Stuhl eine halbwegs bequeme Position zu finden.

   Koslowski wirkte angespannt, als Jörg sich vorgestellt hatte und um Auskunft über Martin Maurenbrecher bat.

   »Warum fragen Sie mich?«, wollte Koslowski wissen. »Nur weil wir im selben Büro arbeiten, haben wir nicht unbedingt etwas miteinander zu tun. Ich kann Ihnen da nicht weiterhelfen.«

   »Sie wissen doch noch gar nicht, was ich Sie fragen will«, stellte Jörg irritiert fest. 

   »Ich möchte einfach nichts mit ihm zu tun haben. Er interessiert mich nicht. Ich weiß nichts über ihn. Ich will auch nichts über ihn erfahren. Ich möchte einfach nur weiterarbeiten. Und das muss ich auch, weil Herr Maurenbrecher wieder mal nicht zur Arbeit erschienen ist. Irgendjemand muss schließlich die ganzen Anfragen, die hier liegen, beantworten. Oder sollen wir jedes Mal das Archiv schließen, wenn der hohe Herr etwas Besseres zu tun hat?«

   »Das ist doch schon mal ein Ausgangspunkt«, sagte Jörg geduldig. »Herr Maurenbrecher fehlt also häufig unentschuldigt und Sie haben dann seine Arbeit am Hals.«

   Der blonde Riese nickte. »Genauso ist es.«

   »Warum bekommt er dann nicht die Kündigung?«

   Dieser Satz war offenbar das Sesam-Öffne-Dich zu Peter Koslowskis empörter Seele.

   »Weil dieser Blödmann sich hier alles erlauben kann. Schließlich ist er Akademiker. Er hat Kunstgeschichte studiert, was ihn natürlich hier für einen Chefposten qualifiziert. Weil der Gute aber ein klein wenig arbeitsscheu ist, hat er hier nur einen Minijob, führt sich aber auf, als ob er der Boss von uns allen wäre. 

   Er ist allwissend, kennt jeden und ist omnipräsent, auch wenn er wie heute abwesend ist. Kurz, er ist Gott, Jesus und Heiliger Geist in einer Person. Was könnte ich Normalsterblicher Ihnen zu solch einer Lichtgestalt schon sagen?«

   Jörg hätte an dieser Stelle erwähnen können, dass seines Wissens die Dreifaltigkeit in Person von Martin Maurenbrecher zwar höchstwahrscheinlich tot, aber in der Tat keineswegs normal gestorben war. 

   »Bevor Sie jetzt weiter Dinge sagen, die Ihnen möglicherweise hinterher leidtun, muss ich Ihnen mitteilen, wir befürchten, Herr Maurenbrecher könnte einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein.«

   »O«, sagte Peter Koslowski, »dann hat er wohl heute zum allerersten Mal einen triftigen Grund, uns sitzenzulassen.«

   »Was genau hat Herr Maurenbrecher hier getan?«

   »Haha«, lachte Koslowski theatralisch. »Das ist die perfekte FAQ.«

   Selbst dem geduldigen Jörg wurde es an dieser Stelle der Befragung zu bunt. »Herr Koslowski, jetzt reicht es. Beantworten Sie gefälligst meine Frage, ob sie nun zu den häufig gestellten gehört oder nicht. Wenn Sie weiterhin nicht kooperieren, sondern nur Ihre schlechte Laune an mir auslassen, werde ich mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren.«

   Koslowski atmete tief durch und sagte kleinlaut: »Tut mir leid, Sie haben recht. Aber das Thema Maurenbrecher bringt mich einfach auf die Palme. Also er und ich haben im Prinzip den gleichen Job. In erster Linie beantworten wir Anfragen, meist von Behörden oder Museen, aber gelegentlich auch von Privatpersonen. Das kann alles Mögliche sein. Wir helfen dabei, Rechte zu überprüfen, die sich aus historischen Besitzurkunden ergeben. Wir unterstützen Studenten bei Bachelor- und Masterarbeiten. Wir suchen für das Stadtmarketing Dokumente heraus. Auch das Stadtmuseum ist ein regelmäßiger Kunde.«

   »Sie arbeiten hier in Vollzeit, Herr Koslowski?« Der Archivar nickte. 

