Kunststück

Tatort Düsseldorf 6

434 Seiten

 

Taschenbuch

ISBN 978-1071489963

 

E-Book

 

 

 


Leseprobe

 

1. Kapitel 

 

»Prost, Prost, Prösterchen,

im Bier sind Kalorien.

Prost, Prost, Prösterchen,

im Schnaps ist Medizin.

Prost, Prost, Prösterchen,

im Wein ist Sonnenschein.

Prost, Prost, Prösterchen,

hinein, hinein, hinein.«

 

  »Mein Gott«, stöhnte Marie genervt und blickte sich nach der Geräuschquelle um. Sie bestand aus einer etwa zwanzigköpfigen, extrem gut gelaunten Menschengruppe, die direkt im Anschluss an Maries eigenen Freundeskreis an der sehrlangen Tafel am Rheinufer saß. 

  »Sag doch wenigstens ›Mon Dieu‹, schlug ihr Freund Benedikt Schuster vor, der den beim Frankreichfest obligatorischen Flammkuchen mit ein paar Gläsern Wein hinuntergespült und daher gegenüber Trinkliedern bereits ein duldsameres Stadium erreicht hatte als seine Freundin.

  »Marie hat recht«, stellte ihre jüngere Schwester Jule fest. »Wenn sie schon hier und heute singen müssen, warum dann nicht ›Frère Jacques‹ oder ›Sur le pont d’Avignon‹ oder so etwas in der Art. Alles ist besser als das.«

   Benedikt grinste seine Beinahe-Schwägerin an, fragte »Wirklich alles?« und summte vergnügt ein paar Takte ›Atemlos‹, gefolgt von einem Medley aus der ›Polonaise nach Blankenese‹, ›Mama Lauda‹ und ›Zehn nackte Friseusen‹.

  »Lieber Himmel, wie erträgst du den?«, fragte Jule ihre Schwester. »Solche Lieder sollte man überhaupt nicht kennen.«

  »Woher kennst du sie denn?«, erkundigte sich Jules Freund Nick Althaus süffisant. »Ich zum Beispiel habe so etwas noch nie gehört. Ich weiß nicht einmal, wie Frau Fischer mit Vornamen heißt.«

   Jule lächelte Nick herausfordernd an. »Wen meinst du denn mit Frau Fischer? Ich weiß gerade gar nicht, von wem du sprichst.«

   In einer der Kneipen hinter dem langen Tisch, der sich vom Burgplatz bis fast zur Kniebrücke erstreckte, brandete Jubel auf. Marie zog ihr Handy aus der Hosentasche und stellte erfreut fest: »2:0 für England. Ich bin froh, wenn das Spiel vorbei ist. Dieses Trikot ist furchtbar.«

   Marie bekundete ihre Solidarität mit den Three Lions beim Viertelfinalspiel der Fußball-WM gegen das schwedische Team durch das Tragen eines englischen Trikots, das ihr eine Freundin aus Thailand mitgebracht hatte. Das Trikot hatte umgerechnet etwa fünf Euro gekostet und war von entsprechender Qualität. Die Sonne gab an diesem Julitag alles und so fühlte sich Marie wie unter einer transportablen Sauna. 

  »Nur noch eine gute halbe Stunde«, wurde sie von Benedikt getröstet. »Wer spielt noch mal heute Abend gegen Russland?«

   »Kroatien«, antwortete Nick und deutete auf ein paar Fans an einem Käsestand, die eine rot-weiß gewürfelte Fahne trugen. In den beiden Viertelfinals des Vorabends hatten die Belgier überraschend die Brasilianer ausgeschaltet und sich die Franzosen gegen Uruguay durchgesetzt. Von der kläglich gescheiterten deutschen Mannschaft sprach schon niemand mehr. 

  »Ich hole jetzt mal ein paar Crêpes für alle«, verkündete Tom Brecht. »Oder will irgendjemand keinen?«

  »Danke, für mich nicht. Ich besorge mir selbst etwas zu essen«, meinte Jule ein wenig verkniffen. 

   Anna, Maries und Jules Mutter, sagte zu Tom: »Ich komme mit und helfe dir tragen. Sieben Crêpes schaffst du nicht allein.« Beide standen auf und liefen ungefähr fünfzig Meter zu einem Crêpes-Stand, vor dem sich eine lange Schlange gebildet hatte. 

   Marie witterte Ungemach und fragte ihre Schwester: »Hast du Stress mit Tom? Du liebst doch Crêpes. Ich habe noch nie erlebt, dass du freiwillig auf einen verzichtet hättest.«

   Jule zog die Stirn kraus, antwortete aber nicht. Marie sah ihre kleine Schwester nachdenklich an. Was war da los? Hoffentlich kein ernsthafter Streit. Im Moment lief zwischen Tom und Anna endlich mal alles so, wie es sollte. Das hatte sie jedenfalls bis zu diesem Abend gedacht. 

   Ihre Mutter Anna Heine, die als Lokalredakteurin bei der Düsseldorfer Zeitung arbeitete, hatte vor ein paar Jahren Hauptkommissar Tom Brecht von der Düsseldorfer Kripo kennengelernt. Während sich Anna in relativ kurzer Zeit in den Polizisten verliebt hatte, war umgekehrt der Funke nicht so schnell übergesprungen. Tom war nach dem Mord an einer Freundin von Anna, den sie gemeinsam erfolgreich aufgeklärt hatten, zunächst für ein halbes Jahr nach Afghanistan gezogen, wo er sich am Ausbildungsprogramm der dortigen Polizei beteiligt hatte. In Masar-e Scharif hatte er sich in eine Lehrerin verliebt, die bei einem Terrorangriff gestorben war, sich aber hinterher selbst als Mitglied der Taliban entpuppt hatte.

   Zurück in Düsseldorf war die Beziehung zwischen Anna und Tom lange diffus zwischen Freundschaft und Partnerschaft hin- und hergependelt. Vor einem Jahr, als Tom plötzlich befürchten musste, Anna durch einen Bombenanschlag verloren zu haben, fiel endlich auch bei ihm der Groschen. Zwischen dem mehr als reiflich überlegten Entschluss zusammenzuziehen und seiner Umsetzung lag dann wieder ein Dreivierteljahr, weil Tom das von ihm gemietete Reihenhaus in Unterrath räumen musste, bevor er zu Anna in die Innenstadt ziehen konnte. 

   Tom hielt sich immer noch ein Hintertürchen offen. Die wenigsten seiner Möbel hatte er in Annas völlig eingerichtete Wohnung mitbringen können. Trotzdem war nur ein Teil seiner Habe auf den Sperrmüll gewandert oder verschenkt worden. Tom leistete sich einen Container bei einer Spedition. Offiziell wurde das damit begründet, man würde ja vielleicht demnächst in eine gemeinsame andere und vielleicht größere Wohnung umziehen.

   Dafür gab es aber eigentlich keinen Grund. Für Tom war nämlich ausreichend Platz in Annas Wohnung, weil Marie zu Beginn ihres Studiums im Mehrfamilienhaus an der Karl-Anton-Straße eine Etage nach oben gezogen war, und zwar in die WG, in der bereits ihr Freund Benedikt lebte. Der Vater der Mädchen, Stanley Winter, wohnte schon seit längerer Zeit in Boston. Immerhin bemühte er sich seit etwa zweieinhalb Jahren wieder um Kontakt zu seinen Töchtern. 

   Jule war mittlerweile neunzehn und studierte an der Heinrich-Heine-Universität Jura. Eigentlich hatte sie sich für das Fach Sozialwissenschaften einschreiben wollen - angeboten wurde eine Kombination aus Medien, Politik und Gesellschaft - um danach in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Sie wollte sich nach dem Examen um ein Volontariat bei einer Zeitung bewerben. Ein längeres Gespräch mit einem Kollegen ihrer Mutter, Sven Ücker, hatte sie aber umschwenken lassen. Er hatte ihr geraten, etwas zu studieren, mit dem sie auch auf andere Weise später einmal ihre Brötchen würde verdienen können.

   »Wahrscheinlich hast du durch deine Mutter noch ganz gute Karten, einen Einstiegsjob bei einer Zeitung zu bekommen, aber wer weiß, wie lange es noch Zeitungen gibt«, hatte er pessimistisch geäußert. »Außerdem drängen immer mehr Leute in diesen Bereich.«

  So hatte sich Jule für die Jurisprudenz entschieden, die ihr alle Möglichkeiten für einen späteren Beruf, sei es nun bei Gericht oder in der Medienlandschaft, offenhielt. Bislang hatte sie diesen Entschluss noch nicht bereut. Die trockene und frustrierende Phase des Studiums lag noch vor ihr. Momentan stolperten noch in BGB-Anfangsvorlesungen die Erfüllungsgehilfen (E) des Malermeisters (M) über kostbare Mingvasen (V), die dadurch zu Bruch gingen. Das war alles noch sehr gut auszuhalten.

   Nicht ganz so rund lief es für Jule familiär. Sie wohnte noch bei ihrer Mutter, allerdings nicht mehr allzu lange, wenn es so weiterging. 

   »Was ist denn bei euch los?«, fragte Leonie Schmitz-Talaue, eine Kollegin und Freundin von Anna und ihren Töchtern, die zusammen mit ihrem Partner Sven Ücker den Rest des achtköpfigen Freundes- und Familienkreises auf dem Frankreichfest bildete. Auch Leonie und Sven wohnten mittlerweile im gleichen Haus wie der Rest. Nur Jules Freund Nick hielt sich von der Hausgemeinschaft fern. Das tat er ganz bewusst. Ihm hing dieser ganze Familienklüngel etwas zu dicht aufeinander.

   Jule seufzte. »Alles war super, bis Tom offiziell bei uns eingezogen ist. Vorher hat er ja auch schon praktisch bei uns gelebt, aber da hat er sich total anders verhalten. Da war er so was wie ein Gast. Und jetzt will er alles bestimmen und alles gehört ihm. Woher soll ich denn wissen, dass er für sich höchstpersönlich irgendwelche Matjesfilets auf dem Markt gekauft hat? Bisher war es jedenfalls so, dass das Zeug im Kühlschrank für alle da war. Wir sind doch eine Familie oder nicht?

   Und plötzlich stört es ihn auch, wenn ich irgendwelche Socken im Wohnzimmer rumliegen lasse. Der hat sie doch nicht alle. Ich lebe schon seit fünfzehn Jahren in der Wohnung und nicht erst seit ein paar Wochen, so wie er. Er soll sich gefälligst an uns anpassen und nicht ich an ihn. Oder wie seht ihr das? Jedenfalls braucht der mir nichts mehr zu essen zu kaufen. Der kann seine blöden Crêpes allein essen.«

  »Oje«, sagte Marie. »Das habe ich gar nicht so mitbekommen.«

  »Du wohnst ja auch nicht mehr bei uns«, erwiderte Jule unglücklich.

  »Du solltest auch versuchen, eine eigene Wohnung zu finden. Das wird langsam Zeit«, sagte Sven, der allerdings selbst erst im hohen Alter von achtundzwanzig Jahren von zu Hause ausgezogen war, als eine Wohnung im Haus, in dem Anna lebte, freigeworden war.

  »Am liebsten würde ich zu euch in die WG ziehen«, meinte Jule zu ihrer Schwester.

  »Du weißt, da ist nichts frei. Funda und Patrick machen keine Anstalten auszuziehen, auch wenn Patrick sich schon seit Monaten nicht mehr hat blicken lassen.«

   Jule seufzte erneut. »So kann es jedenfalls nicht weitergehen. Andererseits bin ich natürlich echt froh, dass Mama und Tom sich so gut verstehen. Wenn ich der Störfaktor bin, muss ich da eben weg. Ich bin noch nicht mal beleidigt oder unglücklich oder so. Die Situation nervt nur ganz einfach höllisch.«

  »It’s coming home, it’s coming home, it’s coming...football’s coming home«, tönte es von der Kneipe herüber. Marie zückte wieder ihr Mobiltelefon. »Gewonnen«, stellte sie fest und zog erleichtert das Polyester-Shirt über den Kopf. Darunter trug sie ein dem Wetter angemessenes Top.

