Mordsspiel

Tatort Düsseldorf 3

433 Seiten

 

Taschenbuch

ISBN 9781537179506

 

E-Book

 


Leseprobe

 

Freitag, 4.12.

Sven Ücker grinste wie ein Honigkuchenpferd. Manchmal war sein Job richtig cool. Leider bei weitem nicht immer, aber jetzt und in diesem Moment schon. Er schlenderte zum Schreibtisch der neuen Volontärin und fragte bestens gelaunt: »Alles gut? Oder brauchst du Hilfe?«

Sven war in diesem Moment sehr entspannt. Er, der erfahrene Redakteur, der alte Hase im Lokalressort der Düsseldorfer Zeitung, stellte wieder einmal fest, dass er eigentlich ein richtig netter Typ war, der sein Wissen und seine mühsam erworbenen Netzwerke ohne Wenn und Aber der Anfängerin zur Verfügung stellen wollte. Hätten sich doch die Kollegen im vergangenen Jahr ihm gegenüber nur auch so verhalten.

Leo zog ihre hübsche Nase kraus und starrte Sven verständnislos an. »Was willst du?«, fragte sie unfreundlich.

»Vergiss es. Hallo Anna.«

Anna Heine fegte gerade mit beinahe wehenden Ohren ins Großraumbüro der Lokalredaktion. Ihr Termin hatte ungefähr doppelt so lange gedauert, wie sie vorher dafür veranschlagt hatte, und jetzt stand sie mächtig unter Druck.

»Hallo Sven«, sagte sie und konzentrierte sich dabei bereits darauf, ihren Computer so schnell wie möglich hochzufahren. Sie schmiss ihre sackartige Handtasche auf den Schreibtisch, der von Post-its der Kollegen übersät war. 

»Stress?«, fragte Sven. Anna nickte unkonzentriert und las dabei die Botschaften auf den gelben Zetteln. Auf den meisten baten irgendwelche Bürger oder Amts- und Würdenträger um möglichst sofortigen Rückruf. Alles ASAP. Anna seufzte. 

Sven kandidierte parallel dazu weiter für die Auszeichnung des Mitarbeiters des Monats. »Kann ich dir vielleicht irgendwie helfen?« Anna lächelte dankbar. Seit sie vor ein paar Monaten zusammen mit Sven das große Preisausschreiben der Zeitung, bei dem der Super-Düsseldorfer gesucht worden war, betreut hatte, hatten die beiden Kollegen sich zusammengerauft. »Sehr gerne«, antwortete sie daher. Sie sortierte die Post-its und überreichte Sven ungefähr zwei Drittel davon.

»Könntest du da vielleicht mal zurückrufen? Ich glaube, denen ist es egal, wen von der Redaktion sie an die Strippe bekommen. Hier bei den anderen muss ich mich selbst melden. Aber als Allererstes muss ich den Artikel über die Neugestaltung der Schadowstraße schreiben. Da hat heute wieder so eine Ideenfindungsgruppe getagt.«

»Und? Ist etwas Vernünftiges dabei herausgekommen?«

»Naja, wie man’s nimmt. Immerhin sieht der neue Entwurf nicht mehr aus wie eine DDR-Fußgängerzone aus den Siebzigern. Aber da ist durchaus noch Luft nach oben, was die Kreativität angeht. Andererseits ist alles besser als der Istzustand.«

Der bestand in diesem Winter aus den Resten der U-Bahn-Großbaustelle, durchsetzt von Weihnachtsmarktbuden. Aber der achtjährige Spuk der Baustelle der Wehrhahnlinie, der die gesamte Innenstadt behindert, belastet und verunstaltet hatte, sollte im kommenden Frühjahr endlich der Vergangenheit angehören. Jetzt war der Zeitpunkt gekommen, an dem man sich fragte, was man mit der geschundenen Einkaufsmeile anfangen sollte. Bisher war nur klar, alle Beteiligten wünschten sich eine Fußgängerzone. Erste wenig kunstvolle Künstlerentwürfe waren bereits wieder vom Tisch, aber ein ebenso vernünftiges wie attraktives Konzept wurde nach wie vor gesucht.  

»Ich verstehe das nicht«, sagte Sven Ücker. »Es kann doch nicht so schwierig sein, eine breite Straße mit Brunnen, Blumen, Bäumen und Bänken zu bestücken. Dazu Cafés und ein paar Kunstwerke, und fertig ist das Einkaufsparadies.«

»So einfach ist es nicht«, stöhnte Anna. »Die Leute sollen auf keinen Fall durch zu viele künstlerische oder natürliche Hingucker von den Schaufenstern abgelenkt werden. Das habe ich heute gelernt. Auf dem Termin war jemand vom Einzelhandelsverband, der das sehr eng sieht.«

Sven schnappte sich die Post-its und arbeitete die Rückrufe an seinem Schreibtisch ab. Nur in einem Fall bestand der Gesprächspartner darauf, mit Anna persönlich zu sprechen. Sven vertröstete ihn. Eine Stunde später hatte Anna ihren Dreispalter über die Chancen und Probleme der Schadowstraße im System abgespeichert und wandte sich ihrem Anteil an den gelben Zetteln zu. Als auch das erledigt war, holte sie sich einen längst überfälligen Kaffee. 

»Puh«, sagte sie erschöpft und verzog das Gesicht angewidert nach dem ersten Schluck der beinahe schwarzen Brühe. »Ich bin froh, wenn Moni am Montag weder da ist.«

Moni Goslar, Redaktionssekretärin und Annas Freundin, schipperte momentan noch auf einem Kreuzfahrtschiff über den Atlantik. Der letzte Stopp der Reise sollte am nächsten Tag in Southampton sein. Sonntag würde der Zielhafen Hamburg erreicht und ab Montag würde es nach aller Erfahrung wieder trinkbaren Kaffee in der Lokalredaktion der DZ geben. 

»Ich bin gespannt darauf, was sie erzählt. Hoffentlich hat das mit diesem Manni geklappt«, sagte Sven. Manni van Tekel, einer der Gewinner des Preisausschreibens, hatte sich seinen Lebenstraum von einer Weltreise auf einem Ozeanriesen erfüllt und Moni dazu eingeladen, ihn zu begleiten. Moni hatte bei weitem nicht genug Urlaub für diesen Plan. Aber man hatte einen Kompromiss gefunden. Sie war vor drei Wochen in die Karibik geflogen und für die letzten Etappen der Reise an Bord gegangen. Auch Anna hoffte, dass sie sich mit Manni gut vertragen hatte. Schließlich hatten sich die beiden erst kurz vor Mannis Reisebeginn kennengelernt. Eigentlich war Anna Mannis erste Wahl bei der Suche nach einer Reisebegleiterin gewesen, sie hatte jedoch aus mehreren Gründen abgewinkt. Das Hauptargument: Manni war einfach nicht der Mann ihrer Träume.

Sven strahlte sie an. »Ich habe so einen coolen Termin am Wochenende«, sagte er. 

»Tatsächlich?«

»Ich schreibe über das Mordsspiel.«

»Gegen Braunschweig?«, fragte Rainer Hausmann, der an Annas Schreibtisch gekommen war. 

Svens Gesicht war ein einziges Fragezeichen.

»Spielt die Fortuna an diesem Wochenende nicht gegen Braunschweig?«, fragte Hausmann, seines Zeichens stellvertretender Ressortchef.

»Ach Fußball«, sagte Sven genervt. »Die verlieren doch sowieso immer nur. Nein, ich meine eine organisierte Mördersuche. Das gibt es in mehreren Städten. Man bekommt einen Kriminalfall und muss den in einer Gruppe lösen. Man düst quer durch Düsseldorf und befragt Zeugen. Das sind natürlich Schauspieler. Wenn man am Ende alle Informationen hat, löst man den Fall, und nimmt den Täter fest. Das Ganze heißt Mordsspiel.

Und alles ist auch noch von oben abgesegnet. Herr Wildermann hat mir den Termin sozusagen aufs Auge gedrückt. Ich darf eine ganze Gruppe zusammenstellen. Das macht bestimmt Spaß.«

»Das glaube ich auch«, sagte Anna. »Die Mädchen haben mir schon davon erzählt. Vielleicht schenke ich ihnen Gutscheine zu Weihnachten.«

»Unsinn«, winkte Sven Ücker ab. Er hatte Annas Töchter Jule und Marie im Sommer bei einer ganz anderen Mördersuche besser kennengelernt. »Wenn die beiden Lust und Zeit haben, nehme ich sie gerne morgen mit. Das Mordsspiel startet um 14 Uhr. Du kannst sie ja fragen und mir dann Bescheid sagen. Sonst finde ich sicher auch jemand anderen.«

Anna schrieb sofort eine Nachricht an die Familiengruppe und bekam kurz danach zwei positive Antworten. 

»Marie ist ein bisschen unverschämt. Sie fragt, ob sie ihren Freund Bene mitbringen kann. Wie groß sind denn die Gruppen?« 

Sven studierte die Website des Mordsspiels und antwortete: »Normalerweise sollten sie aus nicht mehr als sechs Personen bestehen. Das wäre also kein Problem. Hey Leo, hast du nicht Lust, morgen mit uns auf Mördersuche zu gehen?«

Leonie Schmitz-Talaue, Svens Nachfolgerin am zugigen Schreibtisch des jeweiligen Redaktionsvolontärs, hatte das Gespräch mit gespitzten Ohren verfolgt. Sie nickte hoheitsvoll. »Wenn du noch jemanden brauchst, mache ich mit. Mir macht es nichts, am Wochenende zu arbeiten.«

Hausmann grinste. Arbeit nannte man so etwas also heutzutage. Er hatte an diesem Freitag Abenddienst und winkte daher wenig später den letzten verbliebenen Kollegen Anna, Sven und Leo einen Gruß hinterher, als die drei in den Feierabend entschwanden. 

»Also morgen um kurz vor zwei Treffen am Eingang der Schadow-Arkaden, Schadowstraße, Ecke Blumenstraße«, erinnerte Sven. Leo und Anna nickten. »Komm doch auch mit, Anna, wenn du Lust hast.«

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe«, erwiderte Anna. 

»Du kannst es dir ja noch überlegen. Wir sind bisher nur zu fünft.«

Anna nickte, winkte kurz und lief nach Hause. Dabei ging sie ein Stück weit die Schadowstraße entlang. Sie versuchte, sich die Büdchen des Weihnachtsmarktes wegzudenken. Was blieb war das Bleigrau des Winternachmittages, des Himmels, der Straße, der Bürgersteige und der Häuserfronten. Durchsetzt waren diese Grautöne von neon-bunt leuchtenden Schaufenstern. Schön war, ehrlich gesagt, anders. Aber wie?

Sie beeilte sich, nach Hause zu kommen, um noch Zeit genug zu haben für, wie sie fand, dringend erforderliche Verschönerungsmaßnahmen ihrer Person. Anna hatte ein Date an diesem Abend. Normalerweise wäre es eine Verabredung gewesen, aber wenn man sich schon mit Mitte vierzig auf Dating-Portalen herumtrieb, dann konnte man mit Fug und Recht beim entsprechenden Anglizismus bleiben. Es war ihr erstes Treffen mit einem Wildfremden. Sie war ein bisschen nervös. Aber sie würde alle vernünftigen Regeln strikt befolgen: Nummer eins: Das erste Kennenlernen würde an einem öffentlichen Ort stattfinden, von dem sich jeder der beiden jederzeit würde entfernen können. Nummer zwei: Es würde an diesem Abend keine Fortsetzung in einer der Wohnungen geben. Nummer drei: Das Date würde von ihr sofort abgebrochen, wenn sie in seiner Gegenwart auch nur das leiseste Unbehagen beschleichen sollte.

Arnd arbeitete in einer Werbeagentur und war dort für den kaufmännischen Bereich zuständig. Er war laut eigenen Angaben 48 Jahre alt, war in Münster aufgewachsen, wohnte seit gut 15 Jahren in Düsseldorf, war geschieden und hatte eine erwachsene Tochter, die in München studierte. Er war groß, schlank, grauhaarig und Brillenträger. Auf Anna wirkte er auf seinen Fotos optisch sehr sympathisch. Auch seine Chats waren nett und humorvoll. Also, warum nicht? Treffen würden sie sich auf seinen Vorschlag hin im Homeland 95 in der Altstadt.

Anna hatte schon von diesem relativ neuen Szene-Treff gehört, war aber selbst noch nicht dort gewesen. Laut Marie handelte es sich um eine Art Brauhaus für Menschen unter 30. »Passt ja perfekt«, sagte Anna zu ihrer Tochter. 

»Unsinn. Das zeigt nur, dass dieser Typ offenbar jung geblieben ist, und dir das auch deutlich zeigen will. Das ist echt nett da. Wird dir gefallen. Das ist so eine Mischung aus Heimatlokal und In-Kneipe, mit Stadtwappen, Fortuna-Logos und tollen Fotos an den Wänden. Es gibt die besten Burger der Stadt und viel vegetarisches Essen, dazu Cocktails und das selbst gebraute Bier. Lass dich überraschen.«

Anna benötigte für den Weg in die Altstadt normalerweise eine gute Viertelstunde zu Fuß. Folgerichtig verließ sie um zehn vor acht ihre Wohnung, um nur ja nicht als Erste im Lokal zu sein, auf der anderen Seite aber die Geduld ihres neuen Bekannten nicht überzustrapazieren. Sie hatte jedoch nicht mit solch einem Gedränge auf dem Weihnachtsmarkt gerechnet, dem sie praktisch auf ihrem gesamten Weg ins Homeland 95 ausgesetzt war. Verfolgt von ›Last Christmas‹ und dem Duft nach Rostbratwurst und gebrannten Mandeln schob sie sich durch die Menge und verfluchte sich für ihre mangelnde Voraussicht. 