   »Was haben Sie denn für eine Ausbildung?«

   »Ich komme aus der Verwaltung. Ich habe bei der Stadt gelernt.«

   »Seit wann arbeiten Sie und Herr Maurenbrecher im Archiv?«

   »Ich bin schon seit mehr als fünfzehn Jahren hier, Herr Maurenbrecher hat vielleicht drei oder vier Jahre nach mir begonnen. Er hat während seines Studiums hier angefangen, zu Beginn nur ein paar Stunden in der Woche. Nach seinem Examen wollte er, soweit ich gehört habe, eigentlich hier aufhören. Aber er hat keine Stelle gefunden, die seinen Ansprüchen genügt hätte. Seitdem arbeitet er hier als Minijobber. Nebenher zieht er diese lächerlichen Jan Wellem-Stadtführungen durch.«

   »Warum kommen Sie so schlecht mit Herrn Maurenbrecher klar?«

   »Weil er faul und gleichzeitig überheblich ist. Er ist unkollegial, unzuverlässig und arrogant. Diese Kombination ist unerträglich.«

   »Findest du deinen Spruch etwa kollegial?«, fragte eine Frau, die wohl die letzten Sätze mitbekommen hatte. Sie ging auf Jörg zu und streckte ihm die Hand entgegen. »Mein Name ist Helga Bartels. Ich leite das Archiv. Meine Sekretärin hat mir gerade gesagt, jemand von der Polizei sei hier wegen Herrn Maurenbrecher. Ich war außer Haus bei einem Termin. Kann ich Ihnen helfen? Herr Koslowski ist vielleicht ein wenig voreingenommen bei diesem Thema.«

   »Also Helga, wirklich. Warum fällst du mir jetzt in den Rücken? Das Problem Maurenbrecher ist doch hier im Haus wohl allgemein bekannt«, entgegnete Peter Koslowski in beleidigtem Ton. 

   »Vielleicht kommen Sie mit in mein Büro«, schlug die Chefin des Archivs vor. Jörg folgte ihr. 

   »Es ist nicht einfach«, sagte sie. »Die beiden sind wie Hund und Katze. Und ich reibe mich zwischen ihnen auf. Was ist denn eigentlich los? Warum interessiert sich die Kripo für unseren Jan Wellem?«

   »Wir haben Grund zu der Annahme, dass Herr Maurenbrecher das Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte. Im Moment wissen wir nicht, wo er ist und ob er überhaupt noch am Leben ist. Wir brauchen möglichst schnell alle Informationen, die wir über ihn bekommen können.«

   Helga Bartels wurde blass. »Ach du lieber Himmel. Was wollen Sie denn genau wissen?«

   »Nach dem Gespräch mit Herrn Koslowski wüsste ich gern ein bisschen mehr über die offenbar tiefgehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden.«

   »Jetzt denken Sie bitte bloß nicht, Peter Koslowski hätte etwas mit Martin Maurenbrechers Verschwinden – oder was auch immer – zu tun. Ich kenne im Prinzip keinen friedlicheren Menschen als Peter. Er ist nur extrem schnell beleidigt. Und er macht sich Sorgen um seinen Job.«

   Helga Bartels stockte einen Moment, redete dann aber weiter. 

   »Peter ist gründlich, langsam und kein bisschen kreativ. Es gibt kaum etwas Einschläfernderes, als ihn bei der Suche nach Dokumenten zu beobachten. Martin schafft wegen seiner kunsthistorischen Kenntnisse, seiner Intelligenz und weil er manchmal einfach quer denkt, ungefähr dieselbe Arbeitsmenge wie Peter, nur in einem Viertel der Zeit. Andererseits ist er tatsächlich unzuverlässig. Wann immer ihm etwas dazwischenkommt, können wir froh sein, wenn er uns wenigstens davon unterrichtet, dass er erst einen Tag später hier aufzutauchen gedenkt.«

   »Warum macht sich Herr Koslowski Sorgen um seinen Job?«

   »Weil Martin – ich wette, nur um ihn zu ärgern – in letzter  Zeit ein paar Mal geäußert hat, wenn sich nicht bald eine vernünftige Zukunftsperspektive für ihn ergebe, würde er sich hier im Archiv um eine Ganztagsstelle bewerben. Peter weiß genau, dass wir keine zwei Vollzeitkräfte für diesen konkreten Bereich beschäftigen können.«

   »Kann man denn so ohne weiteres einen Verwaltungsangestellten der Stadt kündigen?«