   Anna und Tom balancierten jede Menge Papptabletts mit Crêpes, aus denen eine appetitliche, braune Nussnougat-Masse quoll. 

   Es waren acht Crêpes. »Hier Jule. Deiner hat eine Extraportion Nutella. Nimm ihn bitte als Entschuldigung für das Theater um die Matjes.« Tom legte eine Hand auf Jules Schulter. 

   In Jules Augen schimmerte es verdächtig. Dann grinste sie, nickte Tom zu und biss herzhaft in das Friedensangebot. 

   Anna zwinkerte Tom zu. Hoffentlich wäre damit der Matjes-Krieg beendet. 

   Als das zweite Fußballspiel des Abends begann, war es immer noch nicht dunkel. Die Sonne senkte sich jedoch langsam in Richtung Rhein, was man allerdings wegen der vielen Fress- und Trinkbuden von der langen Tafel aus nicht sehen konnte. Es wurde endlich etwas kühler. 

  »Musst du morgen auch arbeiten?«, fragte Sven Anna und deutete auf die Wasserflasche, mit der Anna inzwischen ihre Weingläser zu immer dünneren Schorlen umfunktionierte.

  »Ja. In der Galerie John wird eine Munzinger-Ausstellung im Rahmen einer Matinee eröffnet. Angeblich kommt die gesamte lokale Prominenz.«

  »Bekannt aus Funk und Fernsehen?«, lachte Leonie. 

  »So ungefähr. Hat einer von euch Dienst?«

  »Wir beide. Du weißt ja, wir versuchen das wenn möglich zusammenzulegen. Macht schließlich keinen Sinn, wenn immer nur einer von uns zu Hause ist.«

  »Ich komme nach der Ausstellungseröffnung in die Redaktion. Ihr könnt mir schon mal einen Platz freihalten für einen Zweispalter und ein bis zwei Fotos.«

  »Bist du jetzt eigentlich offizielle Ressortchefin, solange Rainer Urlaub macht?«, fragte Leonie. 

   Anna nickte wenig begeistert. »Sieht so aus. Aber irgendwann muss da jetzt mal ein vernünftiger Vertrag geschlossen werden. Das kann ja nicht ewig so vor sich hin dümpeln. Für diese Verantwortung verdiene ich ehrlich gesagt nicht genug. Und Rainer will auch endlich wissen, wie es mit ihm weitergeht.«

   Vor einem Jahr hatte Horst Wildermann, der Chef der Lokalredaktion, einen schweren Herzinfarkt erlitten. Sein offizieller Stellvertreter, Rainer Hausmann, hatte selbstverständlich die Leitung des Ressorts übernommen. Anna war zur kommissarischen Stellvertreterin ernannt worden, ohne dass sich jedoch an ihrem Gehalt etwas geändert hatte. Alle waren davon ausgegangen, dass Wildermann nach seinem Krankenhausaufenthalt und der anschließenden Reha entweder an seinen Schreibtisch zurückkehren oder aber in den vorzeitigen Ruhestand gehen würde. 

   Nichts davon war geschehen. Horst hatte sich nicht mehr blicken lassen und die Verlagsleitung antwortete auf jede Frage in dieser Richtung mit Schweigen oder Ausreden. 

   Anna war vor Horsts Infarkt eine enge Freundin ihres Chefs gewesen und hatte sich auch zusammen mit dessen Schwester liebevoll um ihn gekümmert, solange er im Krankenhaus gelegen hatte. Aber irgendetwas hatte schon vor Horsts Zusammenbruch nicht mehr gestimmt im freundschaftlichen Verhältnis der beiden Kollegen. Anna konnte Horst nichts mehr recht machen. Horst hatte ihr einfach alles übelgenommen, egal, ob sie die Umstände zu vertreten hatte oder nicht. Irgendwann hatte Anna sich resigniert zurückgezogen. 

   Jetzt trat Rainer Hausmann einen vierwöchigen Urlaub an. Zunächst wollte er an einem Magier-Kongress in Las Vegas teilnehmen. Rainers Ein und Alles neben seiner Familie war die Zauberei. Mit Beginn der Schulferien würden auch seine Frau und die Kinder ein Flugzeug in die USA besteigen. Dort wollten sie dann eine Rundreise durch Nationalparks und an der kalifornischen Küste entlang unternehmen. 

   Als Stellvertreterin des Stellvertreters war also ab sofort Anna in der Pflicht. Sie und Rainer hatten vor ein paar Tagen entschieden, unmittelbar nach Rainers Urlaub einen ganz offiziellen gemeinsamen Termin mit dem Chefredakteur zu vereinbaren, um das Problem ein für alle Mal zu klären. Es war nicht einzusehen, dass sowohl Rainer als auch sie zu den alten Gehaltsbedingungen auf Dauer neue Aufgaben übernehmen sollten.

   Mittlerweile wäre es stockdunkel gewesen, hätten nicht Tausende von Lichtern und Leuchtreklamen die Rheinuferpromenade illuminiert. In der Kneipe mit dem großen Bildschirm war offenbar gerade mal wieder so einiges los. Marie befragte ihr Smartphone. 

  »Elfmeterschießen zwischen Russland und Kroatien«, stellte sie fest. Bis auf Tom und Anna lief die ganze Gruppe hin zum Fernseher, um sich das Spektakel anzusehen. 

   Anna war müde und sah auch so aus. Tom legte einen Arm um sie. »Schade, dass du nicht einmal am Sonntag ausschlafen kannst. Um wie viel Uhr musst du morgen in der Galerie sein?«

  »Um zehn geht es los bei Prosecco und Häppchen.«

  »Prost, Prost, Prösterchen....«, dröhnte die Nachbargruppe zum gefühlt zehnten Mal an diesem Abend.  

 

 

 

2. Kapitel

 

Peter John pfiff gut gelaunt irgendetwas von Ed Sheeran. Die Melodie hatte sich in seinem Kopf festgesetzt, seit er sie am Morgen im Radio gehört hatte. Er lief die letzten Meter bis zu seiner Galerie, die in der Altstadt zwischen der Kunstsammlung NRW und der Kunstakademie lag. 

   Der Galerist überschlug im Kopf noch einmal, ob er für die Munzinger-Matinee auch an alles gedacht hatte und war diesbezüglich nicht ohne Grund optimistisch. Es war kurz vor neun. Um halb zehn wollte der Caterer liefern und um zehn sollte der Ansturm der kunstinteressierten Massen über ihn hereinbrechen.

   Munzinger war immer noch ein Name, der in Düsseldorf zog. Gut, Richter oder Uecker spielten natürlich in einer anderen Liga, oder so jemand wie der Senkrechtstarter Leon Löwentraut wäre ein Lottogewinn gewesen, aber die Max-Otto Munzinger-Ausstellung war ein solides Projekt und versprach ordentliche Publicity und Gewinne für jeden Galeristen. 

   Peter John schloss die Eingangstür zu seiner Galerie auf und wunderte sich, dass ihn die Alarmanlage nicht mit dem üblichen leisen Piepsen empfing, das darauf hinwies, sie besser innerhalb der nächsten dreißig Sekunden auszustellen, wenn man nicht einen Alarm auslösen wollte. 

   John runzelte die Stirn. Der Alarm war eindeutig aus. Wahrscheinlich hatte Mo Munzinger vergessen, die Anlage am Vorabend scharfzustellen. Der Künstler war nämlich noch mit Johns Genehmigung und einem Schlüssel vor Ort gewesen, um einige geheimnisvolle Dinge wie die Winkel von Lichtspots zu optimieren. Außerdem wollte er Flyer auslegen, um auf Werke seiner Schüler aus der Kunstakademie hinzuweisen. Immerhin hatte er wenigstens abgeschlossen, stellte Peter John noch einigermaßen dankbar fest.

   Der Eingangsbereich, also das vordere große Ladenlokal, hatte Holzdielen und neutrale weiße Wände. Hier hingen einige typische Munzingers. 

   Mo Munzinger hatte in seinem künstlerischen Leben nur vier oder fünf mehr oder weniger exzellente Ideen gehabt, mit denen er seit vierzig Jahren seinen Lebensunterhalt bestritt, und das alles andere als schlecht. Jede Idee läutete eine etwa zehn Jahre dauernde Schaffensperiode ein. 

   Ein Munzinger des laufenden Jahrzehnts, also der aktuellen Phase, war etwa einen Meter breit und sechzig bis siebzig Zentimeter hoch. Der Hintergrund bestand aus einer typischen Landschaft der Düsseldorfer Malerschule, gerne mit kleinen Flüssen, Brücken und knorrigen Weiden, also romantisch und nett. Manchmal kreierte er auch Gebäude im klassizistischen Stil. Kurz gesagt, der Hintergrund schien von Emanuel Leutze, Anselm Feuerbach oder besonders den Brüdern Achenbach gemalt zu sein. Max-Otto Munzinger hatte durchaus die handwerklichen Fähigkeiten, die nötig waren, um Bilder solcher Qualität zu produzieren.

   Eine bloße nette Neuauflage einer romantischen Niederrhein-Landschaft der Düsseldorfer Schule wäre allerdings völlig unter dem Niveau des Beuys-Schülers Max-Otto gewesen. Also gab es auf jedem Munzinger einen Hingucker, einen ästhetischen Bruch, ein ernstes Anliegen des Künstlers. 

   Und so starrte den Betrachter zum Beispiel ein unglückliches Legehuhn im Käfig an, umgeben von dazu überhaupt nicht passenden sattgrünen Bäumen. Ein überquellendes Flüchtlingsboot drohte auf dem toten Arm der Niers zu kentern. Ein Fixer setzte sich vor einem palastartigen klassizistischen Gebäude den goldenen Schuss. Ein hungerndes Kind offenbar afrikanischen Ursprungs starrte hungrigen Blickes auf ein Stillleben mit Weintrauben oder ein junger Islamist lief mit einer Handgranate durch einen Mischwald.  

   Gemalt, signiert, und fertig war der Munzinger. 

   Mittlerweile gab es natürlich schon den einen oder anderen missgünstigen Kollegen, der auf eine gewisse künstlerische Gleichförmigkeit der Arbeiten des Professors der Kunstakademie hinwies, aber diesen Schuh zog sich Mo Munzinger nicht an. Und der wirtschaftliche Erfolg, der ja auch durchaus ein Attribut der Düsseldorfer Schule zu von Schadows Zeiten gewesen war, gab ihm recht. 

   Der Galerist sah sich um und holte tief Luft. Das sah alles gut aus. Er beschloss, eine kurze Runde durch sämtliche Räume zu drehen. Vielleicht hatte Mo neben dem Scharfstellen der Alarmanlage noch andere Dinge vergessen. Er sah auf seine Uhr. Genügend Zeit hatte er.

   Peter John betrat den nächsten Raum. Sein Blick fiel auf ein Atomkraftwerk, umgeben von Weiden und Wiesen im Morgennebel. Auch in diesem Zimmer war vom Ordnungsgesichtspunkt her alles im grünen Bereich. Energiepolitisch sah das vielleicht anders aus, aber das spielte an diesem Morgen für ihn keine Rolle. 

   Im letzten Raum gab es kein Fenster. Peter John drückte deshalb bereits beim Hereinkommen auf den Lichtschalter und trat ein.

   Ein einziges monumentales Kunstwerk war hier zu bewundern, eine Koproduktion von Vater Mo und Tochter Johanna. Mo hatte insgesamt sechs Kinder von zwei Frauen, aber nur Johanna hatte sein künstlerisches Talent geerbt. Sie studierte an der Kunstakademie, an der ihr Vater lehrte. Das hatte bei der Aufnahme für ein bisschen böses Blut gesorgt, aber schon nach kurzer Zeit war allen Beteiligten klar geworden, Johanna brauchte keinerlei Protektion, weil sie einfach gut war. 