Um zwanzig nach acht hatte sie endlich das Brauhaus in der Altstadt erreicht und fragte sich, ob Arnd Zimmermann überhaupt noch da war. Sie eilte ins Warme und sah erst einmal überhaupt nichts mehr, weil ihre Brille beschlug. Sie nahm sie ab und blinzelte daraufhin immerhin in eine verschwommene Menschenmenge. Sie kramte in ihrer Handtasche nach einem Papiertuch, um ihre Brillengläser wieder durchschaubar zu machen. 

»Du musst Anna sein«, sagte eine Stimme neben ihr. Sie setzte ihre geputzte Brille wieder auf und sah den Sprecher jetzt deutlich. »Und du bist Arnd«, lächelte sie. »Tut mir echt leid. Normalerweise bin ich ziemlich pünktlich, aber ungefähr eine Million Holländer hat das verhindert.«

»Das macht überhaupt nichts. Ich habe jetzt nur ein Bier Vorsprung. Komm mit. Ich habe da drüben einen Tisch besetzt.«

Anna folgte ihm an einen Vierertisch in einer Ecke des vollen Lokals. »Was möchtest du trinken?«, fragte er. Anna entschied sich für das Hausgebräu. Arnd winkte und der Köbes knallte zwei Gläser auf den Tisch, bevor er die Striche auf einem Bierdeckel machte. 

»Schön, dass du es doch noch geschafft hast«, sagte Arnd. Anna musterte ihn unauffällig, während sie ihm zuprostete. Immerhin hatte er kein Foto in den Chat gestellt, auf dem er zehn Jahre jünger und 20 Kilo leichter war. Ziemlich genau so hatte sie sich ihn anhand ihrer bisherigen Bekanntschaft auch vorgestellt. Anna entspannte sich und ging auf Arnds Smalltalk ein. 

Nach zwei üppigen Burgern und dem dritten Bier – für Arnd war es das vierte – war es so, als würden sie sich bereits ewig kennen. Anna verspürte ein leichtes Kribbeln im Bauch, was leider seit Monaten schon nicht mehr der Fall gewesen war.

Arnd erzählte einigermaßen humorvoll von seiner langen Ehe, deren Ende vor einem guten Jahr und der seitdem wieder ausgezeichneten Beziehung zu seiner Ex, wenn auch auf einem anderen Level als während des Zusammenlebens.

Er berichtete sehr stolz von der gemeinsamen Tochter Naomi, die in München Zahnmedizin studierte. Dort lebte auch seine ehemalige Frau mit ihrem neuen Partner. 

»Ausgerechnet einen Bayern musste sie sich aussuchen«, sagte er vergnügt. »Wenn ich meine Tochter besuchen will, bleibt mir also nichts anderes übrig, als hinter die feindlichen Linien zu kriechen.«

»Ist es so schlimm?«, fragte Anna lachend.

»Eigentlich nur fußballtechnisch. Der Stiefvater meiner Tochter scheint auf der Säbener Straße zu leben. Ich bin und bleibe eben der Loser, mit der Fortuna genauso wie in der Beziehung.«

»Ich bin auch eine verlassene Verflossene. Mein Exmann ist Amerikaner. Er war für ein paar Jahre von seinem Unternehmen nach Düsseldorf abgeordnet. Wir haben uns kennengelernt, geheiratet und relativ schnell unsere beiden Töchter bekommen. Als die Jüngere gerade auf beiden Beinen stehen konnte, war dann aber er derjenige, der so schnell wie möglich weggelaufen ist. Oder besser gesagt: geflogen. Er ist seitdem wohl wieder in den USA. Ich habe seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihm.«

»Kümmert er sich denn nicht um seine Töchter?«, fragte Arnd mit gerunzelter Stirn. Anna schüttelte den Kopf. Das hatte sie nie verstanden. Wie konnte man nur solche Prachtstücke in die Welt setzen und sich dann nicht einmal ein winziges bisschen dafür interessieren, was aus ihnen wurde. 

»Ich hatte noch ein paar Jahre lang losen Kontakt zu meiner Schwiegermutter. Aber auch das ist irgendwie eingeschlafen.«

»Wie alt sind deine Töchter? Leben sie noch bei dir?«

»Marie ist 18 und Jule 16. Jule lebt natürlich noch bei mir. Marie ist im Sommer nach ihrem Abitur ausgezogen und wohnt jetzt eine Etage über uns in einer WG zusammen mit ihrem Freund Benedikt. Beide studieren an der HHU. Jule geht noch zur Schule.«

»Aha«, sagte Arnd. »Das heißt also, du bist seit ungefähr 15 Jahren von deinem Mann getrennt. Und seitdem?«

Anna überlegte. »Nichts Nennenswertes, nichts Dauerhaftes - vielleicht mit einer Ausnahme. Ich habe vor knapp zwei Jahren jemanden kennengelernt, mit dem ich mir eine Beziehung hätte vorstellen können. Aber auch er hat die Beine in die Hand genommen und ist erst mal ins Ausland geflogen. Mittlerweile ist er zwar wieder in Düsseldorf, aber wir sind jetzt gute Freunde, und nicht mehr. Meine Töchter mögen ihn sehr gern. Sie haben ihn sozusagen adoptiert. Er konnte sich kaum dagegen wehren. Das geschieht ihm recht.«

Arnd studierte Annas Gesichtsausdruck. Wenn er das richtig deutete, war sie noch keineswegs über diesen Adoptivvater ihrer Töchter hinweg. Aber er fand sie nett. Vielleicht konnte er ihr ja dabei helfen. Und wenn nicht, dann war sie immerhin eine interessante und amüsante Gesprächspartnerin, mit der er sicher gern noch einmal ausgehen würde. 

Auf eine vorsichtige Frage nach einem weiteren Treffen freute er sich über Annas positive Reaktion. Er schlug vor, sich um Kom(m)ödchen-Karten für das aktuelle Stück des Ensembles zu bemühen. Anna hatte das noch nicht gesehen, und nickte die Idee ab. 

Mittlerweile war es beinahe Mitternacht. Arnd bestand darauf, Anna nach Hause zu begleiten. Er machte von vornherein klar, dass er nicht beabsichtigte, weiter als bis zur Haustüre mitzukommen, aber er wollte sie auch nicht allein durch die Nacht laufen lassen. 

Er ließ Annas Einwand, sie laufe seit nunmehr 15 Jahren allein durch die Nacht, nicht gelten, lieferte sie an ihrem Hauseingang ab, gab ihr einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange und machte sich auf in Richtung Taxistand. 

Samstag, 5.12.

»Das ist ja ein furchtbares Gedränge«, sagte Marie verdrossen. »Können die Holländer nicht in ihren Wohnwagen bleiben?«

»Ich erinnere dich an den Spruch, wenn wir wieder mal in Venlo Vanille-Fla kaufen und Schokostreusel, und auf dem Markt frischen Gouda und Matjesbrötchen«, sagte Bene grinsend. 

»Da hat er recht, der Schwager«, stellte Jule fest. 

»Pass auf, was du sagst«, zischte ihre ältere Schwester. »Da vorne gibt es Poffertjes. Wartet mal, ich hole uns welche.«

»So viel zum Thema Hollandfeindlichkeit«, stellte Bene wenig später kauend fest. Mittlerweile hatten sie sich bis zum Jan-Wellem-Platz durchgekämpft, wo eine Horde junger Männer, bekleidet unter anderem mit lustig blinkenden Weihnachtsmannmützen, ›O Tannenbaum‹ grölte, und dabei im Takt Glühweinbecher schwenkte. 

»Lieber Himmel, wie sollen wir denn in dieser Menschenmenge einen Mord aufklären?«, fragte Jule.

»Warten wir es ab. Vielleicht schicken die uns ein bisschen weg von den Märkten. Besser wäre das jedenfalls«, sagte Marie.

Auf dem Stück Fußgängerzone zwischen dem Jan-Wellem-Platz und der Kö, an deren Ende der Eingang der Schadow-Arkaden zu finden war, ging an diesem Samstagmittag fast gar nichts mehr. Entsprechend abgekämpft waren die drei bereits, als sie sich dem Eingangsbereich der Mall näherten. 

Sven Ücker stand dort schon mit einem komplett schwarz gekleideten Mädchen, dessen Gesicht mehrere Lippen-, Nasen- und Ohren-Piercings zierten. Smokey Eyes stachen aus einem blassen Gesicht hervor. Aber nicht ihr hörte er aufmerksam zu, sondern einer mittelgroßen, etwas stämmigen Frau, die über einer karierten Wollhose einen dunkelblauen Dufflecoat trug. Vor ihr stand ein größerer Aktenkoffer.

»Hallo Sven«, sagte Jule, die die Hoffnung auf ihn immer noch nicht so ganz aufgegeben hatte. Was waren schon gut zehn Jahre? Mit Mitte 40 machte so etwas überhaupt nichts mehr aus. Und auch 16 passte durchaus zu 27, fand sie. Aber Sven sah in ihr offenbar noch immer das Kind, das sie bereits seit Jahren nicht mehr war. Jule seufzte schwer.

»Hallo, ihr drei. Das ist Frau Gemmen. Sie leitet heute das Mordsspiel. Und das ist Leo, unsere neue Volontärin. Ihr kennt euch, glaube ich, noch nicht.« Jule, Marie und Bene begrüßten höflich Frau Gemmen und lächelten zu Leo hinüber. Jule und Marie hatten schon so einiges über Svens Nachfolgerin gehört. 

Leo hatte sich bei Horst Wildermann, dem Chef der Lokalredaktion, ordnungsgemäß gekleidet, geschminkt und frisiert, und gänzlich ohne Piercings vorgestellt. Horst, der aus einem riesigen Bewerberpool hatte wählen können, entschied sich tatsächlich für die nette Leo, und erlitt an deren ersten Arbeitstag einen gewaltigen Schock, als er sie in ihrer punkigen Alltagskluft erblickte. Und dabei hatte sie noch nicht einmal die Haare in einem Neonton gefärbt. 

Es gab ein eindeutiges Veto seitens der Verlagsleitung, einige bittere Tränen, Hinweise auf Probezeit und Menschenrechte, und schließlich das Einknicken Leos, die vernünftig genug war, um einzusehen, dass sie mit diesem Volontariat eine Art Hauptgewinn aus der Tombola des Lebens gezogen hatte. Aber in ihrer Freizeit – und das war heute schließlich kein offizieller Termin – gestaltete sie ihr Aussehen so, wie sie das wollte. Also präsentierte sie sich an diesem Tag in freundlichem Schwarz, mit sechs Piercings und einer nicht gerade alltäglichen Frisur. Das schien jedoch weder Frau Gemmen noch den Rest der Gruppe zu stören.

Sven hatte inzwischen alle Informationen über das Unternehmen gesammelt, das das Mordsspiel höchst erfolgreich veranstaltete, und fragte nun nach dem aktuellen Fall. Frau Gemmen sah auf die Uhr. »Fünf vor zwei. Ich schaue mich mal nach den anderen drei Gruppen um. Dann muss ich nicht alles doppelt erzählen. Ich glaube, die Leute kennen sich untereinander teilweise noch nicht. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.« 

Sie ging auf ein paar Menschen zu, die irgendwie abwartend aussahen. Als sie sich mit ihnen unterhielt, traten auch noch ein paar andere Leute auf sie zu. Frau Gemmen sammelte ihre Detektive und zählte durch. Sie waren vollzählig. Sie setzte sich an die Spitze der Kolonne und suchte innerhalb der Arkaden eine ruhige Ecke, um den Gruppen das Spiel zu erklären. 

Jede Gruppe gab sich einen Namen und erhielt von Frau Gemmen eine Mappe. In der Mappe waren einige Papiere, Fotos und ein Handy. Frau Gemmen empfahl als erste Aktion, bei den Telefonkontakten die eingespeicherte Favoritenliste zu öffnen. Auf dieser Liste gebe es auch den Eintrag mit dem Titel ›Zentrale‹. Durch einen Anruf dort könnten mögliche Probleme geschildert, Kontakte erfragt oder aktuelle polizeiliche Ermittlungsergebnisse wie Obduktionsbefunde und Ähnliches abgefragt werden. 

»Die Hinweise, die ich Ihnen geben kann, sind eher dürftig«, sagte Frau Gemmen. »Heute Morgen ist im Hofgarten eine Leiche gefunden worden. Es handelt sich um einen etwa 60 Jahre alten Mann, der noch nicht identifiziert werden konnte. Er weist allerdings markante Erkennungsmerkmale auf. Er ist kahl und hat eine auffällige, etwa zehn Zentimeter lange Narbe an Nacken und Hinterkopf. Ein Messer steckte in seinem Rücken. Der Obduktionsbericht liegt zwar noch nicht vor, aber über die Todesursache besteht wegen des Messers kein Zweifel. In der Mappe sehen Sie ein paar Fotos des Toten. Vielleicht hilft Ihnen das bei der Identifizierung.

In der Hosentasche des Opfers haben wir das Handy gefunden, das wir Ihnen aushändigen. Ihre Aufgabe lautet: Identifizieren Sie das Opfer und finden Sie den Mörder oder die Mörderin. Warum ist das Opfer umgebracht worden? Je schlüssiger Ihre Indizienkette ist, desto leichter wird es für uns, heute Abend den Täter festzunehmen. 