   »Ohne weiteres sicher nicht. Aber sie hören doch unentwegt, die Stadt müsse sparen. Da werden dann Stellen zusammengelegt und man findet sich eventuell schneller als einem lieb ist im Straßenverkehrsamt wieder. Da ist es hier deutlich gemütlicher. Das kann ich Ihnen versichern. Peter Koslowski ist kein Mensch, der gern Kontakt mit anderen Menschen hat. Alte Dokumente pflegen nicht zu widersprechen. Und beleidigend sind sie auch nur selten. Aber bitte bewerten Sie dieses Gerangel nicht über. Das ist Kinderkram. Den habe ich normalerweise gut im Griff.«

   »Wissen Sie, dass Herr Maurenbrecher ein Buch schreibt?«

   »Ja sicher. Niemand, der ihn kennt, ist von dieser Information verschont geblieben.«

   »Das klingt so, als sei er Ihnen damit auf die Nerven gegangen.«

   »Das kann man wohl sagen. Seit er an seiner Jan Wellem-Biographie schreibt, rührt er die Werbetrommel für den künftigen Bestseller. Ich kann langsam nicht mehr hören, wie sehr wir ihm alle die ersten Exemplare aus den Händen reißen werden wegen der Sensation, die er über den Kurfürsten enthüllen wird.«

   »Wissen Sie, welcher historische Fakt uns da aus den Schuhen hauen wird?«

   Helga Bartels schüttelte den Kopf. »Das würde unser Marketingstratege niemals vorher verraten. Er will sein Buch schließlich verkaufen. Ich nehme an, er hat hier im Archiv irgendetwas aufgestöbert, was ein neues Licht auf den Kurfürsten wirft. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es im 21. Jahrhundert außer ein paar Historikern noch irgendjemanden interessiert, ob Jan Wellem ein uneheliches Kind hatte oder heimliche Ränkepläne gegen den Kaiser von Österreich geschmiedet hat.«

   »Mögen Sie Martin Maurenbrecher?«

   Die folgende Stille gab bereits die Antwort.

   »Also nein?«, fragte Jörg.

   »Das kann man so auch nicht sagen. Martin ist schwierig, aber immerhin nicht langweilig. Er hat Pläne für ungefähr zehn Leben und vergisst dabei, dass das eine, das er hat, ziemlich planlos dahintröpfelt. Er benimmt sich wie ein Genie, ohne eins zu sein. Das macht den Umgang mit ihm für seine Umgebung nicht gerade leicht.«

   »Kennen Sie seine Freundin Frau Brandt?«

   »Charly, ja die kenne ich. Sie hat die Bodenhaftung, die ihm fehlt. Er kann froh sein, dass er sie hat. Sie tut mehr für ihn als ihm bewusst ist. Ich mag sie.«

   »Wann war Herrn Maurenbrechers bisher letzter Arbeitstag im Archiv?«

   Helga Bartels bat um einen Moment Geduld, schaltete ihren Computer ein und klickte sich in ein Programm. »Am Montag«, sagte sie. »Er hat sich von 11.15 bis 16.20 Uhr eingetragen. Das ist so eine Art Stechkartenprogramm für die Teilzeitkräfte.«

   »Könnte es sein, dass er hier - meinetwegen auch außerhalb seiner Arbeitszeit - an diesem Buch gearbeitet hat? Hier hatte er schließlich alle möglichen Dokumente, die ihm zu Hause nicht unbedingt zur Verfügung gestanden haben.«

   »Da bin ich sogar ganz sicher. Er hat mir gesagt, er trennt die Zeiten ganz genau. Er hat häufig seinen Laptop mitgebracht und an dem Buch geschrieben.«

   »Könnten sich eventuell auf seinem Dienstcomputer Buchdateien befinden?«

   »Das kann ich mir nicht vorstellen, weil er uns so strikt aus der Recherche herausgehalten und eben auch nichts über den Inhalt verraten hat, außer dass es um Jan Wellem geht. Aber Sie können gern nachschauen. Grundsätzlich sind wir vernetzt. Ob er für seinen persönlichen Bereich ein Passwort hat, weiß ich allerdings nicht.«

   Wenig später war klar: Es gab kein Passwort und keine persönlichen Dateien. Martin Maurenbrecher hatte seinen Dienstcomputer lediglich für Zwecke des Archivs benutzt. 

   Jörg verabschiedete sich von Helga Bartels und Peter Koslowski. Er hatte den Eindruck, dass sich Martin Maurenbrechers Charakter immerhin als Kontur abzeichnete. Richtig greifen konnte er ihn aber noch nicht.

 

*

 

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