   Das große Bild war von Mo in seinem typischen Stil gemalt worden. Die gefühlt einhundertachtundneunzigste Niederrheinlandschaft war darauf zu sehen. Dominant floss der Rhein durchs Bild. In zwei Punkten wich das Kunstwerk jedoch von Munzingers üblichen Bildern ab. Zum einen war es deutlich größer. Es füllte eine komplette Wand der Galerie aus. Zum anderen war Johanna in diesem Fall für das störende Element zuständig gewesen. 

   Weil Johanna Bildhauerei studierte, war aus einem zweidimensionalen Gemälde eine dreidimensionale Installation geworden. Johanna hatte einen sterbenden Wal modelliert und über einen Zaun gehängt, der eine Viehweide vom Fluss trennte. Das Gatter war plastisch ausgearbeitet, setzte sich aber auch auf dem Bild mit ein paar Pinselstrichen fort.

   Der Wal war ganz offensichtlich an mehreren großen blauen Plastiksäcken erstickt, die über seinen Kopf gezogen waren. Damit sollte auf das Fischsterben in den mit Kunststoff zugemüllten Weltmeeren hingewiesen werden, die durch den Rhein symbolisiert wurden. Das war Johannas Anliegen. Mo hatte mit einem Anflug von Sarkasmus auch darauf hinweisen wollen, dass es Gegenden am Niederrhein gab, wo nicht mal ein toter Wal über dem Zaun hängen wollte.

   Peter John kannte das Kunstwerk natürlich gut. Es war in den letzten Tagen in seiner Galerie vollendet worden. Mo war mit dem fertigen Gemälde angerückt und Johanna mit dem Wal. Das eigentliche Arrangement war jedoch von beiden Künstlern erst am Vortag zu deren Zufriedenheit fertiggestellt worden.

   Der Galerist stutzte. Wieso waren dem Wal über Nacht Beine gewachsen? Noch hielt er die über den Zaun hängende und mit blauen Müllsäcken teilweise verhüllte Gestalt für ein Kunstobjekt. Dann sah er genauer hin.

   Der Verdacht, es könne sich doch eher um ein Subjekt als ein Objekt handeln, drängte sich ihm auf. Aber er konnte ja wohl kaum Hand anlegen an dieses Kunstwerk. Schon das Bewegen um Millimeter konnte seinen Charakter unwiederbringlich zerstören. Wahrscheinlich würde sogar die ganze Gestalt bei einer Berührung vom Zaun fallen oder abbrechen. Jedenfalls wenn er sie anfasste, gestand sich John ein. Trotz seines eher feinsinnigen Berufes war er selbst ein Grobmotoriker.

   Aber normal war das andererseits nun auch wieder nicht. Am Vorabend hatte da ein Wal gehangen, zur Hälfte verdeckt von blauen Säcken. Jetzt ragten aus diesen Säcken zwei Beine in Jeans, an deren Ende sich rote Sneaker befanden.

   Aber das war auch wieder typisch für Mos abstrusen Humor. Deshalb hatte er sicher auch den Schlüssel haben wollen. Es war ihm nicht um Lichteffekte und Flyer gegangen. 

   Peter John war geübt darin, Kunst zu interpretieren. Das war sein Job. Und so stellte er nach ein paar Minuten der Unsicherheit fest, dass Mo Munzinger offenbar demonstrieren wollte, nicht nur die Fische, sondern demnächst auch die Menschen würden am Plastikmüll zugrunde gehen. Damit beruhigte sich John wieder. Das war sicher in Ordnung so.

   Eine tolle Idee von Mo. Irgendwie hatte er es auch geschafft, das Kunstobjekt mit einem gewissen süßlichen Geruch nach Müll zu versehen. Genial. 

   Voller Respekt verließ Peter John den Raum und verschloss die Tür. Im Nachbarzimmer war ein großer Tisch aufgestellt, auf dem gleich das Buffet und die Getränke für die Gäste platziert werden sollten. Eine Tür führte von hier aus zum Hof des Gebäudes. John griff nach seinem Schlüssel, um schon einmal den Zugang zu öffnen. Der Lieferwagen des Caterers würde in ein paar Minuten durch das Tor in den Innenhof fahren.

   John drehte den Schlüssel zweimal im Schloss. Die Tür blieb zu. Merkwürdig. Offenbar hatte er gerade abgeschlossen. Er machte den Vorgang rückgängig. Die Tür ließ sich öffnen. Das würde ja bedeuten, dass die Hoftür die ganze Nacht über offen gewesen wäre. Das sollte ihm eine Lehre sein. Er würde seine Schlüssel nicht mehr irgendwelchen Künstlern zur Verfügung stellen. Der Alarm war nicht angestellt und darüber hinaus hätte auch noch jeder von hinten die Galerie betreten können. 

   Peter John hastete noch einmal durch alle Räume. Glück gehabt. Alle Munzingers hingen noch genau dort, wo sie hängen sollten. Natürlich waren sie versichert. Aber der Imageschaden wäre riesig gewesen, und ob die Versicherung unter diesen Umständen überhaupt gezahlt hätte, wollte er lieber nicht hinterfragen. 

   Die Ladenglocke bimmelte. Es war der Cateringservice. John zeigte dem Fahrer die Hofeinfahrt und überwachte in der nächsten Viertelstunde das Ausladen und Aufbauen der kleinen Köstlichkeiten. 

   Wo blieben seine Mitarbeiterin und die beiden Studentinnen, die eigens für diesen Anlass engagiert worden waren, um die Gäste mit Prosecco und Lachshäppchen bei Laune zu halten? Es war zehn vor zehn und gleich würde er sich der Meute allein gegenübersehen. Wo waren die Hauptpersonen, Mo und Johanna? Unzuverlässiges Volk, alle miteinander. 

   Zeitgleich mit den ersten Kunstinteressierten kam immerhin eine der Studentinnen. Peter John scheuchte sie zum Buffet und instruierte sie, jedem, der den Raum betrat, erst einmal ein Glas Sekt oder Saft in die Hand zu drücken. Sobald ihre Kommilitonin auftauchen würde, sollte eins der Mädchen mit einem mit Sektgläsern gefüllten Tablett im vorderen Hauptausstellungsraum stehen. 

   Der Oberbürgermeister und seine Gattin gaben sich die Ehre. Ein Vertreter der Destination Düsseldorf schlenderte an den Bildern entlang. Die Jonges waren vertreten, eine Frau Heine von der Düsseldorfer Zeitung stellte sich vor und insgesamt füllte sich der Laden immer mehr. 

   Um Viertel nach zehn betrat endlich Johanna Munzinger gut gelaunt die Galerie. 

  »Gut, dass du kommst. Wo um alles in der Welt bleibt denn dein Vater?«

  »Das ist ja komisch. Ist er noch nicht hier?«

   Peter John schüttelte frustriert sein Haupt. Zu diesem Zeitpunkt glaubte er noch fest an die Richtigkeit dieser Kopfbewegung. 

  »Dann musst du eben die Rede halten«, sagte Peter John. 

  »Kein Problem. Aber vielleicht warten wir doch noch ein paar Minuten. Schließlich ist es Mos Ausstellung und nur sehr bedingt meine. Ist der Raum mit unserem Walobjekt schon offen?«

  »Nein, wie versprochen schließe ich ihn erst nach eurer Rede für die Allgemeinheit auf.«

   Um halb elf platzte die Galerie förmlich aus allen Nähten. Mittlerweile hatten auch Johns Mitarbeiterin und die zweite Studentin ihre Wirkungsstätte erreicht. Anna hatte sich einen Überblick verschafft und auch ein paar Fotos von Munzingers Gemälden gemacht.

   Bevor sie sich auf den Weg in der Redaktion machen konnte, um ihren Artikel zu schreiben, brauchte sie noch ein paar Sätze des Galeristen. Deshalb reihte sie sich in die Menge ein, die sich rund um Peter John versammelt hatte.

  »Herr John, ich hätte noch ein paar Fragen an Sie. Haben Sie vielleicht fünf Minuten Zeit für mich? Ich müsste dann nämlich auch langsam mal wieder los.«

  »Um Himmels willen, Sie haben ja das Herzstück der Ausstellung noch gar nicht gesehen. Wir warten immer noch auf Herrn Munzinger. Er hat zusammen mit seiner Tochter Johanna ein monumentales Werk geschaffen. Es soll der Öffentlichkeit im Rahmen dieser Ausstellung vorgestellt werden.«

  »Wie lange wird das denn noch dauern?«, fragte Anna, die zu diesem Zeitpunkt noch auf einen freien Sonntagnachmittag hoffte.

  »Geben Sie mir noch fünf Minuten. Ich spreche mit Johanna Munzinger. Schlimmstenfalls müssen wir die Installation ohne ihren Vater vorführen.«

   Anna nickte geduldig und gab dem Galeristen lächelnd zu verstehen, dass es auf ein paar Minuten nicht ankäme. John eilte zu Johanna und sprach leise auf sie ein. Dann klopfte er gegen sein Sektglas und bat damit um Ruhe.

  »Liebe Gäste, leider scheint unserem Künstler Max-Otto Munzinger etwas dazwischengekommen zu sein. Deshalb wird seine Tochter nun ein paar Worte an Sie richten. Sie werden alle gleich feststellen, dass auch Johanna Munzinger federführend mit an dieser Ausstellung beteiligt ist. Liebe Johanna, unsere Aufmerksamkeit gehört ganz dir.«

   Die junge Kunststudentin machte einen erstaunlich gelassenen Eindruck angesichts der vielen Menschen, die sich ihr jetzt interessiert zuwandten.

  »Ich freue mich sehr, Sie hier alle begrüßen zu können. Ich bin sicher, mein Vater wird schon in kurzer Zeit bei uns sein, aber ich möchte Sie nicht länger auf die Folter spannen. Sie hatten sicher schon Gelegenheit, die Bilder meines Vaters in Ruhe zu betrachten. Sie sind in dem ihm eigenen Stil gemalt. Ich weiß nicht, ob jeder von Ihnen weiß, dass mein Hauptstudienfach die Bildhauerei ist. Meinem Vater und mir kam vor ein paar Wochen die Idee, unsere Fähigkeiten zusammenzuwerfen und gemeinsam ein Objekt zu schaffen, in dem wir uns beide widerspiegeln. Jeder von Ihnen wird in diesem Werk meinen Vater wiedererkennen. Dass es sich von den übrigen Ausstellungsstücken unterscheidet, ist mein Anteil an dieser Gemeinschaftsaktion. Ich hoffe, Sie alle profitieren in irgendeiner Form von der Betrachtung dieser Installation. Ihre politische Aussage ist uns sehr wichtig.«

   Johanna nickte Peter John zu. Der öffnete die bislang verschlossene Tür und schaltete gleichzeitig das Licht an. Die Menge drängte sich durch den relativ engen Durchgang und sah auf das dreidimensionale Werk.

   Irgendjemand schrie erschrocken auf. Niemand rührte sich, aber jeder schien etwas zu sagen zu haben. Das Getuschel innerhalb der Menge wurde lauter. Da aber Peter John völlig gelassen vor dem Objekt stand, beruhigten sich die Kunstliebhaber wieder. Alles schien doch wohl in Ordnung zu sein.

   Als eine der Letzten betrat Johanna Munzinger den Raum. Man bildete eine Gasse, um die Künstlerin zu ihrem Werk zu lassen. Johanna sah die Beine aus den Säcken ragen und blieb wie angewurzelt stehen. Alle Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.

  »Was soll das denn?«, fragte sie irritiert. »Hat sich da jemand einen Spaß erlaubt?« Mit einem Ruck riss sie die Müllsäcke vom Körper desjenigen, der dort über dem Zaun hing. Damit brachte sie das Objekt in Bewegung. Mo Munzinger fiel auf den schönen Holzboden der Galerie und starrte die Besucher seiner Ausstellung aus offenen Augen anklagend an.