Befragen Sie Zeugen und Angehörige. Lassen Sie sich nicht durch Lügen und Ausflüchte von Ihrem Weg abbringen. Und wenn Sie gar nicht mehr weiter wissen, melden Sie sich in der Zentrale. Wir treffen uns um 18 Uhr wieder hier und können dann hoffentlich den Täter festnehmen. Und nun: Viel Glück.«

Die Gruppe, bestehend aus Sven, Leonie, Marie, Benedikt und Jule, hatte sich Geistesblitz genannt. Unter diesem Namen war Benedikt Schuster schon vor ein paar Monaten erfolgreich gewesen bei der Jagd auf den Titel des Super-Düsseldorfers. Marie hatte ihn tatkräftig unterstützt. Und so schien dieser Name irgendwie logisch. Außerdem war ihnen auf die Schnelle nichts Besseres eingefallen.

Die fünf liefen erst einmal los, um aus der Hörweite der anderen Gruppen zu kommen. Marie studierte noch im Gehen den Mappeninhalt. Nur ja keine Zeit verlieren. Es kamen ein Block und ein Stift zum Vorschein und ein DIN-A4-Blatt, auf dem noch einmal die Spielregeln und die bisherigen Erkenntnisse über den Mord aufgelistet waren. Außerdem war der Kopf des Opfers aus mehreren Positionen fotografiert worden. Auf einem der Bilder sah man den Hinterkopf mit der auffälligen Narbe. 

Bene aktivierte das Handy und versuchte als Erstes, eine Funktion zu finden, auf der die eigene Nummer und der Name verzeichnet waren. Fehlanzeige.

»Auf meinem Handy geht das«, sagte er irritiert. 

»Jetzt schau endlich mal unter ›Favoriten‹. Das haben die uns doch als ersten Schritt vorgegeben«, schlug Jule vor. Leo nickte. 

Benedikt klickte auf das Telefonsymbol und öffnete die Datei ›Favoriten‹. Alle beugten sich über das Display des Mobiltelefons. Bene las trotzdem die Namen vor:

»Annett von Blumenau

Marisa von Blumenau

Felix von Blumenau

Otto von Blumenau

Max Müller

Zentrale«

»Hört sich an wie die Besetzungsliste von ›Verbotene Liebe‹«, stellte Leo fest. 

»Jetzt ruf doch mal einer dort an«, verlangte Jule ungeduldig. »Die anderen Gruppen haben gleich den Mörder, und wir haben noch nicht mal angefangen.«

»Bitte sehr«, sagte Benedikt, dem es gerade etwas blöd vorkam, irgendeinen Schauspieler anzurufen und nicht zu wissen, was man eigentlich fragen sollte. Er überreichte Jule das Handy. Jule zuckte mit den Schultern und drückte auf die Kurzwahl von Annett von Blumenau, dem ersten Namen auf der Liste. 

»Ja bitte?«, meldete sich eine Frauenstimme. 

»Hallo, hier ist die Gruppe Geistesblitz. Spreche ich mit Frau Annett von Blumenau?«

»Ja, um was geht es?«

»Vermissen Sie zufällig einen Angehörigen?« Leo kicherte und verdarb Jule fast das Konzept. 

»Sagen Sie nicht, Sie haben meinen Mann gefunden. Er ist gestern nicht nach Hause gekommen. Ich habe mir schon schreckliche Sorgen gemacht. Wo ist er? Was ist los?«

»Wenn es Ihr Mann ist, dann ist er im Leichenschauhaus«, sagte Jule ohne große Empathie. Leo prustete los. 

»Um Himmels Willen! Haben Sie etwa einen Toten gefunden?«

»Genau. Wie sieht Ihr Mann denn aus?«

»Theo ist ungefähr 60 Jahre alt, sieht aber jünger aus. Er hat eine Glatze und eine leider sehr auffällige Narbe. Er hatte vor ein paar Jahren einen schlimmen Unfall.«

»Ich fürchte, dann könnte der Tote tatsächlich Ihr Mann sein. Sie sagen, er heißt Theo?«

»Frag sie, wo wir sie treffen können«, zischte Marie.

Das tat Jule, und wenig später umkurvte man, so schnell es ging, jede Menge mit Tüten behängte Passanten auf der Kö. Annett von Blumenau hatte ein Café in der Kö-Mall Sevens als Treffpunkt angegeben. 

»Sehr unrealistisch«, moserte Sven. »Wenn mir jemand am Telefon sagen würde, mein Mann sei vermutlich umgebracht worden, würde ich sofort zur Polizei durchstarten, und mich nicht mit irgendwelchen Leuten treffen, die ich überhaupt nicht kenne.«

»Da hast du recht. Ein Mann wäre bei dir ziemlich unrealistisch«, lachte Jule. 

Annett von Blumenau saß, auffallend nervös hin und her rutschend, im Café. Sie war Ende 30, blond, etwas zu stark geschminkt, und trug ein Kostüm und eine Handtasche, die aus den in unmittelbarer Nachbarschaft liegenden Läden zu stammen schienen. Sie sah aus wie die Karikatur einer Society-Lady. 

»Gut, dass Sie endlich kommen. Ich will dringend zur Polizei. Ich wollte nur noch abwarten, was Sie zu sagen haben, bevor ich mir ein Taxi rufe. Bitte sprechen Sie doch. Es darf einfach nicht Theo sein.«

Sie setzten sich an den Tisch. Leo zog sich noch einen Stuhl heran. Marie öffnete die Mappe und reichte Annett ein Foto des Toten. Es sah kein bisschen unappetitlich aus, sondern vielmehr so, als habe man einen Menschen mit geschlossenen Augen fotografiert.

»O Gott, das ist Theo.« Marie reichte das Foto, auf dem die Narbe zu sehen war, auch noch an Annett. 

»Kein Zweifel«, sagte sie und schien kurz vor einer Ohnmacht zu stehen. Sie trank schnell einen Schluck aus ihrem Glas. »Was ist passiert? So sprechen Sie doch.«

Leo begann Spaß an der Aufgabe zu finden und legte los. Sie blendete einfach aus, dass es sich bei Annett nicht um eine trauernde Witwe, sondern nur um eine Schauspielerin handelte. 

»Das tut uns allen furchtbar leid, Frau von Blumenberg. Aber wir werden nicht ruhen, bis wir den Mörder Ihres Mannes gefunden haben. Sie müssen uns dabei helfen. Ihr Mann wurde heute Morgen ermordet im Hofgarten aufgefunden. Wer könnte das getan haben?«

Annett sah sie mit einem dankbar-traurigen Blick an und ergriff Leos Hand. »Danke für Ihr Mitgefühl. Das tut gut in dieser Situation. Aber ich heiße von Blumenau.«

»Jetzt erzählen Sie uns erst einmal alles über Ihren Mann und sich. Was war er von Beruf? Haben Sie Kinder? Hatte er Feinde?«, fragte Bene, um ganz schnell aus dieser femininen Mitleidsschiene herauszukommen. 

Annett blickte irritiert nach rechts. Eine der drei anderen Gruppen eilte herbei und stutzte über die Situation. Da war ihnen jemand zuvorgekommen. Trotzdem fragte ein Mann: »Sind Sie Annett von Blumenau?«

»Ja. Aber ich bin gerade im Gespräch, wie Sie sehen. Bitte lassen Sie uns jetzt allein und versuchen es in zehn Minuten noch einmal.« Die Gruppe zog sich an einen anderen Tisch zurück, der in diesem Moment frei wurde. 

Annett dämpfte trotzdem ihre Stimme. »Das sind viele Fragen auf einmal. Aber ich will sie so gut ich kann beantworten, damit dieser Verbrecher so schnell wie möglich gefunden wird. Theo von Blumenau ist in Düsseldorf ein bekannter Name. Mein Mann leitet eine Galerie in der Altstadt. Nein, er leitete, muss ich wohl sagen.« Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Louis Vuitton-Tasche und betupfte ihre Augen. 

»Wir sind erst seit einem guten Jahr verheiratet. Ich bin seine zweite Frau. Ich bin, wie Sie wohl sehen, deutlich jünger als er. Ich könnte seine Tochter sein. Aber er war ein so lieber Mensch, so großzügig und humorvoll. Da kamen die Männer aus meiner Generation einfach nicht mit. 

Theo hat aus seiner ersten Ehe zwei Kinder, Marisa und Felix. Sie haben wirklich alles versucht, um uns auseinanderzubringen. Sie haben mich verleumdet. Sie haben mir sogar Geld dafür angeboten, wenn ich ihren Vater nicht geheiratet hätte. Aber wahre Liebe lässt sich nicht kaufen.«

Leo hing an Annetts Lippen. Marie schrieb eifrig Stichworte auf ihren Block. Sven sah seine Aufgabe weniger darin, Theos Mörder zu finden, als die Reaktion der Gruppe und das Verhalten der Schauspieler zu beobachten. Schließlich sollte er über die Mördersuche und nicht über den Mord berichten.

»Was können Sie uns über Ihre Stiefkinder mitteilen? Wie alt sind sie und was machen sie zum Beispiel beruflich? Hatten sie ein gutes Verhältnis zu ihrem Vater?«, fragte Bene.

»Stiefkinder, dass ich nicht lache. Haha. Die Bezeichnung setzt ja immerhin überhaupt eine Beziehung voraus. Aber die hatten wir nicht. Ich kann Ihnen trotzdem ein paar Dinge mitteilen. Felix ist 27 und Investmentbanker. Genau so ein Typ ist er auch: glatt wie ein Aal, völlig emotionslos und nur auf seinen Vorteil bedacht. 

Seine Schwester Marisa ist ein Monster. Sie wiegt ungefähr 200 Kilo, naja vielleicht nicht ganz, aber sie hat mindestens Größe 46. Sie ist hässlich wie die Nacht. Sie ist 25 und hat keinen Beruf. Sie hat irgendetwas Merkwürdiges studiert und macht jetzt ein Praktikum nach dem anderen. Kein Wunder, dass sie niemand will. Theo hat sie finanziell unterstützt. Das heißt, bis vor zwei Monaten. Da ist etwas passiert, von dem ich glaube, dass es bestimmt mit dem Mord an meinem Mann zu tun hat.« 

»Was möchten Sie trinken?«, fragte eine Kellnerin, die an den Tisch getreten war. Jule stutzte und sah ihre Schwester fragend an. Würde man noch so lange im Café sein, bis die Getränke gebracht würden?

»Ich lade Sie ein«, sagte Annett und betupfte erneut ihre makellos geschminkten Augen. Alle bestellten etwas. 

»Was ist vor zwei Monaten geschehen?«, fragte Leo gespannt.

»Da hat Theo Marisa hinausgeworfen. Sie kam mit einer völlig unglaublichen Geschichte an. Sie hatte mich mit einem anderen Mann gesehen. Das stimmte sogar. Es handelte sich um einen ehemaligen Kollegen von mir, den ich zufällig getroffen hatte. Sie hat völlig hysterisch reagiert und abscheuliche Lügen erzählt. Ich habe mit Ole lediglich ein Glas Wein getrunken, auf die alten Zeiten sozusagen. Sie hat direkt eine Liebesgeschichte daraus konstruiert. Unverschämt.«

»Was waren Sie früher von Beruf?«, fragte Marie, die gerade die Stichworte ›Ole - Liebhaber - Ex-Kollege‹ auf ihren Block gekritzelt hatte.

»Ich war Model«, antwortete Annett nicht ohne Stolz.  

»Dann ist dieser Ole auch im Modebereich tätig?«

Annett nickte. »Er ist äußerst erfolgreich. Vielleicht kennen Sie ihn aus dem Fernsehen? Er ist der Mann, der keine Schuppen mehr hat. Er hat wunderschöne Haare. Schuppen hatte er, ehrlich gesagt, allerdings nie.« 

»Und Marisa hat also unterstellt, dass er Ihr Liebhaber ist«, fragte Leo eifrig. 

Annett nickte. »Aber Theo hat ihr nicht geglaubt. Er hat genau gemerkt, dass sie wieder nur einen Keil zwischen uns treiben wollte. Es gab eine furchtbare Szene. Felix kam dazu und hat seiner Schwester natürlich wieder mal den Rücken gestärkt. Theo hat sie beide hinausgeworfen und ihnen bis auf Weiteres das Haus verboten.«

»Haben sie sich vor seinem Tod wieder versöhnt?«, fragte Bene. 

Annett schüttelte den Kopf. »Ganz im Gegenteil. Ich konnte Theo überzeugen, sich auch gefühlsmäßig von ihnen zu lösen. Hätte ich das doch bloß nicht getan. Ich bin mittlerweile sicher, eines der Kinder hat ihn erstochen. Theo hatte sich in der vergangenen Woche dazu entschlossen, sein Testament zu ändern. Beide Kinder sollten aufs Pflichtteil gesetzt werden. Das wollten sie durch den Mord bestimmt verhindern.«

»Wussten Marisa und Felix denn von dem Testament?«, fragte Marie.

»Das kann ich nicht genau sagen, aber ich vermute es ganz stark. Theos Bruder Otto ist Notar. Er sollte die Änderungen vornehmen. Er hat ganz bestimmt seiner Nichte und seinem Neffen einen Hinweis gegeben. Otto ist mir nämlich auch nicht wohlgesonnen.«

»Das ist das Schicksal einer viel jüngeren, schönen Frau«, sagte Sven. »Jeder unterstellt ihr, dass sie nur das Geld im Sinn hat.«

»Sie haben ja so recht«, schnurrte Annett und sah Sven liebevoll an. Dann wanderte das Taschentuch wieder in die Augenwinkel. Leo fand Annetts Ausdruckspalette mittlerweile etwas eintönig. 

»Wissen wir eigentlich, wann genau Theo gestorben ist?«, fragte Marie mehr die Gruppe als Annett. 

»Nein, wir wissen nur, dass er heute Morgen von einem Spaziergänger im Hofgarten gefunden worden ist«, antwortete Bene.

