„Es ist einfach unerträglich“, meckerte der alte Mann verdrossen. „Immer gewinnst du.“ - „Vielleicht hast du ja Glück in der Liebe“, grinste der Sieger. „Hahaha“, erwiderte der alte Mann verbittert. Vor einer Minute war er auf der von seinem Gegner mit mehreren Hotels bebauten Schlossallee gelandet. Er musste sein Geld nicht zählen. Ein Blick reichte. Der Schöpfer des Universums war pleite.
Er klatschte in die Hände, was zur Folge hatte, dass ein Dienstengel herbeischwebte und auf einen Wink damit begann, Ereigniskarten, Hotels, Häuser und Spielfiguren in den Monopolykarton einzuräumen.
Sein Gegner scheuchte den Engel wie eine lästige Fliege fort, als der nach den Geldscheinen greifen wollte. „Halt“, sagte der Herr der Finsternis genüsslich. „Ich möchte erst einmal mein Gesamtvermögen ermitteln.“
„Um meinetwillen“, sagte Gott, wenn es dir so viel Spaß macht, dann zähl ruhig. Das tat der Teufel auch und nannte wenig später eine exorbitante Summe, zu der Gott schicksalsergeben nickte.
„Vielleicht sollten wir wieder Schach spielen“, schlug er vor. „Da habe ich wenigstens eine Chance, dich auch mal zu schlagen.“ Der Teufel schüttelte den Kopf. „Das haben wir tausend Jahre lang einmal pro Woche gespielt. Es hängt mir zum Hals heraus. Warum zum ICH gehst du nicht mal auf meinen Vorschlag ein und lässt dir die neuen Medien erklären?“
„Weil diese verdammten Computer dein Werk sind und ich genau weiß, dass ich damit keine Chance gegen dich habe.“
„Und was ist mit deiner viel beschworenen Allmacht?“ Gott brummelte etwas Unverständliches.
Das Gespräch fand statt in einem großen hellen Raum mit einer Glaskuppel, die den Mittelpunkt der vierten Dimension darstellte. In soweit hatte sich der Schöpfer gegenüber seinem dunklen Widerpart durchgesetzt. Gespielt wurde mittwochs bei Gott und nicht in den Niederungen der höllischen Behausung, obwohl der Teufel die mittlerweile auch recht geschmackvoll gestaltet hatte.
Der Teufel schlürfte seinen Cocktail, wobei ihn das bunte Schirmchen behinderte. Er entfernte es aus der Ananas, die auf dem Glasrand steckte und legte es auf den Tisch. „Du glaubst gar nicht, wieviel Spaß diese Computerspiele machen“, sagte er. „Manche kommen deinen Neigungen und Fähigkeiten sogar ausgesprochen entgegen. Du kannst ganze Universen erschaffen. Du hast ein Szenario, fängst praktisch bei Null an, baust dir eine Welt auf und verteidigst die gegen meine Angriffe. Gleichzeitig versuchst du, meine Parallelwelt zu vernichten.“
„Hört sich gar nicht so schlecht an“, sagte Gott widerwillig doch ein wenig interessiert. „Aber andererseits glaube ich nicht, dass ich mir in meinem Alter noch die Beschäftigung mit Computern antun muss. Diese ganzen Tasten und Kabel und Programme. Ich glaube nicht, dass ich dazu Lust habe. Glücklicherweise habe ich hier im Himmel genug Leute, die mir diesen Mist abnehmen.“
„Wie du meinst. Ich glaube, du verpasst da wirklich etwas“, sagte der Teufel.