   Entsetzen breitete sich in der Galerie aus. Es äußerte sich in unterschiedlichster Form. Einige Gäste schrien auf. Bei einem jungen Mann sorgte der Anblick der Leiche für Platz im Magen. Er gab die gerade verspeisten Lachshäppchen wieder von sich. Ein paar Besucher drängten eilig aus dem Raum, vermutlich, damit ihnen nicht dasselbe passierte. Handys wurden gezückt, um nur ja diesen Anblick nicht den sozialen Netzwerken vorzuenthalten. Johanna starrte kreidebleich auf die gekrümmte Gestalt am Fußboden.

  »Mensch Papa«, sagte sie so leise, dass es nur die direkt neben ihr Stehenden hörten. Eine davon war Anna, die bereits ihr Mobiltelefon aus der Tasche gekramt hatte, um Tom zu benachrichtigen. Sie blieb vorsichtshalber neben Munzingers Leichnam stehen, um zu verhindern, dass er von irgendjemandem noch zusätzlich bewegt oder berührt wurde. Sie wusste genug über Toms Arbeit, um sich darüber klar zu sein, dass an einem Tatort möglichst nichts verändert werden durfte. Und nach einem Tatort sah es ihrer Meinung nach ziemlich eindeutig aus.

   Auf dem weißen T-Shirt des Kunstprofessors befand sich ein roter Fleck in der Herzgegend. Mo hatte nicht stark geblutet. Anna vermutete, dass es sich um eine Schusswunde handeln könnte, war sich aber nicht sicher.

   Sie riss sich zusammen und versuchte, den allgemeinen Lautstärkepegel zu übertönen. »Bitte verlassen Sie alle den Raum. Ich rufe gerade die Polizei. Wir dürfen nichts berühren oder verändern.«

   Die meisten Gäste folgten dieser Aufforderung. Der Oberbürgermeister trat auf Anna zu und sagte: »Das machen Sie prima. ich werde mich an die Eingangstür stellen und verhindern, dass jemand die Galerie verlässt. Die Polizei will bestimmt mit allen reden.«

    Anna nickte. Sie verließ als Letzte den Raum und bat Peter John darum, abzuschließen. Dem Galeristen zitterten die Hände. Nur mit Mühe schaffte er es, den Schlüssel ins Schloss zu stecken und umzudrehen. Dann drückte er ihn Anna in die Hand.

  »Ich muss mich um Johanna kümmern. Könnten Sie vielleicht die Tür bewachen?«

  »Ja natürlich«, sagte Anna. 

   Endlich meldete sich Tom. »Hallo Tom, kommt bitte so schnell wie möglich in die Galerie John in der Altstadt. Ich befürchte, Max-Otto Munzinger ist ermordet worden. Jemand hat ihn in seiner eigenen Ausstellung in einem seiner Kunstwerke über einen Zaun drapiert. Ich nehme an, er ist erschossen worden. Ich habe dafür gesorgt, dass der Raum, in dem er gefunden wurde, abgeschlossen wurde. Der Oberbürgermeister versucht gerade, die Besucher daran zu hindern, die Galerie zu verlassen. Es ist alles ein bisschen unübersichtlich hier im Moment.«

  »Oje«, sagte Tom entsetzt. »Ich alarmiere sofort die Kavallerie und komme dann selbst so schnell ich kann. Halte bitte die Stellung und sieh zu, dass der Raum abgeschlossen bleibt. Ich bin gleich bei dir.«

   Anna benachrichtigte noch kurz ihren Kollegen Sven Ücker, der an diesem Sonntag Dienst hatte, wie er ihr ja am Vorabend berichtet hatte. Mit einem Zweispalter und ein paar Fotos würde es jetzt nicht getan sein. Wenn ein bedeutender Düsseldorfer Künstler getötet worden war, und dann auch noch die Leiche auf so spektakuläre Weise der Nachwelt präsentiert wurde, dann gehörte das nicht auf eine der hinteren Seiten des Lokalteils, sondern würde an prominenter Stelle dafür sorgen, dass den Lesern der DZ am Montagmorgen ihr Frühstück im Hals stecken blieb.

 

*

 

Es war schon Mittag, als Anna endlich in der Redaktion ankam. Sie hatte sich unterwegs ein belegtes Brötchen gekauft und freute sich jetzt erst einmal auf einen Kaffee und die Möglichkeit, ihn im Sitzen zu trinken.

   Sven und Leo hatten schon wunderbar vorgearbeitet. Sven hatte bereits in doppeltem Tempo den Lokalteil der Düsseldorfer Zeitung zugeschustert und auf diese Weise Leonie von ihrer eigentlichen Tätigkeit im Rahmen des Sonntagsdienstes freigestellt. Leonie hatte in den letzten beiden Stunden schon eine Menge zum Thema Max-Otto Munzinger recherchiert. Dabei hatte sie sich einerseits des ausgezeichneten Archivs der DZ bedient und andererseits das mittlerweile schon beinah gute alte Internet bemüht. 

   Leo steuerte nach einem Blick auf Annas erschöpftes Gesicht sofort auf den Kaffeeautomaten zu und hielt ihr wenig später einen Becher hin. »Los, jetzt erzähl!«

  »Es war wie in einer Groteske von Hermann Harry Schmitz. Wir haben alle ewig auf den großen Meister Munzinger gewartet und in Wirklichkeit war er längst da. Irgendwann hat seine Tochter die Matinee eröffnet und uns das Herzstück der Ausstellung zeigen wollen, ein monumentales dreidimensionales Kunstwerk, das sie zusammen mit ihrem Vater geschaffen hat. 

   Die Installation an sich war schon völlig verrückt. Sie sollte das Fischsterben darstellen, das wegen des Mülls in den Ozeanen immer schlimmer wird. Im Mittelpunkt stand ein toter oder sterbender Wal, der in und an blauen Müllsäcken erstickt war. Dieser Wal hing über einem Zaun, der zu einem riesigen Gemälde gehörte, auf dem aber nicht das Meer, sondern der Rhein abgebildet war.«

  »Muss man das verstehen?«, wunderte sich Sven.

  »Ich glaube nicht«, erwiderte Anna. »Munzinger malt nun mal diese Art von Landschaften und packt dann immer irgendetwas in das Bild, das überhaupt nicht passen will und soll. Das ist sein Stil. Man könnte auch sagen, das ist seine Masche. Jetzt wollte er offenbar mal etwas zusammen mit seiner Tochter machen, und da die sich gerade mit Umweltthemen beschäftigt, besonders mit dem Fischsterben in den Meeren, haben sie einfach ihre beiden Steckenpferde zusammengespannt. Ich bin Kunstbanause, aber so sehe ich das nun mal.«

  »Was ist dann passiert?«, wollte Leo wissen.

  »Wie es momentan aussieht, war Munzinger gestern Abend noch einmal in der Galerie, um dort ein paar letzte Vorbereitungen zu treffen. Offenbar ist ihm sein Mörder dorthin gefolgt und hat ihn erschossen. Dann hat er ihn gegen den Wal auf dem Monumentalbild ausgetauscht und einen Müllsack über den Kopf und den Oberkörper gezogen. So haben wir ihn dann heute bei der Ausstellungseröffnung gefunden.«

  »Krass«, sagte Leonie. »Was hat der Mörder mit dem Wal gemacht?«

  »Man hat ihn tatsächlich gefunden. Er lag auf dem Hof der Galerie, versteckt hinter drei Blumenkübeln. Jemand hat ein paar Zweige abgerissen und auf den Säcken drapiert, so dass er auf den ersten Blick wirklich kaum zu erkennen war. Als die Polizei gezielt danach gesucht hat, war es natürlich kein Problem, ihn zu finden. Schließlich ist er ungefähr einen Meter fünfzig groß.«

  »Weiß man, wann Munzinger gestorben ist?«, fragte Leo.

  »Noch nicht genau«, antwortete Anna. »Aber ich habe gehört, dass der Polizeiarzt zu Tom gesagt hat, die Totenstarre sei bereits vollständig ausgeprägt. Daraus schließen sie wohl, dass er spätestens gestern Abend gestorben ist.«

  »Und die Polizei geht tatsächlich von Mord aus?«, wollte Sven wissen.

   Anna nickte. »Er ist erschossen worden. Es lag keine Waffe herum. Selbstmord scheidet also aus. Außerdem kann er sich schlecht selbst tot über den Zaun gehängt haben.«

   Leo meldete sich zu Wort. »Ich habe so auf die Schnelle ein Dossier über Munzinger erstellt. Er war ein völlig verrückter Typ mit ausgesprochen schrägen Familienverhältnissen. Meinst du, Tom wäre daran interessiert?«

  »Bestimmt. Ruf ihn doch kurz an und frag ihn. Du könntest es ihm ja mailen.«

   Aber das wollte Tom nicht, wie sich bei dem Telefonat herausstellte. Er fragte vielmehr, ob er auf einen Kaffee vorbeikommen könne, um sich das Dossier zusammen mit Leo anzusehen. Danach könne er zu einem ersten Gespräch mit der Witwe weiterfahren.

  »Mit den Witwen«, verbesserte Leonie. »Komm einfach vorbei, Tom. Du wirst dich wundern.«

   Leonie nutzte die Zeit bis zur Ankunft Toms dafür, noch ein wenig an ihrem Steckbrief zu feilen. Dann druckte sie ihn aus, genauso wie eine ganzseitige DZ-Reportage aus dem Jahr 2017 und einen Scan einer mehrseitigen Homestory, die der Stern vor zwei Jahren über Munzinger und seine Familie gebracht hatte. Das fasste ihre Erkenntnisse gut zusammen.

   Anna einigte sich mit Sven auf den ihr zur Verfügung stehenden Platz in der Montagausgabe der DZ und informierte schon einmal kurz die Onlineredaktion, die aber bereits Kenntnis von dem Vorfall hatte. Anna hatte gerade mit ihrem Artikel begonnen, als Tom einigermaßen abgehetzt die Redaktion betrat. 

  »Ich muss noch eben zwei Telefonate führen. Danach bin ich ganz Ohr. Kann ich vielleicht einen Kaffee bekommen?«

   Während Tom mit seiner Vorgesetzten, der Kriminalrätin Dörte Steiner, und seinem Freund und Kollegen Jörg Möller kurz die Lage besprach, sorgte Leo für den Kaffee. Danach setzten sich alle zusammen an den Konferenztisch, der mitten im Großraumbüro stand. 

  »Dann leg mal los, Leo«, bat Tom.

   Leonie nickte und begann ihr Referat:

  »Max-Otto - genannt Mo - Munzinger wurde im Januar 1949 in Duisburg geboren. Er ist also 69 Jahre alt geworden. Von 1969 bis 1972 war er Schüler von Joseph Beuys an der Kunstakademie, zum Schluss einer seiner Meisterschüler. 1972 war er zwar noch nicht fertig mit dem Kunststudium, aber Beuys wurde vom damaligen Minister für Wissenschaft und Forschung, Johannes Rau, rausgeworfen und musste daher seine Lehrtätigkeit beenden. 

   Ich will jetzt nicht zu ausführlich werden, aber Beuys hatte damals entschieden, dass jeder der wollte bei ihm studieren konnte, dass es also keine Zulassungsbeschränkungen geben sollte. Es gab einen Riesenkrach. Das Sekretariat wurde besetzt, es kam zu Hungerstreiks, Boykotten, Transparente wurden geschwenkt, Unterschriften gesammelt und so weiter.

   Und mitten in diesem Chaos lernt und arbeitet unser Mo Munzinger. Das hat ihn sicherlich für sein Leben geprägt. Meine Großtante hat den ganzen Zirkus übrigens auch mitgemacht, aber das nur am Rande.

   Munzinger wird schon in relativ jungen Jahren selbst Professor an der Kunstakademie. Am Anfang seiner Karriere denken alle, aus ihm wird mal so ein Megastar wie Immendorf, Uecker oder Richter. Aber der letzte Kick fehlt immer. Trotzdem hatte er jede Menge Talent sowohl im künstlerischen als auch im kaufmännischen Bereich. Letzteres wirft man ihm oft vor. 