»Kann vielleicht mal eben jemand bei der Zentrale anrufen und fragen, ob der Obduktionsbericht schon vorliegt? Wir sollten den Todeszeitpunkt kennen. Sonst können wir keine Alibis überprüfen.«

Jule nahm das Handy und rief bei der Zentrale an. Der Todeszeitpunkt lag zwischen 20 und 22 Uhr am Vorabend. Todesursache war der Messerstich und Theo hatte einen erheblichen Leberschaden gehabt, zurückzuführen vermutlich auf langjährigen Alkoholmissbrauch.

»Wo waren Sie gestern Abend so zwischen 20 und 22 Uhr?«, fragte Bene. 

»Ich hatte eine Verabredung mit einem ehemaligen Kollegen. Wir haben zusammen gegessen und waren danach im Kino.«

»Dieser Kollege, war das Ole?«, fragte Leo.

»Zufällig ja.«

»Wie heißt Ole mit Nachnamen? Können Sie uns seine Telefonnummer geben? Wir würden gern Ihr Alibi überprüfen.« Marie zückte Block und Stift.

Annett zog hochmütig die Augenbrauen hoch, besann sich dann aber und betupfte ihre Augen. »Der Kollege heißt Ole Weidenbusch. Hier ist seine Nummer.« Sie hielt Marie eine Visitenkarte hin. Darauf stand: Ole Weidenbusch - Schauspieler. Dann folgten die Adresse und eine Handynummer. 

»In welchem Kino waren Sie und welchen Film haben Sie gesehen?«, fragte Jule. 

»Wir waren in diesem Riesending am Hauptbahnhof. Keine Ahnung, wie der Film hieß. Es war irgend so ein Agentenfilm, spielte in den USA und der Held hat hinterher die Blondine bekommen. Es hat mich nicht ein bisschen interessiert.«

»Warum sind Sie denn dann überhaupt reingegangen?«, fragte Leo.

»Ach wissen Sie, Ole hatte ihn vorgeschlagen, und ich wollte ihm einen Gefallen tun. Er hatte mich zum Essen eingeladen, und ich fand, da war ich ihm etwas schuldig. Es gab schließlich auch keinen anderen Film, den ich lieber gesehen hätte.«

»Entschuldigung, aber wie lange braucht ihr noch?«, fragte eine Frau aus der wartenden Gruppe, die offenbar langsam ungeduldig wurde. 

»Ich glaube, wir sind erst einmal fertig«, sagte Bene. 

»Sie haben ja meine Handynummer. Wenn Ihnen noch etwas einfällt, können Sie sich ja noch mal bei mir melden«, schlug Annett vor und tupfte wieder über ihre Augen. Sie wandte sich der Frau zu. »Ich muss Ihnen allerdings sagen, mir geht es nicht so gut. Diese Herrschaften haben mir gerade mitgeteilt, dass ich Witwe bin. Mein Mann ist ermordet worden.«

Die Gruppe Geistesblitz räumte den Tisch, verabschiedete sich von Annett und verließ das Café. 

»Ist euch auch aufgefallen, dass sie offenbar wusste, wie er umgebracht worden ist? Wir haben nur von ›ermordet‹ gesprochen und sie hat hinterher ›erstochen‹ gesagt«, stellte Marie fest. Die anderen schüttelten den Kopf. 

»Bist du sicher?«, fragte Sven. Marie nickte.

»Sollen wir noch mal zurück?«

»Ach was, die redet sich ja doch nur raus. Aber wir sollten uns das merken.«

»Und nun?«, fragte Jule. »Wen wollen wir als nächstes treffen?«

»Den Bruder«, sagte Bene.

»Den Sohn«, schlug Marie vor.

»Oder die dicke Tochter«, kicherte Leo.

»Nein, den Liebhaber«, forderte Sven. 

»Ich bin auch für den Sohn«, sagte Jule, und da sie das Handy hatte, wählte sie die Nummer von Felix von Blumenau. In der Einkaufspassage herrschte ein ziemlich hoher Geräuschpegel und so verstand sie ihren Telefonpartner nicht wirklich. 

»Hallo. Hallo, ich verstehe Sie nicht richtig. Ich wollte Ihnen mitteilen, dass Ihr Vater ermordet worden ist.«

»Bist du verrückt?«, fragte Marie. »Stell dir vor, du hast dich verwählt.«

»Sie hat doch nur die Kurzwahl aufgerufen. Da kann doch nichts passieren«, beruhigte Bene seine Freundin. 

Jule hatte sich inzwischen in eine ruhigere Ecke verdrückt, in der die Kommunikation mit ihrem Gesprächspartner möglich war. Nach ein paar Minuten kam sie zur Gruppe zurück. 

»Felix ist seit zwei Wochen in Amsterdam, sagt er jedenfalls. Er meinte, seine Schwester sei gerade auf dem Weg zu ihm. Wenn wir sie noch treffen wollen, müssen wir uns beeilen. Sie fährt mit dem Zug. Er schlug vor, zum Hauptbahnhof zu gehen und unterwegs diese Marisa anzurufen.«

So wurde es gemacht. Marisa war bereit, sich mit der Gruppe in der Halle am Aufgang zu Bahnsteig 16 zu treffen. Ihr Zug gehe allerdings in 45 Minuten. Eile sei daher geboten.

Die Geistesblitze nahmen diese Ankündigung zwar ernst, wandten sich aber am Ausgang des Sevens in die falsche Richtung, nämlich nach links. Rechts herum wäre der direktere Weg gewesen. Die Menschenmassen auf dem Bürgersteig veranlassten sie dazu, über die Straße zu gehen und am Kögraben entlang zu hasten. Auf dieser Straßenseite war es deutlich leerer. 

Am Ende der Kö bogen sie links in die Graf-Adolf-Straße ab. Dort waren deutlich weniger Leute unterwegs als auf Düsseldorfs Pracht-Einkaufsmeile. 

»Sollen wir vielleicht besser mit der Bahn fahren?«, fragte Sven und sah auf seine Uhr. 

»Ach was, das schaffen wir noch. Ich habe überhaupt keine Lust, mich in eine der proppenvollen Straßenbahnen zu zwängen«, antwortete Marie, und die anderen nickten. Und so liefen sie so schnell es ging zum Bahnhof. Marisa hatte angekündigt, sie trage eine olivgrüne Steppjacke und habe einen auffallend pinkfarbenen Koffer bei sich. Dieses Farbensemble stach tatsächlich ins Auge. Man fand sie ohne Komplikationen. Die Gruppe stellte sich vor und teilte Marisa ohne Umschweife mit, sie sei jetzt Waise oder zumindest Halbwaise. Es stellte sich heraus, dass bereits eine der anderen Gruppen Marisa von dem Mord an ihrem Vater in Kenntnis gesetzt hatte. Sie war zwar fix und fertig, wie sie sagte, aber immerhin schon wieder halbwegs gefasst. Marisa war übrigens etwas pummelig, aber keinesfalls monstermäßig fett.

»Lebt Ihre Mutter eigentlich noch?«, fragte Leo interessiert. 

Marisa schüttelte traurig den Kopf. »Dann hätte er diese Harpyie nicht geheiratet. Meine Eltern haben glücklich bis zur Silberhochzeit zusammengelebt. Danach ist meine Mutter erkrankt und nach einiger Zeit verstorben.«

»Sie hatten vor zwei Monaten einen heftigen Streit mit Ihrem Vater«, stellte Bene fest.

Marisa nickte. »Das stimmt leider. Daran ist aber auch wieder nur sie schuld. Sie hat alles versucht, meinen Bruder und mich mit unserem Vater zu entzweien. Irgendwann ist ihr das dann auch gelungen. Sie wollte immer nur sein Geld. Der Mensch war ihr völlig egal. Meinem Vater ging es gesundheitlich nicht besonders in letzter Zeit. Er hatte Probleme mit seiner Leber. Ehrlich gesagt hat er seit dem Tod meiner Mutter viel zu viel getrunken. Das ging also schon einige Jahre. Und sie, was glauben Sie, hat sie gemacht? Anstatt ihn liebevoll vom Alkohol wegzulotsen, hat sie immer gesagt, die Ärzte würden ganz sicher maßlos übertreiben. Und sie hat ihm weiter Alkohol vorgesetzt und seine Zirrhose damit begossen. Aber das ist ihr wohl nicht schnell genug gegangen. Und so hat sie jetzt ein Messer benutzt.«

»Sie glauben also, Ihre Stiefmutter hat Ihren Vater umgebracht?«, fragte Marie.

»Nennen Sie das Weib bloß nicht Mutter. Entweder sie war es selbst oder aber ihr Liebhaber, dieses Unterwäschemodel.«

»Meinen Sie Ole Weidenbusch?«, fragte Leo.

»Ja, ich glaube, so heißt der Kerl.«

»Woher wissen Sie, dass er ihr Liebhaber ist?«

»Ich habe sie zufällig beobachtet. Das war vor ungefähr zwei Monaten. Sie haben in aller Öffentlichkeit schamlos herumgeknutscht. Es war widerlich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie sich noch in der Kneipe ihre Klamotten vom Leib gerissen hätten. Ich bin zu meinem Vater gelaufen und habe ihm davon erzählt. Leider habe ich keine Fotos gemacht. Die hätten ihm die Augen geöffnet. So hat sie es wieder einmal geschafft, die Sache in ihre Richtung zu biegen. Mein Vater hat mir nicht geglaubt und mich sogar vor die Tür gesetzt. Ich war völlig fertig.«

»Und Ihr Bruder?«

»Felix ist an dem Abend auch zu meinem Vater gekommen und hat mich unterstützt. Es hat aber nichts genutzt. Das Weib hatte unseren Vater völlig in ihren Krallen. Auch Felix wurde hinausgeworfen.«

»Wie traurig«, sagte Jule. »Dann haben Sie sich mit Ihrem Vater nicht mehr versöhnen können?«

Marisa lächelte. »Doch. Deshalb fahre ich jetzt auch zu Felix. Ich wollte ihm eigentlich die gute Nachricht bringen. Aber jetzt ist ja wieder alles anders. Mein Onkel hat es geschafft, ein Treffen zwischen meinem Vater und mir zu arrangieren. Das fand gestern Nachmittag statt. Wir haben uns versöhnt. Er hatte mittlerweile auch andere Anzeichen für ihre Untreue. Ich glaube, er wollte die Scheidung einreichen.«

»Wo waren Sie gestern Abend so zwischen acht und zehn?«, fragte Marie.

»Zu Hause. Ich habe mit Felix telefoniert. Das wird er Ihnen sicher bestätigen.«

»Wussten Sie, dass Ihr Vater sein Testament ändern und Ihnen und Ihrem Bruder nur noch den Pflichtteil geben wollte?«

Marisa sah zu Boden und sagte knapp: »Nein, davon hatte ich keine Ahnung. Das glaube ich auch nicht. Besonders nicht nach gestern Nachmittag.«  

Marisa sah auf ihre Uhr. »Mein Zug geht in fünf Minuten. Ich muss jetzt los. Ich habe Ihnen auch alles gesagt, was ich weiß.«

Man verabschiedete sich. Marisa ging die Treppe hoch zum Bahnsteig.

»Da haben wir aber Glück gehabt«, sagte Jule. »Die anderen Gruppen erwischen sie nicht mehr.«

Sven lächelte über Jules Naivität, hielt aber den Mund. Nicht so ihre Schwester. »Dir kann man auch alles erzählen«, stellte Marie grinsend fest. »Erstens war ja schon eine Gruppe da. Und die beiden anderen brauchen die Informationen schließlich auch. Also wird sich die Abfahrt des Zuges wohl noch ein paarmal verschieben.«

»Meinst du?«, fragte Jule ernsthaft. Die anderen nickten. 

»Und jetzt?«, fragte Sven. 

»Wir haben noch den Liebhaber, den Onkel und diesen Max Müller. Wir sollten mal herausbekommen, wer das überhaupt ist«, meinte Benedikt.

»Ich bin jetzt erst mal für Theos Bruder«, sagte Marie. Der hat für mich momentan das geringste Motiv. Vielleicht kann der uns ein bisschen objektiver sagen, was für einen Stress es in der Familie gab und ob da wirklich Scheidungen und Testamentsänderungen in der Luft lagen.«

Jule wählte Ottos Nummer. Der Notar hatte bereits vom Ableben seines Bruders Kenntnis und war gern bereit, sich mit der Gruppe zu treffen. Sie hatten Glück. Er war gerade in der Bücherei am Bertha-von-Suttner-Platz, also ganz in der Nähe des Hauptbahnhofs. 

Sie liefen die paar Schritte bis zur Stadtbücherei. Vor dem Eingang wartete, wie gerade verabredet, Otto von Blumenau, ein gut aussehender Mittfünfziger mit silberner Lockenpracht. Er trug einen Baumwollbeutel mit dem Aufdruck ›Düsseldorf ist bunt‹. Der Beutel war allerdings schwarz. 

Otto wackelte betrübt mit dem schönen Kopf. »Wer kann das nur getan haben? Theo war so ein feiner Mensch. Ich habe ihn schrecklich gern gehabt.« Seine Stimme brach. Leo war beeindruckt. Das war wirklich mal ein Schauspieler, nicht wie diese dilettantische Annett, die nichts konnte, als ihr Taschentuch auf ihren Eyeliner zu drücken.

»Kommen Sie. Hier ist es mir zu kalt. Lassen Sie uns irgendwo reingehen«, schlug der gramgebeugte Bruder vor. Die Gruppe ging zurück in den Hauptbahnhof und suchte sich dort eine ruhige Ecke. 