„Könnte man so etwas nicht auf der Erde spielen?“, fragte Gott versonnen. „Wie stellst du dir das vor?“, fragte der stets zu allen Schandtaten bereite Teufel. In Gottes Phantasie formte sich eine Idee. Er begann zögernd und wurde immer sicherer: „Stell dir vor, wir schaffen zwei kleine und überschaubare Inseln auf der Erde, die genau gleich ausgestattet sind, was die Topographie angeht, sozusagen Zwillingsinseln. Jeder von uns bekommt eine und baut sie nach seinen Wünschen mit Straßen, Häusern, Läden und so weiter aus. Dann schickst du mir eine ausgewählte Sünderschar auf meine Insel und ich ein paar fromme Seelen zu dir. Jeder von uns versucht durch einen Assistenten, der auf der eigenen Insel sitzt, die Gegenseite umzupolen.“
Der Teufel nickte. „Das könnte tatsächlich funktionieren.“ Gott spann die Idee weiter: „Aber es gibt klare Fairplay-Regeln: Wir nehmen normale Leute, keine Heiligen und keine Schwerverbrecher.“
„Ich bin für mein Fairplay bekannt“, lächelte süffisant der Teufel. „Ich schicke dir Banker, Politiker, kurz normale Leute mit ein paar schwarzen Flecken auf der Seele. Und du verschonst mich mit Angestellten deiner Firma, keine Nonnen, keine Kardinäle und vor allem keinen Papst.“
Gott antwortete bekümmert: „Den könnte ich dir gar nicht schicken. Der hat selbst genug schwarze Flecken. Oder meinst du, Engstirnigkeit und Selbstherrlichkeit wären keine Sünden? Das ist häufig das Problem mit meinen Päpsten. Sie verlieren vor lauter Heiligkeit den Boden unter den Füßen und meinen, sie wüssten alles besser als ich."
„Lass die Päpste päpstlicher sein als du selbst. Komm wir arbeiten die Spielregeln aus“, forderte der Teufel mit aufmunterndem Blick und zupfte seinen Anzug zurecht.
*
Flop machte es, und noch einmal Flop. Zwei kleine Inseln tauchten plötzlich aus dem Meer auf. Danach folgten unzählige winzige Flops. Auf jeder Karte, jedem Globus, in jedem Atlas, in Doktorarbeiten, Büchern und in den Gehirnen der Menschen waren sie plötzlich da. Nur ein überaus verblüffter Delfin holte sich eine blutige Nase, weil er weder rechtzeitig bremsen noch ausweichen konnte.
Der Erdkundelehrer Bert Better wurde von dem Flop in seinem Kopf halb wach und schlief kurz darauf mit einem Lächeln auf den Lippen und dem Gedanken ein, seinen Leistungskurs mit einer Klausur über die geographischen Besonderheiten der Zwillingsinseln zu piesacken.
*
Peter haute wütend auf den Tasten seines Laptops herum und bestätigte mit Enter. Bereits sechsmal hatte er in den letzten drei Tagen das Probenkonzept der himmlischen Chöre und Orchester in allen Feinheiten sorgfältig eingegeben. Dabei hatte er die Stundenpläne der Gesangslehrer und der Hilfsdirigenten ebenso berücksichtigt wie die Verfügbarkeit der unterschiedlich großen Proberäume. Und immer, wenn endlich alles aufeinander abgestimmt war, kam irgendein Solist mit einer Zusatzbedingung, streikte die Transportgewerkschaft, wenn zu viele Harfen hin und her geschleppt werden sollten oder eine Probewolke regnete sich einfach weg, ganz entgegen der meteorologischen Voraussage aus dem Zusatzprogramm, das seit der letzten Saison wegen häufiger Pannen auf diesem Gebiet jetzt fest installiert war.
Peter gab den Druckbefehl und wischte sich ein paar Schweißtropfen von der Stirn. Der Drucker spuckte etliche Blatt Papier aus. Die Koordination der himmlischen Musiker war für diese Saison erledigt.