   Soviel erst einmal der berufliche Hintergrund. Jetzt kommt der spannende Teil, Munzingers Privatleben. 1988 heiratet er seine erste Frau Babette. Damals ist er 39 und sie 24. Babette müsste also jetzt 54 Jahre alt sein. Sie ist damals Kunststudentin und von Munzinger schwanger. Hier ist ein Foto von ihr.«

   Leo zeigte das Bild einer aparten Frau mit hennaroten Haaren, die sie zu einem Dutt hochgesteckt hatte. 

   »Sie ist Bildhauerin, hat aber nie versucht, davon zu leben. Das muss sie als Munzingers Frau auch wohl kaum. Sie betreibt das als eine Art Hobby. 

   Noch 1988 kommt Max-Ottos und Babettes Tochter Lore zur Welt. Lore hat das Talent ihrer Eltern nicht geerbt. Sie arbeitet als Gärtnerin. Sie ist unverheiratet, aber liiert, und hat keine Kinder.

   1990 wird Joseph geboren. Er ist Lehrer an einer Realschule, immerhin für Kunst und Englisch. Da scheint das Talent wenigstens durchzublitzen. Joseph lebt mit einem Kollegen zusammen.

   Jetzt wird es kompliziert. Munzinger lässt sich von Babette scheiden und heiratet die Bankangestellte Angela. Beide Ereignisse finden 1993 statt. Angela ist zu dem Zeitpunkt 21, Max-Otto immerhin schon 44. Angela ist nicht schwanger.

   Erst 1994 kommt Angelas Sohn Gustav zur Welt. Gustav ist mittlerweile also 24. Er hat die Schule abgebrochen, keine Ausbildung und jobbt bereits seit einiger Zeit in einer Bar.

   Und jetzt wird es richtig krass. 1996 werden Johanna und Harry geboren. Johanna ist die Künstlerin, die den Wal tot über den Zaun hängen wollte. Ihre Mutter ist Angela. 

   Harry kommt nur ein paar Wochen später auf die Welt. Seine Mutter ist Babette. Harry ist offenbar noch in der Berufsfindungsphase. Er hat vor zwei Jahren Abitur gemacht.

   Und last but not least wird 1997 Clara geboren. Ihre Mutter ist wiederum Angela. Clara studiert Informatik.«

   Anna sagte: »Ich kenne Clara flüchtig. Sie war mit Marie in derselben Stufe.«

   Trotz dieses Einwurfs behielt Leonie die volle Aufmerksamkeit aller.

  »Moment«, sagte Tom. »Das muss ich mir auf einen Zettel schreiben, sonst komme ich total durcheinander.«

   Er schrieb, von Leo unterstützt:

 

Babette (1964), verheiratet seit 1988, geschieden seit 1993

Kinder: Lore (1988), Joseph (1990), Harry (1996)

 

Angela (1972), verheiratet seit 1993

Kinder: Gustav (1994), Johanna (1996), Clara (1997)

 

  »Es geht übrigens das Gerücht, dass Munzinger noch zwei weitere uneheliche Kinder haben soll. Ob das stimmt, weiß ich nicht«, sagte Leo.

  »Beide Ehefrauen wohnen in zwei Häusern, die in der Golzheimer Siedlung unmittelbar nebeneinander liegen.«

  »Wie praktisch«, sagte Sven.

   Leonie gab ihrem Freund einen Tritt gegen das Schienbein. 

  »Komische Namen haben die«, stellte Tom fest. »In den Neunzigern hat doch kein Mensch seine Kinder Lore, Joseph oder Gustav genannt.«

  »Zu genau diesem Thema gibt es einen schönen Artikel im Stern, den ich dir auch ausgedruckt habe. Aber damit es die anderen auch mitbekommen, erzähle ich es kurz. Munzinger wollte, wie er selbst bei diesem Interview im Stern gesagt hat, die Kinder anspornen, indem er ihnen die Namen von großen Persönlichkeiten gab. Und weil er sehr heimatverbunden war, sollten es Menschen sein mit einem Bezug zu Düsseldorf. Jetzt könnt ihr mal raten, wen er gemeint hat.«

  »Lore, Joseph und Harry«, sinnierte Tom. 

  »Lore Lorenz«, sagte Anna. »Eine gute Wahl.«

  »Joseph ist doch bestimmt nach Munzingers Lehrer Beuys benannt«, vermutete Tom. Leonie nickte.

  »Und mit Harry kann eigentlich nur Heine gemeint sein. Mit diesem Namen wuchs er auf. Der Name Heinrich ergab sich erst später«, warf wieder Anna ein.

  »Korrekt gelöst«, sagte Leo. »Wenden wir uns jetzt den Kindern der zweiten Frau zu: Gustav, Johanna und Clara.«

  »Clara Schumann«, riet Sven. »Die hat doch mit ihrem Mann Robert einige Jahre in Düsseldorf gelebt.«

  »An der Bilker Straße«, bestätigte Anna. 

  »Gustav und Johanna finde ich schwieriger«, sagte Sven grübelnd.

  »Mit Gustav könnte Gründgens gemeint sein. Der ist, soweit ich weiß, in Düsseldorf geboren und war auf jeden Fall in den fünfziger Jahren Intendant hier am Schauspielhaus«, schlug Anna vor.

  »Bingo«, antwortete Leo lächelnd. »Bleibt Johanna.«

  »Keine Ahnung«, gab Sven zu. »Sag schon, wer das war. Schließlich ist das hier kein Quiz. Tom will bestimmt so schnell wie möglich weiterarbeiten.«

   Leonie sah Tom erschrocken an. Der winkte ab. »Zwei Minuten habe ich noch. Gib uns mal einen kleinen Tipp.«

  »Denkt ruhig wieder an Gemälde. Aber von der anderen Seite her. Meine Großtante hat mal erwähnt, diese Johanna sei die meistgemalte Frau Düsseldorfs. Manche Leute behaupten sogar, die meist gemalte Frau Deutschlands.«

  »Dann ist es klar«, sagte Anna. »Das muss Mutter Ey sein.« 

  »Ach so«, meinte Sven. »Man kennt sie einfach nicht unter ihrem Vornamen.« 

   Johanna Ey war besonders während der zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts Kunstmäzenin, obwohl sie selbst aus einfachen Verhältnissen stammte und sie ihre Kinder nach der Scheidung allein durchbringen musste. Sie eröffnete ein Café in der Altstadt, in dem sie so manchen jungen Künstler durchfütterte. Später führte sie eine Galerie, in der sie besonders Werke der Düsseldorfer Schule verkaufte. Viele junge Künstler bezahlten sie mit Portraits.

  »Also haben wir die Namen geklärt«, stellte Sven zufrieden fest. »Da haben die ja noch Glück gehabt, nicht Mahatma oder Che zu heißen.«

  »Ich glaube nicht, dass man Kindern einen Gefallen tut mit solchen Namen. Wie gesagt, ich kenne diese Clara Munzinger flüchtig. Sie hat zusammen mit Marie Abitur gemacht auf dem Humboldt-Gymnasium. Die beiden haben gelegentlich etwas zusammen unternommen, auch wenn sie nicht die engsten Freundinnen waren. Ich erinnere mich, dass man diese Clara jahrelang mit Klavierunterricht gequält hat, offenbar ohne jeden Erfolg. Sonst würde sie jetzt wohl nicht Informatik studieren. Sie scheint doch eher der mathematische als der musische Typ zu sein«, vermutete Anna.

  »Das kann aber auch passen. Denkt mal an Bach«, sagte Leo.

  »Ich muss jetzt wirklich los«, stellte Tom fest. »Du hast mir wieder mal sehr geholfen, liebe Leo. »Wie kann ich das gutmachen?«

  »Mit einem Cocktail in einer der neuen Rooftopbars«, schlug Leo vor.

   Tom nickte, obwohl diese Art Location sich auf seiner Spesenabrechnung nicht gut machen würde. 

   Er wandte sich Sven zu: »Ich sehe zu, dass unsere Presseabteilung heute noch etwas für euch zur Verfügung stellt. Aber das meiste wisst ihr ja schon durch Anna.« Er winkte mit Leos ausgedruckten Seiten und verließ die Redaktion.

   Nächste Station für Tom war die Leo-Statz-Straße in der Golzheimer Siedlung. Tom erinnerte sich noch gut an etliche Besuche bei Juliane Lang, der Witwe eines Stadtrats, dessen plötzlichen Tod er vor zweieinhalb Jahren untersucht hatte. Auch sie hatte in der Golzheimer Siedlung gewohnt, keine fünf Minuten zu Fuß von hier. Er hatte Juliane sehr nett gefunden. Wie mochte es ihr jetzt gehen? 

   Es waren immer nur kurze, aber umso intensivere menschliche Zwischenspiele mit den Angehörigen und Verdächtigen in Mordfällen. Kaum waren die Verbrechen aufgeklärt, verlor man sich wieder aus den Augen. Vielleicht sah man sich noch einmal bei Gericht, aber in den wenigsten Fällen hielt man auch weiterhin Kontakt. 

   Eine Ausnahme bildeten Christoph und Elisabeth Hill, mit denen er und Anna mittlerweile befreundet waren. Sie hatten sich bei dem spektakulären Schnitzeljagd-Fall kennengelernt und waren sich danach immer mal wieder über den Weg gelaufen, was allerdings auch daran lag, dass Christoph Hill als Rechtsanwalt auch Strafverteidiger war und so mit Tom gelegentlich beruflichen Kontakt hatte. 

   Jetzt würde er neue Angehörige und Verdächtige kennenlernen und, wie es aussah, gleich eine ganze Menge.

   Vor einer der weißen Villen parkte bereits Toms Freund und Kollege Jörg Möller. Er stieg aus seinem Wagen und ging auf Tom zu. »Schönen Sonntag«, wünschte er lapidar. Tom machte eine resignierte Handbewegung.

  »Ausgerechnet Anna hat ihn gefunden?«, fragte Jörg ungläubig.

  »Sie und hundert andere«, antwortete Tom. »Sie war dienstlich bei einer Vernissage des Toten in der Galerie John in der Altstadt. Als das Hauptkunstwerk enthüllt wurde, fiel ihnen sozusagen die Leiche entgegen. Es stellte sich heraus, dass der erschossene Munzinger wahrscheinlich vom Täter in das Kunstwerk integriert worden war. Eine völlig bizarre Geschichte.«

  »Und hier hat er gewohnt?«, fragte Jörg und deutete auf das Einfamilienhaus direkt hinter sich. 

  »Hier und dort offenbar«, antwortete Tom und bezog auch noch das Nachbarhaus mit ein. »Auch das ist ziemlich verrückt. Annas Kollegin Leonie hat im Internet und im Archiv der DZ recherchiert. Munzinger hatte offenbar zwei Frauen und von jeder drei Kinder. Die eine Familie lebt hier und die andere direkt nebenan.«

  »Zwei Frauen?«, echote Jörg verwirrt. »Du meinst, er war Bigamist?«

  »Nicht offiziell. Von der Ersten war er schon geschieden, als er die Zweite geheiratet hat. Das hat ihn aber nicht daran gehindert, drei Jahre später von beiden Frauen im Abstand von ein paar Wochen je ein Kind zu bekommen.«

   Jörg grinste anerkennend. »Cool«, sagte er.

   Tom behielt seine Gedanken lieber für sich. Jörg war für ihn ein absolut zuverlässiger Kollege und Freund. Er mochte auch dessen Frau Bine und war der Patenonkel von deren Tochter Nora. Er hatte zusammen mit Jörg auf die Geburt des kleinen Henrik vor ein paar Monaten angestoßen. Aber Freund hin oder her. Wenn Jörg diese Lebensumstände angeblich cool fand, dann war das einfach lächerlich. Tom würde lange überlegen müssen, bis ihm jemand in den Sinn käme, der noch spießiger war als Jörg. 