»Also, Sie untersuchen den Tod meines Bruders. Das ist gut. Hoffentlich haben Sie Erfolg. Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Wir brauchen jede Menge Informationen«, sagte Bene. »Zunächst einmal, ehe wir das wieder vergessen, wissen Sie, wer Max Müller ist?«

»Ja natürlich. Das ist, oder besser gesagt war, der Partner meines Bruders in der Galerie. Wenn Sie mich fragen, ist das ein ganz windiger Typ. Ich habe nie verstanden, warum Theo ihm damals die Teilhaberschaft angeboten hat. Er war schon ein paar Jahre sein Angestellter. Als sich herausstellte, dass beide Kinder die Galerie nicht übernehmen wollten, hat Theo nach einem anderen Nachfolger gesucht. Dabei bot sich für ihn sein Mitarbeiter Max Müller an. Ich habe ihm dringend davon abgeraten. Ich halte diesen Müller für einen ganz schrägen Vogel, der krumme Geschäfte macht. 

Theo war deshalb so erfolgreich, weil er ganz einfach ein gutes Auge für Kunst hatte. Es gelang ihm, junge, unbekannte Maler und Bildhauer zu finden, auszustellen und damit zu Stars der Düsseldorfer Kunstszene zu machen. Daran verdiente er wirklich gut. 

Müller hat diese Gabe ganz und gar nicht. Er hat einiges an Schrott gekauft, Bilder, die kein Mensch haben wollte, und die jetzt das Kapital der Galerie binden. Theo hat ein ernstes Wort mit ihm geredet. Daraufhin tauchten dann plötzlich einige großartige Bilder an den Wänden der Galerie auf. Sie hatten nur einen kleinen Nachteil: Es handelte sich um Fälschungen. Ich wette, Müller hat die bewusst gekauft, und wurde nicht etwa selbst übers Ohr gehauen. 

Ich bin sicher, Theo hätte diesen Max Müller über kurz oder lang hinausgeworfen. Glücklicherweise habe ich den Teilhabervertrag für Theo aufgesetzt. Es gab eine Ausstiegsklausel für beide, die allerdings nach fünf Jahren auslief. Das wäre in zwei Monaten gewesen. Theo hätte also jetzt handeln müssen.«

»Das ist ja interessant«, stellte Sven fest. »Mit diesem Müller müssen wir auch noch unbedingt reden. Was können Sie uns denn über das Verhältnis Ihres Bruders zu seiner Frau und seinen Kindern sagen?«

Otto seufzte. »Das ist ein trauriges Kapitel. Theo und seine erste Frau Sabine waren so glücklich miteinander. Zusammen mit Felix und Marisa waren sie eine Art Traumfamilie. Ich selbst war nie verheiratet. Für mich waren die Kinder auch so etwas wie Sohn und Tochter. Dann starb Sabine und alles ging den Bach hinunter. Theo hat viel zu viel getrunken und damit nicht nur seine Gesundheit, sondern offenbar auch sein Urteilsvermögen ruiniert. Diese Annett ist das reinste Flittchen. Sie hat die Kinder aus dem Haus getrieben, meinen Bruder nur noch inniger mit seiner Whiskyflasche vereint, sein Geld zum Fenster hinausgeworfen, und sich einen Liebhaber nach dem anderen genommen. Ich konnte das kaum noch mit ansehen. 

Vor zwei Monaten eskalierte die ganze Angelegenheit. Er rief mich an, und bat mich, sein Testament zu ändern. Felix und Marie sollten nur noch ihren Pflichtteil bekommen. Den ganzen, riesigen Rest wollte er Annett vererben. Ich habe mit Engelszungen auf ihn eingeredet, um ihn von dieser Idee wieder abzubringen. Vergeblich. Er war der Meinung, seine eifersüchtigen und kleinlichen Kinder hätten nichts Besseres zu tun, als die Göttin, die er geheiratet hatte, zu verleumden.  

Ich habe dann etwas getan, was absolut gegen mein Berufsethos verstößt. Ich habe Marisa und Felix davon informiert und sie gebeten, doch weiter das Gespräch mit ihrem Vater zu suchen, um diese Sache aus der Welt zu schaffen. Was die Testamentsänderung anging, so habe ich das Projekt so gut es ging auf Eis gelegt, aber lange hätte ich die Änderung nicht mehr hinauszögern können.«

»Haben Sie von der gestrigen Versöhnung erfahren?«, fragte Marie gespannt.

»Nein. Hat sie denn noch stattgefunden? Das wäre ja wunderbar.«

»Ihre Nichte behauptet das. Sie sagt sogar, Sie hätten das Treffen arrangiert«, sagte Leo. »Aber sie hat auch an anderer Stelle gelogen. Sie hat uns gesagt, sie habe keine Ahnung davon gehabt, dass ihr Vater das Testament hätte ändern wollen.«

Otto schüttelte betroffen den Kopf. »Wahrscheinlich hat die Ärmste Angst, man würde ihr unterstellen, sie habe das Verbrechen begangen.«

»So eine Testamentsänderung könnte ja schon ein ordentliches Motiv abgeben. Um wie viel Geld ging es denn? Wie viel hätte zum Beispiel Marisa durch die Änderung verloren?«

»Ich schätze mal, jedes Kind hätte rund eine Million weniger geerbt, was natürlich gleichzeitig bedeutet, Annett hätte zwei Millionen mehr bekommen.«

»Haben Sie irgendetwas von Scheidungsplänen Ihres Bruders mitbekommen?«, fragte Jule.

»Nein, leider nicht. Diese Information hätte mich außerordentlich glücklich gemacht.«

»Sagt Ihnen der Name Ole Weidenbusch etwas?«

»Nein. Wer soll das sein?«

»Der Liebhaber Ihrer Schwägerin.«

»Also wirklich. Die kann man sich nicht alle merken.«

»Sind Sie eigentlich ganz sicher, dass Ihr Neffe Felix sich tatsächlich in Amsterdam aufhält? Haben Sie eine Adresse von ihm dort?«

»Nein, ich habe nur seine Mobiltelefonnummer. Aber warum sollte er mir erzählen, er sei dort auf einer Dienstreise, wenn das gar nicht stimmt?«

»Um sich ein Alibi zu verschaffen?«, schlug Bene vor.

»Sie glauben doch nicht etwa, dass er seit Wochen kaltblütig den Mord an seinem Vater plant? Sie kennen Felix einfach nicht, sonst würden Sie so nicht reden. Er kann keiner Fliege etwas zuleide tun. Er ist ein ganz lieber Mensch und bei weitem nicht so entschlussfreudig wie zum Beispiel seine Schwester.«

»Der würden Sie diesen Mord also eher zutrauen?«, fragte Jule verblüfft. 

»Um Himmels Willen, Sie drehen mir ja das Wort im Mund herum. Theo ist auf gar keinen Fall von seinen Kindern ermordet worden. Da kommt schon eher Annett infrage oder ihr Liebhaber oder der Kriminelle, mit dem er zusammengearbeitet hat.«

»Hat noch jemand Fragen? Schaut mal auf die Uhr. Wir müssen uns langsam ein bisschen beeilen.« Sven trieb die Gruppe an. Alle schüttelten den Kopf, bedankten sich beim angeblichen Otto von Blumenau und liefen quer durch den Bahnhof. 

»Egal, wie spät es ist. Ich habe Hunger. Ich kaufe mir eine Brezel«, sagte Marie entschieden. An einem Stand erwarben sie fünf Riesenbrezeln und liefen kauend zum Ausgang am Konrad-Adenauer-Platz. Jule wies nach vorn auf eine Litfaßsäule. »Schaut mal, der Fotograf ist immer noch da.« Gemeint war einer der Säulenheiligen, der bei der Düsseldorfer Schnitzeljagd vor ein paar Monaten eine wichtige Rolle gespielt hatte. Marie, Bene und Sven nickten. Leo verstand nur Bahnhof, was sie auch sagte. 

»Ich erkläre es dir später mal«, versprach Sven. »Für den Augenblick ist das eine zu lange Geschichte.«

»Jetzt haben wir noch Ole Weidenbusch und Max Müller. Ich probiere es mal bei dem Teilhaber.« Die anderen nickten, und Jule, die Herrin des Mobiltelefons, wählte. Besetzt. 

»Dann versuch es bei dem anderen«, schlug Bene vor. »Weidenbusch«, dröhnte es aus dem Handy. Jule riss es erschrocken vom Ohr weg. Marie lachte. 

»Ähm, hallo hier ist die Gruppe Geistesblitz. Wir würden uns gern mit Ihnen unterhalten. Es geht um den Tod von Theo von Blumenau, dem Ehemann Ihrer Bekannten, Annett von Blumenau. Hätten Sie Zeit?«

Ole brüllte sein Einverständnis. Er sei in einem Café am Schadowplatz. Er fragte, wann sie denn dort sein könnten. 

»Kommt, jetzt nehmen wir doch die U-Bahn bis zur Steinstraße. Dann sind wir im Nu da«, sagte Sven und alle waren einverstanden. Auf dem Bahnsteig wurde kurz Kriegsrat gehalten. 

»Hat schon jemand eine Idee?«, fragte Marie. 

»Die lügen doch alle«, stellte Jule fest. 

»Und fast jeder hatte ein Motiv«, sagte Leo. »Nur der Bruder nicht. Das macht mich besonders stutzig. Wahrscheinlich haben wir dem nicht die richtigen Fragen gestellt und in Wirklichkeit ist das der Hauptverdächtige.«

Benedikt runzelte die Stirn. »Also zusammengefasst könnte es die Ehefrau gewesen sein, weil sie und ihr Lover aufgefallen sind, und ihr Mann sich jetzt scheiden lassen wollte. Der Lover könnte es aus dem gleichen Grund getan haben. Oder die beiden haben es zusammen gemacht und geben sich jetzt gegenseitig ein Alibi. 

Die Kinder könnten die Mörder sein, weil sie die Änderung des Testaments verhindern wollten. Für die angebliche Versöhnung gestern haben wir nur die Aussage dieser Marisa. Und ob ihr Bruder überhaupt in Amsterdam ist, wissen wir auch nicht. 

Und dann bleibt noch dieser Kunstfälscher, dieser Max Müller. Vielleicht hatte er ja mitbekommen, dass Theo den Partnerschaftsvertrag auflösen wollte. Ach ist das alles kompliziert.«

Die U-Bahn kam und brachte sie innerhalb kürzester Zeit zur Steinstraße. Sie liefen wieder die Kö entlang, bogen in die Fußgängerzone ab, und standen nach ein paar Minuten vor dem Café.

»Wie sieht denn dieser Ole aus?«, fragte Sven. 

»Keine Ahnung. Ich habe vergessen, ihn danach zu fragen«, gab Jule zu. 

»Also ruf halt noch mal an«, sagte ihre Schwester. Jule kramte das Handy hervor und tippte noch einmal die Nummer ein, die Annett ihnen gegeben hatte. Zwei Tische neben ihnen dudelte es. Ein gut aussehender Endzwanziger kramte in seiner Tasche. Marie ging auf ihn zu.

»Herr Weidenbusch?«

»Ja. Das ist richtig«, dröhnte seine sonore Stimme. Die Leute am Nachbartisch drehten sich interessiert um.

»Frau von Blumenau hat uns Ihre Nummer gegeben. Ihr Ehemann wurde heute Morgen tot im Hofgarten aufgefunden. Wir versuchen, das Verbrechen aufzuklären. Vielleicht können Sie uns dabei helfen.«

Ein Mädchen am Nachbartisch klappte mit offenem Mund ihren Laptop zu und starrte erst Marie und dann Ole an. Das war entschieden besser, als die Statusmeldungen ihrer Freunde in Facebook zu checken. 

»Ich habe es schon gehört«, sagte Ole Weidenbusch. »Annett hat mich angerufen. Furchtbar, einfach furchtbar. Wer tut nur so etwas?«

»Wo waren Sie gestern Abend so zwischen acht und zehn?«, fragte Bene gespannt.

»Im Kino, zusammen mit Annett.«

»Welchen Film haben Sie gesehen?«

»Also hören Sie mal, das klingt ja geradezu so, als ob Sie mich verdächtigen, etwas mit dem Tod des Alten zu tun zu haben?«

»Genau«, sagte Leo. »Oder seine geliebte Ehefrau.«

»Sie sind auf der völlig falschen Fährte. Ich möchte mir keine Verleumdungsklage ans Bein binden, aber es gibt andere, denen der Tod des Alten sehr gelegen gekommen wäre. Das kann ich Ihnen versichern.«

»Und wer soll das sein?«, fragte Jule.

»Haben Sie noch nicht mit den Kindern gesprochen, diesen geldgeilen Monstern? Und dem Hehler, mit dem er zusammengearbeitet hat? Nein? Dann sollten Sie das aber mal ganz schnell nachholen, bevor Sie ausgerechnet die wenigen Menschen verdächtigen, die seine wahren Freunde waren.«

Auch die Leute an einem weiteren Tisch hatten ihre eigenen Gespräche unterbrochen und hörten gespannt zu. 

»Wie lange sind Sie schon mit Annett von Blumenau befreundet?«, fragte Leo.