Es klopfte an der Tür. Peter heftete seinen Papierstapel auf eine Lasche und rief: „Herein“. Ein kleiner, älterer Mann mit grauer Lockenpracht betrat aufgeregt den Raum und sprach auf Peter ein: „Hoffentlich bin ich jetzt hier endlich richtig. Das ist ja schlimmer als beim Finanzamt Stuttgart 1. Man wird von Tür zu Tür geschickt und niemand ist für einen zuständig.“
Peter witterte Unheil, blieb aber zunächst freundlich. „Womit kann ich Ihnen denn helfen?“, fragte er abwartend. „Haben Sie hier mit der Koordination der himmlischen Chöre zu tun?“ Peter nickte. „Das ist gut. Sie werden schon auf mich gewartet haben. mein Name ist Gottlieb Schiffer und ich übernehme das Ganze jetzt hier. Ich bin der neue Chefchorleiter.“
„Typisch, dass mir wieder niemand etwas von Ihrem Kommen gesagt hat. Weiß Herbert Bescheid, dass er die Chöre abgeben soll und nur noch fürs Orchester zuständig ist?“, fragte Peter schicksalsergeben. Gottlieb lächelte verschmitzt: „Dass hier niemand etwas von meiner Ankunft weiß, liegt wahrscheinlich daran, dass ich noch nicht, ähem, tja tot bin.“ „Wie zum Teu... äh, wie um Himmels Willen haben Sie es dann geschafft, hierher zu kommen?“, fragte Peter entgeistert. „Ganz einfach“, strahlte Gottlieb. „Ich habe nur gesagt, dass ich eine Messe für Gott komponiert habe. Beim Papst hat das auch schon funktioniert. Wenn ich daran denke!“ Er wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Der Petersplatz war voll mit meinen Chören. Ganz Rom hat geweint vor Glück.“
„Also Herbert weiß von nichts? Er kann ein bisschen ungemütlich werden, wenn er meint, man wolle seine Kompetenzen beschneiden. Naja, schlimmstenfalls muss ich ihm damit drohen, dass Leonhard für eine Zeit den Taktstock schwingt, wenn er mal wieder die Kooperation verweigert.“
„Wie viel Stimmen haben denn die himmlischen Chöre?“, fragte Gottlieb neugierig. Mit Stolz in der Stimme ließ sich Peter die Zahl 70 000 auf der Zunge zergehen. Gottlieb ließ entsetzt seinen Aktenkoffer fallen. Eine Vielzahl von Partituren ergoss sich über den Fußboden des Büros. „Das kann doch nicht Ihr Ernst sein. Damit können wir ja kaum einen Kanon singen. Ich habe gedacht, meine Arbeitsbedingungen verbessern sich um ein Vielfaches. So ein Pfusch. Was ist denn mit der Engelein Chor. Denken Sie mal an das schöne Weihnachtslied ‚Hoch oben schwebt jubelnd der Engelein Chor‘.“
„Ich fürchte, das ist reine Propaganda, um den Himmel von der Erde aus attraktiver erscheinen zu lassen. Mit den Aussagen aus Weihnachtsliedern sollte man grundsätzlich vorsichtig sein. Schließlich sind sie nur zum Teil vom Himmel lanciert worden. Die überwiegende Anzahl stammt von irgendwelchen frommen Lebenden. Zum Beispiel backen die Engel hier auch keine Plätzchen, wenn die Sonne die Wolken ein bisschen rosarot aussehen lässt.“ Gottlieb wirkte enttäuscht. Peter schüttelte bedauernd den Kopf „Sie kennen die Engel nicht. Ein faules Volk. Sie würden nie freiwillig irgendetwas tun.“
„Die Tür wurde aufgestoßen und es drängelten sich ein aufgeregter älterer Herr und eine giftig dreinblickende Dame in den Raum. „Sie haben auch noch nie etwas von ‚Ladies first‘ gehört“, zischte die Dame. „Meine liebe Maria, Ihre kleinen Eifersüchteleien müssen jetzt hinter wichtigeren Fragen zurückstehen. Ich habe wirkliche Probleme.“ Maria kräuselte ihre beeindruckende Nase und sagte „Pah!“