  »Seinen Hauptwohnsitz hat er offenbar in diesem Haus gehabt. Lass uns hier mal anfangen«, schlug Tom vor und ging entschlossen den Gartenweg entlang. Er klingelte an der Haustür. Eine Frau mit blonden streichholzkurzen Haaren öffnete die Tür und fragte: »Ja bitte?«

  »Tom Brecht von der Kripo Düsseldorf. Dies ist mein Kollege Jörg Möller. Dürfen wir hereinkommen?«

  »Ja natürlich. Ich bin Angela Munzinger. Wir haben schon gehört, was passiert ist.«

   Tom rekapitulierte noch einmal die Informationen, die Leonie ihm gegeben hatte. Angela war die zweite Ehefrau Max-Otto Munzingers, also die aktuell offizielle Witwe. Sie schien seltsam ruhig und gefasst. Die Ehegatten von vermutlich Ermordeten waren normalerweise in einem anderen Zustand. Entweder waren sie versteinert oder verzweifelt, im Ergebnis jedenfalls kaum ansprechbar. 

   Die Witwe bat ihn in ein Wohnzimmer, das Tom außerordentlich gut gefiel, abgesehen von den Bildern, die die Wände schmückten. Wie nicht anders zu erwarten, handelte es sich um Munzingers. Immerhin waren die Möbel schlicht und schön, die Wände weiß und das alte Schiffsparkett glänzte.

  »Was kann ich Ihnen anbieten, meine Herren? Kaffee, Tee, Wasser?«

  »Danke, für mich nichts«, sagte Tom. Auch Jörg schüttelte den Kopf.

  »Frau Munzinger, Sie sagten eben, Sie hätten bereits vom Tod ihres Mannes gehört. Sie waren also heute Morgen nicht mit in der Galerie John bei der Matinee?«

  »Nein, ich habe in meinem Leben schon so viele Vernissagen erlebt, dass ich einfach keine Lust mehr auf solche Veranstaltungen habe. Ich war den ganzen Morgen über zu Hause. Johanna hat mich angerufen.«

  »Wann haben Sie Ihren Mann zuletzt gesehen?«

  »Oje, da muss ich überlegen. Das wird so drei oder vier Tage her sein. Ist das wirklich wichtig für Sie?«

  »Lebten Sie von Ihrem Mann getrennt?«

  »Das ist schwer zu beantworten. Mo hatte mehrere Wohnsitze. Mal wohnte er ein paar Tage lang hier, dann war er wieder eine Zeit lang nebenan bei seiner ersten Frau Babette und den gemeinsamen Kindern. Gelegentlich lebte er auch ganz woanders. In letzter Zeit hat er recht häufig bei einer seiner Studentinnen übernachtet, einer gewissen Jana Vollmer. Sie wohnt irgendwo in Bilk. Die genaue Adresse kenne ich nicht, aber das lässt sich bestimmt herausfinden.«

   Tom notierte den Namen Jana Vollmer. Gab es da sozusagen eine dritte Frau? Tom wandte sich wieder an sein Gegenüber. »Frau Munzinger, entschuldigen Sie, aber die Familienverhältnisse scheinen mir doch hier recht kompliziert zu sein. Könnten Sie sie mir bitte kurz erläutern?«

  »Tja, da haben Sie recht. Für einen Außenstehenden ist unser Beziehungsgeflecht vielleicht nicht ganz nachvollziehbar. Als ich meinen Mann kennenlernte, war er noch mit seiner ersten Frau verheiratet und hatte zwei Kinder im Kindergartenalter, Lore und Joseph. Wir haben uns kennengelernt, es traf uns wie ein Blitz, wir waren schrecklich verliebt. Mo hat sich scheiden lassen und mich geheiratet, ist aber irgendwie nie so ganz von seiner ersten Frau losgekommen. 

   Babette wohnt direkt nebenan. Sie hat das Nachbarhaus mit in die Ehe gebracht. Es war ihr Elternhaus. Ungefähr zum Zeitpunkt der Scheidung von Mo und Babette wurde dieses Haus hier verkauft. Mo fand die Idee gut, mit mir hier einzuziehen. Mir hat er damals erzählt, es ginge ihm darum, für seine Kinder aus der ersten Ehe weiterhin ein immer erreichbarer, zuverlässiger Vater zu sein. Zum damaligen Zeitpunkt war ich noch sehr jung und naiv und habe ihm das tatsächlich abgenommen.

    Wir haben dann unseren ersten Sohn bekommen, Gustav. Das war 1994. Mo hat sich wirklich aufgeteilt. Er hat sich um Gustav und mich gekümmert, aber auch häufig um Lore und Joseph. Dass er auch sehr intensiven Kontakt zu Babette gepflegt hat, habe ich erst 1996 bemerkt, als ich mit Johanna schwanger war und feststellen musste, dass auch Babette immer fülliger wurde. Erst durch ein sehr intensives Gespräch mit Babette bin ich auf den Trichter gekommen, dass mein geliebter Ehemann sehr kurz hintereinander zweimal Vater werden würde. Ich war total entsetzt, zunächst über Mos Untreue, im Nachhinein aber mehr über meine Naivität in dieser Sache. Irgendwie ist es uns dann trotzdem gelungen, uns zusammenzuraufen. Mo war da sehr integrativ unterwegs. Schließlich war es für ihn die optimale Lösung: zwei Häuser, zwei Frauen und fünf Kinder. 

   Babette war die Gewinnerin, weil Mo ja zumindest teilweise zu ihr zurückgekehrt war. Für die Kinder war es ohnehin schon völlig normal, zusammen mit ihren Geschwistern und Halbgeschwistern aufzuwachsen. Es gab eine Lücke in der Hecke zwischen den beiden Gärten, die von ihnen oft und gern genutzt wurde. Die einzige Verliererin war eigentlich ich. Am Anfang habe ich Zeter und Mordio geschrien und damit gedroht, Mo zu verlassen und ihm seine Kinder zu entziehen.

   Mo hat gesagt, er liebe mich unendlich, unsere gemeinsamen Kinder seien schrecklich wichtig, genau wie seine Kinder mit Babette. Und er könne nichts dafür, ein Stück seines Herzens sei eben auch für Babette reserviert. Wenn ich ihn verlassen wollte, müsse er das zwar akzeptieren, ja sogar verstehen, aber ich würde mit diesem Schritt wirklich alle schrecklich unglücklich machen, ihn, die Kinder und angeblich sogar Babette, die mich in den letzten Jahren liebgewonnen hätte.

   Ich habe an diesem Abend eine fast volle Flasche Cognac geleert. Mo hat mich ins Krankenhaus gebracht, wo ich meine Alkoholvergiftung auskuriert habe. Er, Babette und die Kinder saßen an meinem Bett. Die Kinder haben geweint. Mo hatte Angst, dass es sich um einen Selbstmordversuch gehandelt haben könnte und war völlig fertig mit den Nerven. Babette hat einfach den Mund und meine Hand gehalten. Nach zwei Tagen wurde ich entlassen und damit begann dann auch ganz offiziell unsere Ménage-à-trois, besser gesagt unsere Ménage zu damals noch sechst. Ich machte mir ganz schreckliche Vorwürfe wegen der Alkoholvergiftung in der Schwangerschaft. Gott sei Dank hat mir Johanna diesen einmaligen Exzess nicht übelgenommen. Sie ist gesund zur Welt gekommen, genau wie Babettes Sohn Harry. 

   Babette und ich fuhren in diesem denkwürdigen Sommer 1996 gemeinsam mit den Kinderwagen in Kolonne durch die Golzheimer Siedlung. Unsere Nachbarn haben die Situation sichtlich genossen. Wir waren sozusagen die Vorläufer von Netflix. Wir waren die Seifenoper, die sich an ihren Grundstücksgrenzen abspielte.

   Harry war Babettes letztes Kind. Ich habe danach noch Clara bekommen, was aber nicht bedeutet, dass Mo die Nächte ausschließlich in diesem Haus verbracht hat.

   Haben Sie mir folgen können, meine Herren?«, lächelte Angela Munzinger.

  »Ja, so in etwa.« Tom war heilfroh über Leonies Einführung in die Familiengeschichte der Munzingers. Andernfalls wäre es wirklich sehr verwirrend gewesen. 

  »Ich werde auch mit der ersten Frau Munzinger sprechen müssen und natürlich mit all Ihren Kindern. Haben Sie irgendeinen Verdacht, wer Ihren Mann getötet haben könnte?«

  »Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Ich denke, dafür kämen eine ganze Menge Leute infrage. Mo war nicht gerade eine einfache, geradlinige Persönlichkeit. Ich weiß, dass es zum Beispiel gravierende Querelen in der Kunstakademie gab. Die Leitung hat seit Monaten versucht, ihn zur Aufgabe seiner Professur zu überreden. Immerhin ist er schon neunundsechzig, oder er war neunundsechzig, sollte ich wohl besser sagen. Konzentrieren Sie sich also nicht nur auf die Familie. Das ist der Rat, den ich Ihnen gebe.«

   Tom ließ diesem Rat unkommentiert. Es war nur natürlich, dass Angela Munzinger von sich und ihren Kindern ablenken wollte. Ob das auch für die andere Familie ihres Mannes galt, blieb abzuwarten.

  »Wo waren Sie gestern Abend, Frau Munzinger?«, schaltete sich Jörg in das Gespräch ein.

  »Da war ich mit seiner ersten Frau Babette in der Altstadt auf dem Frankreichfest«, erklärte die Witwe. »Schon witzig, dass wir beiden Ehefrauen uns jetzt gegenseitig mit einem Alibi versorgen. Aber ich denke, das lässt sich ganz gut überprüfen. Babette hat Fotos gemacht.«

  »Zunächst gehen wir selbstverständlich davon aus, dass Sie die Wahrheit sagen. Bei der Überprüfung des Alibis komme ich auf die Fotos zurück. Können Sie mir vielleicht noch sagen, von wann bis wann Sie mit der anderen Frau Munzinger in der Altstadt waren?«

  »Wir sind relativ früh losgezogen. Wir waren erst am Rathaus, um ein bisschen von dem offiziellen Programm mitzubekommen, sind dann aber doch irgendwann zur Rheinuferpromenade gelaufen. Dort haben wir an einer langen Tafel gesessen, Wein getrunken und Flammkuchen gegessen.«

  »Da hätte ich Ihnen sogar beinahe ein Alibi geben können«, stellte Tom fest. »Genau dieses Programm habe ich gestern Abend auch absolviert. Auf welcher Höhe haben Sie denn an der Tafel gesessen?«

  »Das war ganz in der Nähe vom Burgplatz, wahrscheinlich keine fünfzig Meter von der Treppe entfernt.«

  »Und wann waren Sie wieder zu Hause?«

  »Ich habe nicht auf die Uhr gesehen, aber es war schon spät, auf jeden Fall nach Mitternacht. Ich schätze mal, so gegen ein Uhr, aber ich würde mich nicht auf eine halbe Stunde festlegen wollen.«

  »Ist zufällig gerade eines Ihrer Kinder hier im Haus?«, fragte Jörg.

  »Ich vermute, dass Clara noch oben in ihrem Zimmer ist. Vielleicht ist sie aber auch nebenan. Sie war jedenfalls ziemlich schockiert, als sie vom Tod ihres Vaters erfuhr. Mir hat sie gesagt, sie müsse jetzt allein sein.«

   Tom und Jörg sahen sich ungläubig an. Da rief die eine Tochter an und teilte ihrer Familie mit, man habe ihren Vater ermordet aufgefunden und das auch noch auf reichlich spektakuläre und makabre Weise. Und dann bestand das Ergebnis dieses Anrufs darin, dass die Mutter sehr cool reagierte und die Schwester sich in ihr Zimmer verzog. Der Zusammenhalt unter den Frauen dieser Familie schien nicht allzu groß zu sein.