»Jahrelang«, antwortete Ole. »Sie ist eine sehr nette ehemalige Kollegin. Und das ist alles, ganz egal, was andere Leute behaupten. Die haben einfach eine schmutzige Phantasie.«

»Noch einmal, Herr Weidenbusch: Wie hieß der Film?«

»Keine Ahnung. Die heißen doch alle gleich. Was weiß denn ich? Impossible Men in Black, Teil 27.«

»Dann denken Sie mal nach. Das könnte nämlich wichtig sein. Auch für Frau von Blumenau.«

»In Ordnung. Ich schaue mir noch einmal das Kinoprogramm an. Dann werde ich schon darauf kommen.«

»Sie sprachen eben von einem Hehler, mit dem der Verstorbene zusammengearbeitet hat. Ich nehme an, Sie meinen Herrn Müller. Was wissen Sie von ihm und seinem Verhältnis zu Theo von Blumenau?«

»Was wollen Sie denn jetzt schon wieder unterstellen? Theo und dieser Max Müller hatten kein Verhältnis. Er war seiner Frau treu. Genau wie Annett ihm.«

»Ich glaube, Sie wollen mich missverstehen«, sagte Bene. »Wahrscheinlich um von sich und Annett von Blumenau abzulenken. Ich meine natürlich das Arbeitsverhältnis.«

»Ach so. Annett hat mir erzählt, dass Theo diesen Müller hinauswerfen wollte, weil er ein Hehler und Fälscher wäre, und darüber hinaus von Kunst keine Ahnung hätte. Es gab wohl einen Vertrag zwischen den beiden, der zeitlich gerade noch kündbar war. Und genau das wollte Theo von Blumenau jetzt tun. Annett war heilfroh darüber. Sie meinte, wenn dieser Müller noch länger in der Galerie sein Unwesen treiben könne, wäre ihr Mann bald ruiniert.«

»Und das wäre natürlich nicht im Sinne von Annett gewesen«, stellte Marie fest. 

»Das wäre wohl in niemandes Sinne gewesen«, antwortete Ole.

»Wie lange waren Sie gestern mit Annett zusammen? Wo haben Sie sich getrennt?«

»Wir haben uns um 19 Uhr in einem China-Restaurant in der Nähe des Hauptbahnhofs getroffen, dort gegessen, und sind dann zum Multiplex-Kino gelaufen. Nach Ende des Films haben wir uns verabschiedet und sind getrennt nach Hause gefahren. Das wird wohl so gegen 22.30 Uhr gewesen sein.« 

»Können Sie uns sonst noch irgendetwas sagen, was uns weiterhilft?«, fragte Leo etwas hilflos.

»Nicht, dass ich wüsste. Lassen Sie einfach die arme Annett in Ruhe. Sie macht genug durch im Moment. Prüfen Sie mal die Alibis von diesem Müller und Theos Kindern. Ich wette, einer von den dreien war es.«

Leo, Jule und Marie standen auf. Sven und Bene folgten ihnen. Seufzend klappte das Mädchen am Nachbartisch wieder ihren Laptop auf. Die Vorstellung schien beendet zu sein.

Vor der Tür fand ein erneuter Kriegsrat statt. Sven sah auf seine Armbanduhr. »Es ist jetzt Viertel nach fünf. Wir schaffen es kaum noch, diesen Müller zu treffen, geschweige denn, in Ruhe über die einzelnen Aussagen nachzudenken. Die halten einen ganz schön auf Trab mit ihrem Mordsspiel.«

»Wir müssen noch mit diesem Müller reden, auch wenn wir zu spät in den Schadow-Arkaden ankommen. Er ist für mich einer der Hauptverdächtigen«, sagte Marie.

Jule zückte das Telefon und hatte diesmal Glück. Max Müller meldete sich. Sie verabredeten ein Treffen auf der Oststraße, wo sich Müller gerade bei Freunden aufhielt. Er wolle jedoch diese Freunde nicht mit in die ganze üble Angelegenheit hineinziehen, sagte er. Sobald sie also in der Nähe des Hauses seien, sollten sie noch einmal kurz bei ihm anrufen. Er werde dann herunterkommen. 

Auf der Strecke bis zur Oststraße wurde eifrig diskutiert. 

»Ich finde es sehr verdächtig, dass weder Annett noch Ole sich an den Namen des Films erinnern können«, stellte Jule fest.

»Im Gegenteil, ich finde, gerade das entlastet sie«, gab ihre Schwester zurück. »Wenn sie den Mord begangen hätten, hätten sie ihr Alibi viel besser gemeinsam vorbereitet.«

»Und was ist mit der Tatsache, dass Annett von der Todesursache wusste, obwohl wir das Messer nicht erwähnt haben?«, fragte Leo.

»Bist du wirklich hundertprozentig sicher, dass wir nicht doch davon gesprochen haben, er sei erstochen worden?«, fragte Sven.

»Eigentlich schon«, erwiderte Leo. »Sagen wir mal neunzigprozentig.«

Bene bat Jule um das Handy und rief in der Zentrale an. Er fragte, ob es irgendwelche Erkenntnisse zum Tatwerkzeug gebe. Was für eine Art Messer sei es gewesen? Fehle es in irgendeinem Messerblock? Oder habe man Fingerabdrücke gefunden?

Die Antwort war negativ. Man hatte keine Ahnung, wer der Eigentümer des Messers gewesen war. Es gab keine Fingerabdrücke. Die Überprüfung der Wohnungen der Tatverdächtigen hatte keine weiteren Erkenntnisse gebracht. Es handelte sich um ein scharfes Fleischmesser einer bekannten Marke. Es stammte nicht aus irgendeinem Set. 

Inzwischen war die Gruppe ungefähr auf Höhe der Brauerei Schumacher angekommen und wählte noch einmal die Handynummer Max Müllers. Müller meldete sich nicht.

»Er wird schon gleich herunterkommen«, vermutete Leo und sah sich gelangweilt um. Sie wies auf eine offen stehende Einfahrt. »Vielleicht ist er schon im Hof. Lasst uns mal nachsehen.«

Die Gruppe ging durch die Toreinfahrt und befand sich in einem Innenhof mit einigen Garagen, zwei Müllcontainern und einem blauen Lieferwagen. Aus einem der trotz der Kälte auf Kipp stehenden Fenster hörte man Musik. Außerdem dröhnte der Verkehrslärm der Oststraße durch das offene Tor.

Das war wahrscheinlich auch der Grund, warum es ein paar Minuten dauerte, bis die Gruppe merkte, dass sie nicht allein im Hof war. Leo wurde es zu langweilig. Sie drehte eine Runde und gerade als Benedikt vorschlug, wieder auf den Bürgersteig der Oststraße zurückzugehen, spähte sie hinter den Lieferwagen und rief laut: »Hey, kommt her. Hier liegt die nächste Leiche. Das ist bestimmt dieser Müller.«

Alle trabten an und sahen tatsächlich einen Mann auf dem Boden liegen. Er hatte die Augen geschlossen und stöhnte.

»Herr Müller?«, fragte Bene. Der Mann öffnete die Augen und sah Benedikt direkt an. Er bewegte die Lippen und versuchte zu sprechen. Aber es kam kein Ton aus seinem Mund.

Leo stieß Jule an und flüsterte: »Die Schauspieler werden immer besser. Dem glaubt man doch beinahe, dass er kurz vorm Abnippeln ist.«

Jule nickte. Sie sah dem angeblichen Max Müller ins Gesicht. Sie bekam eine Gänsehaut. »Gruselig«, sagte sie. 

»Hallo Herr Müller«, sprach ihn Bene noch einmal an. »Wir würden gern mit Ihnen reden. Können wir Ihnen irgendwie helfen?«

Der Mann sah Benedikt noch immer forschend an. Er schien sich zu konzentrieren und sagte so leise, dass sie ihn kaum verstanden: »Hab’s nicht geschafft diesmal. Hab’s wirklich versucht.«

»Was haben Sie nicht geschafft?«, fragte Marie. »Hallo, Herr Müller?«

Die Augen des Mannes schlossen sich. Er versuchte noch einmal, Worte zu artikulieren, aber das schien zu viel für ihn. Der Kopf wurde schlaff und fiel fast unmerklich ein wenig zur Seite. 

»And the Oscar goes to....Max Müller«, sagte Benedikt. 

»Ja er war deutlich besser als diese Annett zum Beispiel«, meinte Jule. »Die konnte ja gar nichts.«

»Was bedeutet das für unseren Fall? Was hat er nicht mehr geschafft? Jedenfalls wird er wohl kaum der Täter sein«, vermutete Sven.

»Lasst uns gehen. Das macht mir Angst«, meinte Leo.

»Es ist auch Viertel vor sechs. Wenn wir noch pünktlich in den Arkaden sein wollen, müssen wir los«, meinte Benedikt.

»Ihr seid Weicheier«, sagte Marie. »Bleibt doch mal locker. Nur weil einer den Toten spielt, hauen wir hier nicht ab. Wetten, dass die Auflösung in einer seiner Taschen ist und dass sich keiner traut, da nachzuschauen.«

»Ich fasse ihn nicht an«, sagte Jule entsetzt.

»Was soll er denn machen? Aufspringen und ›Buh‹ rufen?« Marie knöpfte die Jacke des Toten auf und griff in eine der Innentaschen, in der etwas zu stecken schien. »Papiere«, sagte sie. »Die nehmen wir jetzt mit und schauen sie unterwegs an. Dann schaffen wir es noch bis 18 Uhr.«

»Ja, lasst uns verschwinden, dann kann der arme Kerl aufstehen und ins Warme gehen. Wir sind bestimmt die letzte Gruppe«, sagte Sven.

Sie verließen den Hof und wandten sich nach links. An der Ecke zur Immermannstraße bogen sie noch einmal links ab. Zügig bewegten sie sich in Richtung Martin-Luther-Platz. Marie nahm den Papierpacken auseinander und überflog den Inhalt.

»Auf den ersten Blick scheint das nicht mit unserem Fall zusammenzuhängen«, stellte sie fest. Vielleicht gehört das dem Schauspieler und hat nichts mit Max Müller zu tun. Ich drücke das gleich Frau Gemmen in die Hand. Sie kann es dem Typen zurückgeben. Wir konnten ja nicht ahnen, dass das nichts mit unserem Spiel zu tun hat. Und der Typ konnte ja schlecht protestieren, als ich es ihm abgenommen habe.«

»Was ist es denn?«, fragte Leo.

»Irgendein Brief von einem Vermieter. Und ein paar Quittungen und Kassenzettel. Hat echt nichts mit den Blumenaus oder der Galerie zu tun. Wisst ihr was, mir ist das peinlich. Ich werfe das jetzt weg. Ich hätte ihn nicht durchsuchen sollen. Scheint auch nichts Wichtiges zu sein.« Entschlossen steuerte Marie den nächsten Mülleimer an und warf das Papierbündel hinein. 

Sie waren die Letzten, die sich am Eingang der Schadow-Arkaden einfanden. Frau Gemmen sah bereits auf ihre Uhr. Aber schließlich handelte es sich um die V.I.P-Pressegruppe. Da lächelte sie auch um fünf nach sechs noch freundlich, auch wenn sie jetzt langsam nach Hause wollte.

»So«, stellte sie zufrieden fest. »Alle sind zurück. Ich hoffe, Sie hatten einen spannenden Nachmittag und haben den Fall gelöst.«

Die Beteiligten sahen sie eher unsicher als triumphierend an. »Wir wissen es nicht«, sagte eine Teilnehmerin ehrlich. 

Frau Gemmen teilte an jede Gruppe einen Zettel aus. Bitte einigen Sie sich innerhalb Ihrer Gruppe und schreiben den Täter oder die Täterin und das Motiv auf diesen Zettel. Die Gruppe mit der besten Lösung darf gleich die Verhaftung vornehmen. Sie haben jetzt fünf Minuten Zeit, um den Zettel auszufüllen.«

Jede Gruppe verkroch sich in irgendeine Ecke der Arkaden. 

»Also, wer war es? Lasst uns abstimmen?«, forderte Sven. Marie sah in die Runde. Aber es kam nichts. Also übernahm sie die Gesprächsführung: »Wer hat Theo von Blumenau und Max Müller aus dem Weg räumen wollen?« 

»Das stärkste Motiv hat eindeutig Annett. Theo wollte die Scheidung. Das hat sie durch den Mord verhindert. Sie kann weiter mit diesem Ole herummachen, und die Galerie wird nicht durch diesen Max ruiniert. Sie kann jetzt einen fähigen Geschäftsführer suchen und von den Erträgen prima leben. Ob Ole am Mord beteiligt war, oder ihr nur ein Alibi geliefert hat, finde ich nicht so wichtig«, sagte Bene.

»Ich bin für die dicke Tochter«, schmunzelte Leo. »Ich glaube ihr die Geschichte mit der Versöhnung nicht. Sie hat zwar versucht, sich wieder mit ihrem Vater zu vertragen, aber der wollte bis zum Schluss nicht. Sie hat keinen Job und braucht Theos Geld dringend. Sie wollte eben nicht nur den Pflichtteil, sondern alles, und das jetzt sofort.«

»Aber warum hätte sie Max Müller umbringen sollen?«, fragte Bene.  

»Aus dem gleichen Grund wie Annett. Um zu verhindern, dass der die Galerie vollständig ruiniert«, sagte Bene. »Kommt, lasst uns abstimmen.«

Leo und Sven stimmten für Marisa. Marie, Jule und Benedikt hielten Annett für die Täterin. Drei gegen zwei bedeutete, dass Bene den Zettel ausfüllte, und in die Rubrik Mörder/in den Namen Annett von Blumenau schrieb. Dann begründete er diese Wahl und führte auch noch ins Feld, Annett habe sich dadurch verraten, dass sie die Todesart kannte, obwohl man sie ihr nicht mitgeteilt hatte. 

Frau Gemmen sammelte die vier Zettel ein. »Es steht drei zu eins«, stellte sie fest. »Die Gruppe Geistesblitz ist der Meinung, Annett von Blumenau habe ihren Mann umgebracht.

»So eine Unverschämtheit«, rief eine Stimme aus der sie umgebenden Menge von Weihnachtskauflustigen. Die Stimme kam aus einem stark geschminkten Gesicht. Und wieder wurden die Augen mit einem Taschentuch betupft.