  »Könnten Sie bitte feststellen, ob Ihre Tochter Clara auf ihrem Zimmer ist?«

   Angela Munzinger öffnete die Wohnzimmertür, ging ins Treppenhaus und rief nach oben: »Clara, bist du noch da? Wenn ja, komm bitte herunter. Die Polizei möchte mit dir sprechen.«

   Eine Tür im Obergeschoss öffnete sich und man hörte hastige Schritte auf der Treppe. Kurz darauf betrat Clara Munzinger das Wohnzimmer. Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich, hatte jedoch lange Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz hochgebunden hatte. Und sie war deutlich weniger geschminkt als Angela. Das Makeup war jetzt allerdings im ganzen Gesicht verteilt. Clara hatte ganz offensichtlich geweint. Tom fühlte Sympathie mit dem jungen Mädchen. Wenigstens einem Menschen schien der Tod Munzingers an die Nieren zu gehen.

   Tom stellte sich und Jörg vor und befragte Clara so behutsam wie möglich. Er brachte jedoch wenig Zusammenhängendes aus ihr heraus. Clara zitterte, war kreidebleich und litt so offensichtlich, dass er beschloss, eine gründlichere Befragung auf den nächsten Tag zu verschieben. Er hatte nicht den Eindruck, mit einer Mörderin zu sprechen.

   Clara war, wie sie sagte, am Vorabend mit ein paar Freunden unterwegs gewesen. Man würde das noch überprüfen, aber im Moment gab es keinen Grund für ihn, diese Aussage zu bezweifeln und die offenbar ehrlich trauernde Tochter weiter zu belästigen. Clara war erleichtert, dass sie gehen durfte und rannte die Treppe hinauf.

   Tom wandte sich wieder an Angela Munzinger. »Ihre Tochter Johanna war ja vor Ort und hilft uns bereits bei der Aufklärung. Wie kann ich mit Ihrem Sohn Gustav in Kontakt kommen? Ich nehme an, er weiß bereits Bescheid.«

  »Ich habe mit Gustav telefoniert. Ich gebe Ihnen gleich seine Handynummer. Gustav wohnt nicht mehr in diesem Haus. Er hat ein Apartment in Pempelfort. Wo er im Moment ist, kann ich Ihnen nicht sagen. Aber Sie können ihn ja anrufen.« 

  »Er ist also nicht auf dem Weg zu Ihnen?«, fragte Tom irritiert.

  »Nein. Sie müssen wissen, es gab in letzter Zeit durchaus Spannungen zwischen meinem Mann und meinem Sohn. Es war nichts Gravierendes. Er hatte also keinen Grund, meinen Mann umzubringen, nur für den Fall, dass sie auf diesen absurden Gedanken kommen sollten. Aber diese Spannungen haben dazu geführt, dass sich Gustav zurückgezogen hat. Er war nicht mehr oft hier in der Golzheimer Siedlung. Meistens habe ich mich mit ihm irgendwo in der Stadt getroffen. 

   Gustav brauchte einfach etwas Freiraum. Er ist vierundzwanzig und immer noch dabei, sich selbst zu finden. Dieser Job als Barkeeper, den er momentan hat, ist nur eine Übergangslösung. Vielleicht kommt er jetzt zur Ruhe, wenn sein Vater ihn nicht mehr unter Druck setzen kann. Dann hätte Mos Tod wenigstens einen positiven Aspekt.«

   Tom und Jörg wurden immer schweigsamer. Sie ließen sich von Angela Munzinger Gustavs Telefonnummer geben und verabschiedeten sich dann fürs Erste. Sie gingen durch den Vorgarten zurück auf die Leo-Statz-Straße und von dort aus ein Haus weiter. Sie klingelten am Gartenpförtchen und warteten, bis ein Surren ertönte und sich die Tür öffnen ließ.

   Im Gegensatz zum nüchternen, gepflegten Vorgarten des Nachbarhauses war dieser Garten prall gefüllt mit sommerlicher Farbenpracht. Ganz offensichtlich gehörte er jemandem mit viel Liebe für alles, was grünte und blühte. In der Tür stand eine rothaarige Frau in den Fünfzigern, die sie erwartungsvoll ansah. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, das ihre üppigen Kurven angemessen zur Geltung brachte.

  »Guten Tag«, sagte sie und lächelte ihre Besucher fragend an. Tom zückte seinen Ausweis und stellte sich und seinen Kollegen vor. Jäh wich das angedeutete Lächeln aus Babette Munzingers Gesicht. »Um Himmels willen, es ist doch wohl hoffentlich nichts passiert?«

  »Hat man Sie etwa noch nicht benachrichtigt? Ich dachte Frau Munzinger, ich meine Frau Angela Munzinger, hätte bereits mit ihnen geredet.«

  »Nein, hat sie nicht«, sagte Babette tonlos. »Ist etwas mit den Kindern? Nun reden Sie schon. Sie sehen doch, dass Sie mir Angst machen.«

  »Ihren Kindern geht es gut, Frau Munzinger. Mir ist jedenfalls nichts Gegenteiliges bekannt. Allerdings ist Ihrem Exmann etwas zugestoßen. Dürfen wir vielleicht hereinkommen?«

  »Mo? Was hat er denn? So sagen Sie mir doch, was los ist.« Immer noch standen die drei an der Haustür.

  »Max-Otto Munzinger wurde heute Morgen in der Galerie John tot aufgefunden. Es tut mir leid, dass wir die Überbringer dieser schlechten Nachricht sind. Wir haben gerade mit Frau Angela Munzinger gesprochen, die unter anderem erwähnt hat, dass auch Sie noch ein sehr enges Verhältnis zu ihrem Exmann hatten.«

   Babette Munzinger starrte die beiden Polizisten erschrocken an und bat sie ins Haus, nachdem sie endlich begriffen zu haben schien, was passiert war. Sie führte sie in ein ebenso gemütliches wie unordentliches Wohnzimmer. Es bestand aus einem wahren Topfpflanzen-Dschungel, buntgemusterten Sofas, einer unübersichtlichen Menge kleiner Beistelltische und einer riesigen Bücherwand. Überall gab es Kerzen, kleine Buddhas und andere Stehrümchen. Sie deutete auf eins der Sofas. Tom und Jörg setzten sich. Babette nahm gegenüber auf einem geblümten Sessel Platz. 

  »Also, nun sagen Sie schon, was ist denn genau passiert?«

  »Nach unseren bisherigen Erkenntnissen wurde Herr Munzinger gestern Abend bei einem Besuch der Galerie John von einem Unbekannten erschossen. Herr Munzinger hatte vom Galeristen den Schlüssel bekommen, um letzte Hand an die Ausstellung zu legen, die heute Morgen eröffnet werden sollte. 

   Vermutlich war es der Täter, der Herrn Munzingers Leiche in ein Kunstwerk integriert hat. Eigentlich hätte in der Installation die Skulptur eines toten Wals hängen sollen. Bei der Matinee hat man lange und vergeblich auf das Erscheinen des Künstlers gewartet und letztlich die Ausstellung ohne ihn eröffnet. So wurde er von seiner Tochter Johanna gefunden.«

  »Arme Hanna«, sagte Babette Munzinger leise. »Finden Sie nicht, dass sich die ganze Geschichte ziemlich skurril anhört?«

  »Nicht nur die Entdeckung seines Körpers, Frau Munzinger. Offen gestanden finde ich auch die Familienverhältnisse etwas ungewöhnlich.«

   Babette nickte. »Für einen Außenstehenden sieht das sicher so aus. Aber man darf einen Künstler wie Mo nicht mit den üblichen Standard-Moralvorstellungen messen. Damit würde man ihm nicht gerecht. Auch wenn ich in diesem Jahr schon silberne Scheidung mit ihm gefeiert habe, so liebe ich ihn doch irgendwie immer noch.«

   Ihre Stimme brach. »Oder habe ihn bis gestern geliebt. Unsinn, man kann jemanden auch über den Tod hinaus lieben. Ich habe nie aufgehört, Mo zu lieben, egal was er mir angetan hat mit der Scheidung, der anderen Frau und deren Kindern.«

   Sie brach in Tränen aus. »Und jetzt ist er tot. Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.« Hilfesuchend sah sie Tom und Jörg an. »Sagen Sie doch bitte, dass das nicht stimmt.«

   Die beiden Kripo-Beamten blieben stumm. Babette Munzinger liefen die Tränen über die Wangen. Tom gab ihr ein paar Minuten Zeit. Dann fragte er: »Wo waren Sie gestern Abend, Frau Munzinger?«

  »Auf dem Frankreichfest.«

  »Kann das jemand bestätigen?«

   Babette nickte. »Ich war zusammen mit Angela dort. Vielleicht verstehen Sie das sogar, wenn ich es Ihnen erkläre. Wir waren keine erbitterten Feindinnen mehr. Wir haben beide akzeptieren müssen, dass Mo zwei Frauen liebte. Mindestens zwei, um ehrlich zu sein. Da gab es immer noch mal zwischendurch irgendwelche Intermezzi, von denen wir beide so wenig wie möglich erfahren wollten. 

   Man kann jetzt auch nicht sagen, dass Angela und ich die allerbesten Freundinnen sind. Aber es war mittlerweile eine friedliche Koexistenz, die manchmal sogar zu gemeinsamen Unternehmungen wie gestern Abend führte. Eigentlich ist Angela eine coole Socke. Wenn sie einen anderen Mann gehabt hätte, hätte ich mich um ihre Freundschaft gerissen.«

   »Können Sie mir sagen, von wann bis wann sie ungefähr auf dem Fest waren?«

   »Wir sind hier gegen achtzehn Uhr losgegangen und waren um halb zwei zurück.«

   »Sie sprachen eben von irgendwelchen Intermezzi. Ist Ihnen der Name Jana Vollmer ein Begriff?«

   Babette nickte. »Jana ist eine von Mos Kunststudentinnen. Sie ist die Exfreundin von Angelas Sohn Gustav. In dieser Funktion habe ich sie kennengelernt.«

   Jörg machte sich eine Notiz. »Haben Sie ihre Adresse oder Telefonnummer?«

   Babette schüttelte den Kopf. »Fragen Sie doch Gustav«, schlug sie vor. 

  »Das werden wir«, antwortete Tom. »Könnte es sein, dass Ihr Exmann mit der ehemaligen Freundin seines Sohnes liiert war?«

   Babette nickte. »Das wäre möglich.« 

  »Gab es deshalb Spannungen zwischen Vater und Sohn?«

  »Das sollten Sie besser Gustav oder vielleicht sogar Angela fragen, aber nicht mich. Ich hatte genug zu tun mit den Spannungen zwischen meinen eigenen Kindern und ihrem Vater.«

  »Bitte erklären Sie uns das.«

  »Unsere Tochter Lore ist ein sehr bodenständiger Mensch ohne jegliche künstlerische Ambition. Sie ist Gärtnerin, und zwar eine hervorragende. Schauen Sie sich meinen Garten an, dann wissen Sie, wovon ich rede. Ihr Vater hat ihr immer vorgeworfen, spießig und nicht kreativ genug zu sein. Schließlich wachse alles von allein. 

   Unser Sohn Joseph ist Lehrer, hat also auch eher eine bürgerliche Existenz gewählt und keine künstlerische. Immerhin hat er, nur um seinem Vater eine Freude zu machen, als Nebenfach Kunst gewählt. Leider hatte Joseph das Pech, dass seinem Vater sein Partner nicht gefällt.«

  »Gefiel Herrn Munzinger dieser konkrete Partner nicht oder die Tatsache, dass es einen Partner und keine Partnerin gibt?«

  »Das ist eine gute Frage, die ich nicht schlüssig beantworten kann.«

  »Und ihr drittes Kind, Harry?«

  »Harry ist für sein Alter noch extrem unsicher. Er ist zweiundzwanzig, aber was sein Sozialverhalten angeht, könnte man ihn für sechzehn halten. Er leidet sehr darunter, dass er das einzige der sechs Kinder ist, das unehelich geboren wurde. Mo und ich waren zu dem Zeitpunkt ja schon geschieden. Harry und Johanna sind fast gleichaltrig und deshalb irgendwie miteinander verbunden. Johanna und auch Lore drängen Harry immer wieder, für ein Jahr ins Ausland zu gehen, ›Work and Travel‹ in Australien zum Beispiel. Johanna meint, je weiter entfernt, desto besser für Harry. Ihrer Meinung nach muss er sich ganz dringend aus dieser krakenartigen Familie befreien, um wieder Luft zu bekommen. Und ich glaube mittlerweile, sie hat recht damit.«

  »Ist eines Ihrer drei Kinder momentan hier?«

   Babette schüttelte den Kopf. »Lore und Joseph haben ihr eigenes Zuhause. Harry wohnt zwar noch hier, ist aber heute unterwegs. Ich habe keine Ahnung, wann er zurück ist.«

   Tom ließ sich die Telefonnummern und Adressen geben und bat darum, Mos Zimmer in Babettes Haus sehen zu dürfen. Sie führte ihn in eine Art Arbeitszimmer, ausgestattet mit einem Schreibtisch, Bücherregalen und einer Couch. 