»Drei Gruppen dagegen haben sich auf den betrügerischen Kompagnon Max Müller festgelegt. »Wieso denn das?«, fragte ein bärtiger Mann in Jeans und Lederjacke. »Ich bin weder ein Betrüger noch ein Mörder.«

»Wer ist das denn?«, fragte Marie entsetzt. 

Eine Frau aus der Gruppe ›Sherlock Marple‹, die neben Marie stand, sah sie erstaunt an. »Das ist doch Max Müller. Habt ihr den denn nicht befragt?«

Marie schüttelte den Kopf. 

»Na, dann konntet ihr die Lösung auch nicht finden. Er hat dem Oberbürgermeister ein gefälschtes Bild angedreht. Theo hat das herausbekommen und wollte Max am nächsten Tag nicht nur hinausschmeißen, sondern auch anzeigen. Das hätte einen ganz schönen Skandal gegeben. Außerdem war Max in Annett verliebt und hatte vor, in Zukunft nicht nur die Galerie mit ihr zusammen zu führen.«

»Aha«, sagte Marie und sah zu, wie die Gruppe ›Familie Schmidt‹ Max Müller ergriff und abführte. Frau Gemmen applaudierte. Sie ging auf Sven zu und gab ihrer Hoffnung Ausdruck, demnächst einen netten Artikel in der DZ über das Mordsspiel zu lesen. Sie bat inständig darum, nicht zu viel über den Fall als solchen zu schreiben und schon gar nicht die Identität des Mörders preiszugeben. Den zukünftigen Mitspielern sollte nicht die Spannung genommen werden.

»Sagen Sie mal Frau Gemmen, welche Rolle hat denn der Schauspieler gespielt, der auf der Oststraße umgebracht wurde? Ich kann den jetzt überhaupt nicht im Fall unterbringen. Wir dachten, es handele sich um Max Müller.«

»Ich kenne niemanden, der auf der Oststraße umgebracht worden ist«, sagte Frau Gemmen. »Sie haben mit der Ehefrau, dem Bruder, der Tochter, dem Freund der Ehefrau und dem Geschäftspartner reden können. Andere Mitspieler gab es nicht.«

Marie und Bene sahen sich entsetzt an. 

»In Ordnung. Vielen Dank Frau Gemmen. Los kommt!«, rief Sven und bahnte sich bereits einen Weg durch die Menschenmenge. Leo und Jule folgten. Marie und Bene riefen »Auf Wiedersehen« und flitzten ihnen nach. Frau Gemmen sah ihnen verständnislos hinterher. 

In Rekordzeit waren sie wieder auf der Oststraße. Die Toreinfahrt stand noch immer offen. Und auch der Mann lag noch immer hinter dem Lieferwagen. 

 

*

 

Tom Brecht, Hauptkommissar beim KK 11 im Polizeipräsidium am Jürgensplatz, hatte an diesem Samstag keinen Dienst – und war froh darüber. In den letzten Wochen hatte er sich überwiegend im Rotlichtmilieu rund um den Hauptbahnhof aufhalten müssen. Es hatte Riesenprobleme zwischen zwei miteinander nicht gerade befreundeten Familien gegeben, die jeweils einen bestimmten Teil dieses Geschäftszweiges kontrollierten. Man war sich massiv in die Quere gekommen, was zum Tod eines jungen Mannes geführt hatte. Danach folgten Übergriffe, die zu schweren Verletzungen bei weiteren Familienmitgliedern führten. Außerdem wurde die Einrichtung eines Lokals mehr oder weniger pulverisiert. Tom hätte sich nicht gewundert, wenn man ihn im Laufe dieses Falles in ein Schlafzimmer geführt hätte, das einen blutigen Pferdekopf in seidenen Laken enthalten hätte. Kurz, er kam sich vor wie ein Statist, der in einen Krieg der Paten geraten war. 

Vor einer knappen Woche hatte der Spuk zumindest vorläufig ein Ende gefunden mit der Festnahme von elf Mitgliedern beider Familien. Die Staatsanwaltschaft hatte die Bemühungen von Tom und dessen Kollegen abgenickt. Danach folgte eine Unmenge an Papierkram. Am gestrigen Freitag hatte Tom schon am frühen Nachmittag einen hoffentlich letzten Haken an den Vorgang machen können und war erleichtert und zufrieden nach Hause gefahren. 

Leider war solch ein Ende eines kräftezehrenden Falles durchaus nicht die Regel. Viel zu häufig waren Täter und Motive bekannt, nur ließen sich wegen mangelnder Beweise oder falscher, jedoch unwiderlegbarer Alibis keine Anklagen durch die Staatsanwaltschaft erheben, die vor Gericht Hand und Fuß gehabt hätten.

Umso zufriedener widmete sich Tom an diesem Samstag der Lösung häuslicher Probleme, die er bereits seit einiger Zeit vor sich hergeschoben hatte. Nachdem er seiner Versicherung einen Schaden gemeldet und diverse Rechnungen bezahlt hatte, beseitigte er mittels Racofix ein Loch in seiner Wohnzimmerwand, das entstanden war, als ein relativ schweres und hässliches Bild – ursprünglich aufgehängt von seiner Exfrau – der Schwerkraft keinen Widerstand mehr geleistet hatte. 

Beim Absturz des Bildes hatte es erheblichen Sachschaden gegeben, unter anderem an der Wand. 

Tom hatte gerade das Corpus Delicti im Mülleimer entsorgt, was ihm ein Lächeln ins Gesicht zauberte, als sein Handy sich mit einer Melodie meldete. Es handelte sich um den Kriminaltango. Tom beschloss, sofort nach dem Gespräch endlich Nägel mit Köpfen zu machen und so lange durch das Einstellungssystem seines Smartphones zu navigieren, bis er zu dem Menupunkt kommen würde, an dem man wieder einen normalen Klingelton einstellen konnte. Das musste doch irgendwie möglich sein. Sein Neffe war für den Tango verantwortlich. Tom fand das mehr als peinlich.

Marie war am anderen Ende der virtuellen Leitung. Ihre Stimme zitterte und klang ganz hoch und aufgeregt.

»Tom, Gott sei Dank, dass ich dich erreiche. Hier liegt ein Toter. Und wir haben so einen Mist gebaut. Wir haben gedacht, er stellt sich nur tot. Kannst du bitte kommen? Wir haben es doch wirklich nicht ahnen können.«

»Marie, bist du das? Was ist los?«

Aus dem Hörer schluchzte es. Das war ein Alarmzeichen für Tom. Die große, beherrschte, vernünftige Marie war offenbar völlig außer Fassung.

»Marie, ganz ruhig. Ich bin gleich bei dir. Alles ist gut. Wo bist du?«

Marie gab die Adresse durch und bestätigte, da im Hinterhof liege ein offenbar gänzlich toter Mann. Wie er gestorben war, konnte sie nicht sagen. Tom warf die Maschinerie an. Er orderte einen Streifenwagen und vorsichtshalber auch noch den Notarzt zur Oststraße, schnappte sich seine Winterjacke und fuhr, so schnell es der Verkehr zuließ, in die völlig verstopfte Innenstadt. Er parkte in der zweiten Reihe hinter den Kollegen und eilte in den Innenhof. 

Marie und ihr Freund Benedikt, Jule, Sven Ücker und ein Mädchen, das Tom nicht kannte, standen bei den uniformierten Kollegen. 

Bene hatte den Arm um Marie gelegt. Eine Polizistin sprach mit der weinenden Jule. Sven kritzelte etwas auf einen Block und das Mädchen in Schwarz starrte intensiv auf ihre Stiefel.

Tom stellte sich den Kollegen vor und nahm Jule in den Arm. Sie schien gerade am nötigsten Trost zu brauchen. Gleichzeitig fragte er in die Runde: »Wer von euch kann mir sagen, was hier passiert ist?«

Sven Ücker fasste sich als Erster. »Wir haben heute bei einer organisierten Mörderjagd mitgemacht. Das nennt sich Mordsspiel. Ich soll eine Reportage darüber machen. Man bekommt einen Fall geschildert und muss dann alle möglichen Verdächtigen vernehmen und am Ende entscheiden, wer der Mörder ist.«

»Und dafür bezahlt irgendjemand Geld?«, fragte die Streifenpolizistin zweifelnd. 

Sven nickte. »Das läuft anscheinend sogar richtig gut. Jedenfalls sollten wir hier im oder am Haus einen der Schauspieler vernehmen. In seiner Rolle heißt er Max Müller. Wir sind in den Hof gegangen und haben diesen Mann hier liegen sehen. Wir dachten natürlich, das gehöre alles zu dem Spiel. Wir haben ihn angesprochen und er hat irgendetwas gesagt wie ›Ich habe es nicht mehr geschafft‹.«

»Er hat noch gelebt?«, fragte Tom entsetzt.

»Ja, vielleicht hätten wir ihn noch retten können«, schluchzte Jule.

»Unsinn«, sagte Benedikt. »Aber wir waren wohl dabei, als er gestorben ist. Er hat seine Augen geschlossen und sein Kopf ist so ein bisschen zur Seite gefallen. Es war wie im Fernsehen. Deshalb haben wir ja auch gedacht, er spielt uns nur was vor.«

»Du hast noch gesagt, er hätte den Oscar verdient«, sagte Marie beinahe tonlos.

»Was habt ihr dann gemacht?«

»Wir sind zu den Schadow-Arkaden gelaufen. Wir waren ohnehin schon spät dran. Da sollte um sechs die Auflösung sein.«

»Das heißt, ihr seid hier um kurz vor sechs losgegangen?«

»Um Viertel vor sechs. Ich habe auf die Uhr gesehen«, korrigierte Bene.

»Und dann?«

»Bei der Auflösung haben wir festgestellt, dass irgendetwas nicht stimmt. Die anderen Gruppen hatten alle diesen Max Müller als Täter angegeben. Der Schauspieler wurde festgenommen und wir konnten sehen, dass es nicht der Mann hier war. Daraufhin sind wir so schnell wir konnten hierhin zurückgelaufen und haben festgestellt, dass der Mann noch immer hier liegt«, erklärte Sven.

»Und dann habe ich dich sofort angerufen«, sagte Marie.

Tom nickte. »Ich nehme mal an, ihr habt ihn nicht angefasst.«

Alle sahen Marie an. »Doch ich«, gab sie zu. »Ich dachte doch, das wäre alles nur ein Fake. Ich habe seine Taschen durchsucht. Ich war sicher, die hätten da einen Hinweis für uns versteckt.« 

»Hast du etwas gefunden?«, fragte Tom.

Marie ließ den Kopf hängen und sagte nichts. Tom würde sie vermutlich in die Klapsmühle einweisen lassen, wenn er jetzt auch noch den Rest der Geschichte erfuhr. Sie wusste nicht, wie sie ihr völlig absurdes Verhalten erklären sollte. 

Benedikt erwies sich als wahrer Freund. »Marie hat ein paar Papiere gefunden und sie erst mal mitgenommen, weil wir so in Eile waren. Die setzen einen völlig unter Stress bei diesem Spiel. Unterwegs hat sie dann festgestellt, dass das Ganze nichts mit unserem Fall zu tun hatte und den Kram in einem Papierkorb entsorgt.«

»Ich weiß, das war völlig bescheuert von mir«, sagte Marie, die jetzt entschlossen war, das Ganze durchzustehen. 

Tom nickte. »Da kann ich dir nicht widersprechen. In welchen Papierkorb hast du die Unterlagen geworfen?«

Die Gruppe Geistesblitz sah sich betreten an. »Irgendwo auf der Immermannstraße, glaube ich«, sagte Marie. 

»Ich meine, es war noch auf der Oststraße«, widersprach Leo.

Tom seufzte. Er bat den uniformierten Kollegen, dafür zu sorgen, dass der Inhalt aller Papierkörbe auf der Strecke zu den Schadow-Arkaden sichergestellt wurde. Anschließend schickte er die fünf Detektive zu Jule nach Hause, wo er später noch mit ihnen reden wollte. Sven witterte eine sensationelle Story und wollte bleiben, aber Tom ließ sich nicht erweichen. Die immer noch reichlich entsetzte Gruppe trabte also ab und Tom wandte sich dem unbekannten Toten zu. 

Auf den ersten Blick wies der Mann keine sichtbaren Verletzungen auf. Er lag mit geschlossenen Augen auf dem Rücken und wirkte beinahe wie ein Schlafender. Tom schätzte ihn auf Anfang bis Mitte 50. Er sah gepflegt aus und trug eine teure Outdoor-Jacke eines namhaften Herstellers. 

Tom bat die Kollegin darum, Verstärkung zu rufen. Da es sich um eine unklare Todesursache handelte, war Vorsicht geboten. Es geschah nicht gerade selten, dass der Polizeiarzt, der Fotograf und die Spurensicherung zu einem Fall gerufen wurden, der sich dann als simpler Herzinfarkt herausstellte. Aber das war besser als umgekehrt. Spuren, die einmal beseitigt waren, waren nur schwer oder überhaupt nicht mehr zu rekonstruieren.

Aber in diesem Fall war Tom von seinem Gefühl nicht getäuscht worden. Zwei Stunden später stand fest, der Mann hatte Stichverletzungen, an denen er letztlich gestorben war. Der Polizeiarzt griff der Obduktion durch die Vermutung vor, es könne eine ganze Zeit gedauert haben, bis das Opfer seinen Verletzungen erlegen war. Der Fundort musste also nicht zwangsläufig auch der Tatort gewesen sein. 

Das Opfer hatte nur wenig Blut verloren. Die Stichwunde wurde im Rücken gefunden. Das Tatwerkzeug blieb verschwunden. Eine Durchsuchung der Taschen des Mannes ergab keine Hinweise auf seine Identität. Er hatte keine Brieftasche, kein Portemonnaie, kein Handy und keine weiteren Papiere bei sich. Tom hoffte, der Inhalt der Papierkörbe würde vielleicht Aufschluss über seine Identität geben. Ein Raubmord schien jedenfalls nicht ausgeschlossen. 

Der Tote wurde abtransportiert. Vorher hatte der Hauseigentümer des Grundstücks an der Oststraße noch einen Blick auf ihn geworfen und festgestellt, dass es sich um keinen seiner Mieter oder irgendein bekanntes Gesicht aus der Nachbarschaft handelte.

Tom ließ sich mit dem Diensthabenden im KK 11 verbinden und erfuhr, niemand, auf den die Beschreibung zutraf, sei in den letzten Stunden als vermisst gemeldet worden. 

Inzwischen waren seine Kollegen Jörg Möller und Verena Maar am Fundort eingetroffen. Tom informierte sie.

»Schon wieder Marie und Jule«, stellte Jörg lakonisch fest. »Du kommst von dieser Heine-Familie einfach nicht los. Das solltest du mal als Zeichen werten.«

Verena lächelte. Ihrer Ansicht nach hätten Tom Brecht und Anna Heine wunderbar zueinander gepasst, aber irgendwie klemmte es permanent in deren Beziehung zueinander. Beinahe zusammengefunden hatten die beiden vor gut eineinhalb Jahren. Damals war Annas beste Freundin Lisa das scheinbar erste Opfer einer Reihe von Morden gewesen. Tom und Anna hatten schließlich gemeinsam die Lösung des Falles gefunden. 

Danach hatte Tom acht Monate in Afghanistan gelebt, wo er beim Ausbildungsprogramm der dortigen Polizei beschäftigt gewesen war. Er war auf diese Weise dem Mobbing durch seinen Vorgesetzten, Kriminalrat Nölle, entgangen. Nölle war mittlerweile zur Erleichterung aller in den durchaus nicht wohlverdienten Ruhestand gegangen. Tom hatte in Afghanistan eine Beziehung zu einer Lehrerin begonnen, die allerdings bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen war. 

Kaum wieder zurück, hatten sich Toms und Annas Wege in diesem Sommer erneut gekreuzt. Anna hatte das Preisausschreiben betreut, in dem nach dem Super-Düsseldorfer gesucht worden war. Tom hatte es zur selben Zeit mit einem Mörder zu tun gehabt, der die Einzelteile eines Toten über das ganze Stadtgebiet verstreut hatte. Es hatte sich schließlich herausgestellt, dass beide Schnitzeljagden durchaus miteinander verknüpft waren. 

Auch Verena und ihr Partner Thomas Neven hatten sich am Preisausschreiben beteiligt. Dabei hatte sich herausgestellt, dass sich Anna und Thomas, die Journalisten bei verschiedenen Zeitungen waren, bereits seit einigen Jahren kannten. Im Herbst hatte es eine Einladung bei Verena und Thomas gegeben, bei der Anna und Tom ein wunderbares Essen genossen und einen netten Abend miteinander verbracht hatten – aber wieder war nicht mehr daraus geworden.

»Anna ist so eine Nette«, sagte Verena. »Und die Mädchen auch. Du könntest es deutlich schlechter treffen.«

»Ist ja gut«, wiegelte Tom ab, dem das Thema unangenehm war. »Jetzt sollten wir uns erst mal um den Toten kümmern.«

»Genau«, stellte Jörg fest. »Du redest noch mal in aller Ruhe mit den Heine-Damen, während Verena und ich uns hier in der Nachbarschaft umschauen. Vielleicht hat ja doch irgendjemand etwas gesehen oder gehört.«

Dieser Plan wurde in die Tat umgesetzt. Tom stieg in sein Auto, mit dem er immer noch die rechte Spur der Oststraße blockierte. Anna wohnte ganz in der Nähe. Der Weg nahm deutlich weniger Zeit in Anspruch als die Parkplatzsuche, obwohl es mittlerweile knapp 21 Uhr, und der verkaufsoffene Teil des Adventssamstags bereits beendet war.

Tom parkte viel zu dicht an einer Straßenecke, aber das war ihm in diesem Moment gleichgültig.

Er klingelte bei Anna und schaltete gerade das Treppenhauslicht an, als ihm sein alter Bekannter Egidius Knecht auf der Treppe entgegenkam. Egidius war Hauseigentümer, Wächter über die gesamte Straße, und eine moralische Instanz in Sachen Erziehung von Jugendlichen, Ordnung und Sauberkeit im Hausflur sowie der Einhaltung von Lärmvorschriften.

»Ach, der Herr Kommissar. Sie sind also mal wieder im Lande. Ich hoffe, meine Mieter haben nichts ausgefressen. Hahaha.«

»Guten Abend Herr Knecht«, antwortete Tom schicksalsergeben und versuchte, sich so schnell wie möglich an Egidius vorbeizudrücken. Aber Knecht war im Gegensatz zur Treppe breit, besonders, wenn er wie jetzt sein Volumen noch aufblähte.

»Auf dem Weg zur Familie Heine, nehme ich an?«, dröhnte es.

Tom hätte ihm gern gesagt, wie wenig ihn das seiner Meinung nach anginge, aber er wollte Anna nicht erneut ins Kreuzfeuer der Knecht’schen Kritik rücken. Das hatten alle Beteiligten nach Lisa Risters Tod ertragen müssen. Lisa war auch eine seiner Mieterinnen gewesen. 

»Entschuldigung, Herr Knecht. Ich habe es leider eilig.«

Egidius ließ ihn widerwillig passieren und lauschte, ob er irgendetwas mitbekam, das ihm Aufschluss über den Grund des Besuchs gegeben hätte. Vergeblich.  

Tom wurde von Marie in Annas Wohnung gelassen. Sie hatte Egidius gehört und schloss daher die Tür, bevor sie redete. 

»Gut, dass du kommst. Wir sind alle total fertig.«

Sie führte ihn ins Wohnzimmer. Dort saßen Anna, Jule, Sven und das Mädchen, das er nicht kannte. 

»Soll ich Benedikt runterholen? Er musste noch was erledigen, aber er kommt sofort, wenn du ihn brauchst.«

Tom nickte. Marie lief eine Treppe hoch und schloss dort die Tür auf. Sie lebte seit ein paar Monaten zusammen mit ihren Freunden Benedikt, Funda und Patrick in einer Wohngemeinschaft eine Etage oberhalb der Wohnung, in der ihre Mutter und ihre Schwester residierten. Bene war in seinem Zimmer und arbeitete an einem Referat, das er am Montag würde halten müssen. 

Marie gab ihm einen flüchtigen Kuss und sagte: »Tom ist jetzt da. Du sollst bitte runterkommen.«

Bene klappte ein Buch zusammen und folgte seiner Freundin in die zweite Etage. Tom hatte die Zeit genutzt, sich mit Leo bekannt zu machen. 

Als alle saßen, legte Tom los. »Zunächst ein Wort an Sie, Herr Ücker und auch an Sie, Frau Schmitz-Talaue...«

»Sagen Sie doch bitte Leo zu mir, sonst denke ich, Sie sind mir böse.«

Tom nickte ergeben. »Gut, dann also Leo. Sie beide sitzen hier als wichtige Zeugen und nicht als Journalisten. So verlockend das auch für Sie beide sein mag, alles, was wir hier besprechen, ist nicht für eine Veröffentlichung bestimmt. Sollten Sie dem nicht zustimmen, muss ich Sie aufs Präsidium bitten, wo wir dann intern und einzeln mit Ihnen reden.«

»Alles klar, Herr Kommissar«, grinste Leo, die langsam wieder den Betroffenheitsmodus verließ. 

»Selbstverständlich. Sie kennen mich doch«, sagte Sven. »Sie können sich auf mich verlassen.«

»Ich bin übrigens auch Journalistin«, stellte Anna klar. »Willst du mich nicht auch verwarnen?«

»Ach Anna«, sagte Tom müde.

»War nicht so gemeint«, ruderte Anna zurück, die merkte, dass nicht nur ihre Familie, sondern auch Tom von den Ereignissen angegriffen war.

»Also: Wir haben den Toten noch nicht identifizieren können. Wir hoffen aber, bei den von dir fortgeworfenen Papieren irgendeine Information zu finden.« 

Maries Gesicht verfärbte sich dunkelrot.

»Der Mann ist hinterrücks erstochen worden. Es handelt sich also offenbar um ein Verbrechen. Die Verletzung war so, dass er vermutlich nicht sofort gestorben ist. Es könnte sogar sein, dass der Hof, auf dem ihr ihn gefunden habt, nicht einmal der Tatort ist. Er könnte sich noch dort hingeschleppt haben. Für mich ist jetzt jedes Detail wichtig. Versucht bitte, euch an den genauen Wortlaut dessen zu erinnern, was er noch gesagt hat, bevor er gestorben ist.«

Leo meldete sich. »Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach. Er hat gesagt: ›Ich habe es versucht, aber ich habe es nicht geschafft‹.«

Die anderen nickten. Ja, das hatte der Mann gesagt. 

»Meint ihr, er hat euch erkannt? Oder vielmehr, er hat erkannt, dass er euch eben nicht kennt? Oder kann es sein, dass er euch für jemand anderen gehalten hat?«

»Du fragst dich, warum er den Satz zu den Kindern gesagt hat?«, vermutete Anna, die Toms Frage etwas verwirrend fand. 

Tom nickte. »Es kann sein, dass er nicht mehr völlig klar war, und die Gruppe für seine Mörder gehalten hat. Oder aber er wollte, dass man diesen Spruch an denjenigen weiterleitet, für den er eigentlich bestimmt war, also an den, der das von ihm wollte, was er nicht mehr geschafft hat. Was immer das auch war.«

»Keine Ahnung«, sagte Marie. »Es ist schwierig, sich da jetzt reinzudenken. Wir haben schließlich geglaubt, das Ganze sei eine einzige Show.«

»Apropos Show. Wie genau heißt der Veranstalter dieses Spiels? Ich muss sicherheitshalber auch mit denen reden. Vielleicht besteht doch irgendein Zusammenhang. Immerhin wolltet ihr ja diesen Schauspieler in dem fraglichen Haus vernehmen.«

Sven reichte ihm die Einladung der Mordsspiel-Firma. Daraus ergaben sich Adresse und Telefonnummer. 

»Ob der angebliche Zeuge in dem Haus war, wissen wir nicht mal. Wir hatten eine Handynummer von diesem Max Müller und haben ihn angerufen. Er hat uns die Adresse gegeben und gesagt, wenn wir ungefähr auf Höhe des Hauses wären, sollten wir noch einmal anrufen. Er würde dann herunterkommen. Er hat aber nicht explizit gesagt, dass er in diesem Haus wäre.«

Tom nickte Bene zu, der die Erklärung abgegeben hatte. »Und habt ihr dann noch einmal angerufen?«

Bene nickte. »Haben wir. Aber er ging nicht dran. Wir wussten nicht, ob er es nur hat klingeln lassen und runterkommen würde oder ob er unseren Anruf wirklich nicht gehört hat.«

»Und dann dachten wir, dass er vielleicht sogar schon unten wäre und haben im Hof nachgeschaut. Das Tor war offen«, ergänzte Sven.  

»Wir haben erst ein paar Minuten gewartet. Bene meinte dann, wir sollten zurück auf den Bürgersteig gehen, um diesen Müller nicht zu verpassen. Zur selben Zeit bin ich aber hinter den Lieferwagen gegangen und habe den Mann da liegen sehen«, erklärte Leo.

Sven nickte. »Sie hat uns gerufen. Wir sind hingelaufen und standen dann um ihn herum. Er wollte etwas sagen, aber es kam erst kein Ton heraus. Wir dachten natürlich, er spielt uns nur etwas vor. Marie hat sich heruntergebeugt, um ihn besser verstehen zu können.«

»Wir haben ihn auch ein paarmal angesprochen«, sagte Jule. »Wisst ihr nicht mehr? Wir haben doch so was gesagt wie ›Hallo, Herr Müller. Was ist los mit Ihnen?‹«

Die anderen nickten. »Schließlich hat er leise gesagt, er hätte es versucht, aber leider nicht geschafft und dann ist er gestorben.«

»Es tut mir so leid, Tom. Das hört sich jetzt alles so superdämlich an, aber wir waren echt im Stress. Wir hatten noch keine Ahnung, wer bei unserem Spiel der Täter war, und wir wollten uns auch nicht blöder anstellen als die anderen Gruppen. Das Ganze ist so schrecklich. Vielleicht hätten wir ihn noch retten können«, sagte Marie zutiefst unglücklich.

»Nein, Marie. Ihr hättet ihn nicht retten können. Selbst wenn ihr sofort den Notarzt gerufen hättet, hätte der nichts mehr für ihn tun können. Er ist doch direkt danach gestorben. Macht euch da nur keine Vorwürfe. Wir hätten lediglich etwas schneller vor Ort sein können. Und wir wüssten vielleicht schon, wer er war, wenn wir die Papiere hätten. Aber gestorben wäre er so oder so.«

Anna lächelte Tom dankbar an. 

»Ihr könnt jetzt alle nach Hause gehen. Herr Ücker und Leo, Sie beide schreiben mir bitte noch Ihre Kontaktdaten auf. Dann ist für heute für euch Schluss.«

»Möchtest du ein Bier oder ein Glas Wein?«, fragte Anna. Tom schüttelte den Kopf. »Für euch ist Schluss, aber nicht für mich. Ich muss noch ins Präsidium. Vielleicht gibt es schon etwas Neues.«

»Rufst du mich morgen mal an?«, fragte Anna, was Tom versprach. 

Er verabschiedete sich und murmelte, als er sein Auto aufschloss: »So viel zum dienstfreien Wochenende.«

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