  »Wir würden uns hier gern ein bisschen umsehen, wenn möglich ungestört. Ist das in Ordnung für Sie?«

   Babette nickte. »Ich rufe jetzt meine Kinder an. Ich möchte nicht, dass sie vom Tod ihres Vaters durch die Medien erfahren.«

  »Sagen Sie bitte allen dreien, dass wir uns sobald wie möglich mit ihnen unterhalten möchten. Hier ist meine Karte. Bitte geben Sie ihnen meine Mobilnummer.«

   Der restliche Sonntag verging mit weiteren unergiebigen Untersuchungen. Die Hoffnung, das Verbrechen an Mo Munzinger schnell aufzuklären, erfüllte sich nicht.

 

 

3. Kapitel

 

Für einen Montagmorgen bot die Küche der WG einen mehr als ungewöhnlichen Anblick. Alle drei Bewohner waren nämlich gleichzeitig um den Küchentisch versammelt, auch wenn sie sich gegenseitig nicht wahrzunehmen schienen. Fundas Augen waren auf ihr Smartphone gerichtet. Sie wischte sich mit dem Finger durch irgendwelche sozialen Netzwerke, eine Tätigkeit, die sie nur unterbrach, wenn sie nach ihrem Marmeladenbrot griff, von dem sie gelegentlich abbiss.

   Benedikt las die Düsseldorfer Zeitung, allerdings als E-Paper auf seinem iPad. Ab und zu griff er nach seinem Löffel und tauchte ihn in seine Müslischale.

   Marie hatte ein Skript tatsächlich noch in Papierform vor der Nase. Sie sollte an diesem Nachmittag ein Referat halten, war etwas nervös deswegen und versuchte sich durch letzte Informationen zum Thema auf mögliche Fragen seitens der Kommilitonen oder des Dozenten vorzubereiten.

   1LIVE lief leise im Hintergrund.

   Benedikt war noch nicht im Bad gewesen. Er war unrasiert und trug eine Art Schlafanzug, bestehend aus einer Jogginghose und einem T-Shirt, das schon bessere Tage gesehen hatte. Auch Marie hatte sich noch nicht zurechtgemacht. Das wäre für Funda nicht infrage gekommen. Sie saß fertig angezogen und frisch wie der Frühling am Tisch. Sie fühlte sich zwar in der WG absolut zu Hause, aber bei solchen Verhaltensweisen stand ihr die doch etwas strengere Erziehung ihrer muslimischen Eltern im Wege. Sie hätte sich nie im Schlaf-T-Shirt zusammen mit Benedikt an einen Tisch gesetzt.

   Marie legte ihr Skript beiseite und griff nach einer Scheibe Brot, die sie großzügig mit Nutella bestrich. Sie wollte gerade abbeißen, als sich die Küchentür öffnete. Alle drei sahen irritiert hoch.

   Im Türrahmen stand ein nicht allzu großer kugelbäuchiger Mann so um die Fünfzig und lächelte sie freundlich an. »Hallo erst mal«, sagte er, »ich bin der Willi.«

   Marie, Funda und Benedikt starten Willi an. Tatsächlich vergingen ein paar Sekunden, bis Benedikt sagte: »Ich glaube, Sie haben sich in der Tür geirrt. «

  »Wie sind Sie überhaupt hereingekommen?«, fragte Marie.

   Willi hob die Hand, um auf seinen Schlüssel aufmerksam zu machen. Er lächelte konstant weiter. »Hat Patrick euch etwa nichts gesagt?«

    Benedikt stöhnte. Er ahnte, diese Situation könnte sich als komplizierter erweisen, als man im ersten Moment gedacht hatte. »Sind Sie ein Freund von Patrick?«

   »Könnte man so sagen. Eigentlich bin ich der Cousin seiner Mutter, aber er ist ein netter Kerl, der Patrick. Also ist Freund kein so verkehrter Ausdruck. Ihrkönnt mich übrigens ruhig duzen. Wie gesagt, ich bin der Willi. Und wer seid ihr?«

   Benedikt stand auf. »Ich heiße Benedikt und das sind Marie und Funda, aber eigentlich musst du das gar nicht wissen, Willi. Erklär uns bitte, was du hier machst, und dann wäre es nett, wenn du wieder verschwinden könntest. Wie du siehst sitzen wir beim Frühstück und sind noch nicht auf Besucher eingestellt.«

  »Schon klar«, sagte Willi. »Aber du verstehst das nicht richtig, Benedikt. Ich wohne nämlich ab sofort hier.«

  »Das glaube ich kaum«, sagte Marie grimmig.

   Willi ließ seine roten Hosenträger gegen seinen Bauch schnipsen. »Ach, seid doch nicht so unfreundlich. Patrick hat mir gesagt, ich könnte sein Zimmer für ein paar Wochen haben. Ich bin nämlich wohnungslos im Moment. Mein Vermieter hat mir gekündigt und ich habe noch nichts Neues. Ihr wollt doch sicher nicht, dass ich unter der Brücke pennen muss. Ich bin gut verträglich und das Ganze ist doch nur vorübergehend.«

   Funda, die Nette, empörte sich für ihre Verhältnisse ganz schön. »Das kann Patrick doch nicht einfach so entscheiden. Er hätte uns fragen müssen. Und ist das überhaupt mit dem Hauseigentümer abgesprochen? Weiß Herr Knecht von der Sache?«

  »Jetzt haltet doch mal den Ball flach, Kinder. Ich bin einfach nur für ein paar Wochen zu Besuch hier. Da muss man doch nicht gleich den Hauswirt kirre machen. Ihr werdet meine Anwesenheit gar nicht bemerken. Oder seid ihr so unmenschlich, mich tatsächlich auf die Straße zu jagen?«

  »Ja, das sind wir. So geht das einfach nicht. Wir kennen Sie überhaupt nicht. Vielleicht sind Sie ein entflohener Sträfling, der uns alle in unseren Betten ermordet«, sagte Marie streng.

  »Und ich dachte, eure Generation wäre ein bisschen lockerer. Ist das die Willkommenskultur gegenüber Menschen, die in einer Notlage sind?«

   Benedikt verließ die Küche und rief vom Flur aus Patrick an. Er hatte Glück. Sein ehemaliger Mitbewohner meldete sich sofort. Durch die geöffnete Tür hörten Marie, Funda und natürlich auch Willi jedes Wort, das Benedikt in sein Smartphone zischte.

  »Du Penner, hast du uns diesen Willi geschickt? Das kann ja wohl nicht wahr sein. Der Typ steht einfach bei uns in der Küche und wedelt mit deinem Schlüssel herum. - Es ist mir egal, ob deine Referendariatsstation in Mönchengladbach ist oder nicht. Du bist doch schon während deines Studiums kaum hier gewesen. Du kannst doch nicht einfach dein Zimmer untervermieten. - Du kannst? Das wollen wir ja mal sehen. Hast du Egidius informiert? Der holt sich bestimmt nicht irgendeinen Fremden hier herein. - Echt Alter, so geht das nicht. Wir kennen den Mann doch überhaupt nicht. Hast du vielleicht mal an die Mädchen gedacht? - Es gibt überhaupt keinen Grund, jetzt zu lachen. Was ist das denn für einer?«

   Es entstand eine längere Pause. Willi lächelte Funda und Marie unverändert freundlich an und setzte sich auf Benedikts Platz. Marie fiel auf, dass sie alles andere als präsentabel war und verließ wütend den Tisch in Richtung Badezimmer. Funda harrte aus. In ihr regte sich so etwas wie erste zarte Mitleidsknospen. »Ist es denn wirklich nur für ein paar Wochen?«, fragte sie.

   Willi stellte zufrieden fest, dass das Bollwerk zu wanken begann. Er nickte. »Na klar. Ich bin einfach in einer Notlage. Mein Vermieter hat Eigenbedarf angemeldet und ich habe einfach keine andere Wohnung gefunden. Ich bin Künstler und habe kein großes Bankkonto. Was da im Moment auf dem Wohnungsmarkt verlangt wird, kann sich doch kein normaler Mensch leisten. Außerdem wollen die Vermieter Gehaltsabrechnungen und positive Beurteilungen des letzten Vermieters. Beides kann ich nicht liefern. Ich weiß echt nicht wohin. 

   Ich habe am Wochenende meine Cousine besucht. Patrick kam vorbei und hat mir spontan sein Zimmer angeboten. Er ist nach seinem ersten Staatsexamen nach Mönchengladbach versetzt worden und hat sich für die nächsten Monate dort ein Zimmer gesucht. Ich war total froh. Patrick sagt, er zahlt schon seit Jahren Miete und ist trotzdem nur ganz gelegentlich hier, was für euch sicher immer angenehm war. Jetzt könntet ihr ihm und damit mir mal einen Gefallen tun.«

   Funda gab auf, lächelte zurück und bot Willi einen Kaffee an. »Wir werden schon eine Lösung finden«, sagte sie zuversichtlich.

   Während man am Wasserrauschen hören konnte, dass Marie offenbar gerade duschte, kam Benedikt in die Küche zurück. »Also, ich habe mit Patrick gesprochen. Immerhin bestätigt er deine Geschichte und behauptet, du seist ebenso nett wie harmlos.«

  »Das sag ich doch die ganze Zeit.«

  »Ich werde gleich noch mit meiner Freundin Marie reden. Wenn sie und Funda einverstanden sind, kannst du für ein paar Tage hierbleiben. Ich habe mich mit Patrick auf maximal vier Wochen verständigt. Danach ist endgültig Schluss. Patrick sagt, dein Vermieter hat dir übel mitgespielt. Das kennen wir. Unser Hauswirt ist leider auch nicht besser. Aber ich finde es unmöglich, um das ganz deutlich zu sagen, dass Patrick dir einfach den Schlüssel gegeben hat, ohne uns zu informieren.«

   Willi nickte verständnisvoll. »Das ist wirklich nicht in Ordnung. Ich dachte natürlich, ihr alle rechnet mit meinem Kommen. Sonst hätte ich doch geklingelt.« Er trank einen Schluck Kaffee und fragte: »Habt ihr vielleicht ein Brot für mich? Ich habe Hunger.«

   Benedikt schnaubte, hielt aber Willi den Brotkorb entgegen.

  »Danke«, sagte Willi. »Schinken oder Käse gibt es wohl nicht? Ich stehe ehrlich gesagt nicht auf dieses süße Zeug.«

   Dies war der erste Satz, den Marie wieder hörte, als sie geduscht und angezogen zurück in die Küche kam. Sie sah Funda und Benedikt ungläubig an. Ihre Gesichtszüge entgleisten. »Sagt jetzt bloß nicht, ihr seid einverstanden damit, dass er hier wohnt?«

  »Er ist ein Heimatloser, er ist so etwas wie ein Flüchtling. Jetzt können wir endlich mal praktisch umsetzen, was wir theoretisch immer gepredigt haben«, sagte Funda mit einem ganz kleinen bisschen Trotz in der Stimme.

  »Für einen Syrer oder so spricht er aber ziemlich gutes Deutsch«, stellte Marie noch immer nicht überzeugt fest.

  

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