Herbert wandte sich an Peter. „Bitte mein lieber Freund, sagen Sie, dass es nicht wahr ist. Jemand will mir die Chöre rauben. Das Herz des Ensembles.“ Peter schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich habe auch noch keine definitive Anordnung. Aber dieser Mann hier“, er deutete auf Gottlieb, „behauptet, er sei der neue Chorleiter.“ Gottlieb nickte strahlend. „Das wäre einfach grauenvoll“, erwiderte Herbert mit zerquältem Gesicht. „Bitte nicht dies Orchester allein, diese süßliche Harfenlastigkeit. Unerträglich. Ich glaube, ich ziehe mich aufs Altenteil zurück. Soll Leonhard doch mit den Violinen und den Harfen machen was er will.“
„Vermutlich macht er etwas daraus, dem man mit Genuss lauschen kann, mein Lieber“, ließ sich Maria hören. „Wenn mir jetzt vielleicht auch mal jemand zuhören würde. Mein Anliegen erledigt sich nicht von allein." – „Das finde ich auch, gnädige Frau“, äußerte Gottlieb. „Dass ich Sie noch erleben darf, Sie Göttin der Arie.“ Maria erwiderte lächelnd: „Nun ja, erleben ist vielleicht nicht mehr ganz das richtige Wort, aber trotzdem danke, wer immer Sie auch sein mögen, verehrter Herr.“ Gottlieb strahlte die Sängerin an: „Ich bin der neue Chorleiter, ganz zu Ihrer Verfügung.“
„Dann werden Sie hoffentlich mit einigen Unsitten aufräumen, die sich in letzter Zeit hier eingeschlichen haben“, hoffte Maria, die einen dicken Wollschal fester um ihren Hals zurrte. „Zum Beispiel diese Überei auf den feuchten Wolken, nur damit das Ambiente stimmt. Enrico bekommt kaum noch einen Ton heraus, auch wenn ich nicht deshalb gekommen bin, sondern weil...“
Und wieder donnerte es gegen Peters Tür. Drei Männer und eine Frau im Flower-Power-Look der 60er Jahre stürmten lachend Peters Büro. „O Shit, was wollen all die Leute hier. Kann man sich hier anmelden für die himmlischen Chöre?“, fragte ein Mann mit Rasta-Locken. „Ruhig Bob, du weißt doch, keine Frau, kein Geschrei“, meinte ein Farbiger mit einer unglaublichen Frisur und zeigte auf Maria. „Ich glaube, du willst meine Texte nicht verstehen“, ärgerte sich Bob. Die Frau sagte: „Wir spielen und singen euch jetzt etwas vor. Wo ist eine Steckdose für Jimis E-Gitarre?“
„Halt!“ Peter versuchte noch einen kurzen Moment lang, Herr in seinem Büro zu bleiben. „Wer seid ihr denn?“ Der dritte Mann, mit einer kleinen kreisrunden kaputten Brille lächelte Peter an und sagte sanft: „Wir sind Suchende, mein Freund. Was du brauchst ist Liebe. Gib dem Frieden eine Chance. Stell dir vor, alle Leute würden ihr Leben in Frieden leben...“
„Schon gut John“, sagte die rundliche Frau und wandte sich zu Peter. „Wir haben gehört, es gibt Vergünstigungen für die Sänger in den himmlischen Chören. Jimi und ich hätten gern ein bisschen Stoff und John würde zu gern noch einmal einen Tag mit seiner Frau Yoko verbringen.“ – „24 Stunden“, korrigierte John. Jimi hatte inzwischen die Steckdose gefunden und mit einem Gitarrenintro begonnen. Maria hielt sich die Ohren zu, Gottlieb quiekte wie ein Ferkel und Herbert schloss gequält die Augen.
Nach dem Solo auf der Gitarre begann die Sängerin mit einem a cappella Gesang: „O Lord, won’t you buy me some more LSD, my friends all sniff cocaine, but that‘s not the stuff for me...“ – „Kann ja jetzt nicht mehr schaden“, meinte Bob und Jimi nickte. „Also wann sind die Proben?“
„Ich glaube, jetzt am Anfang üben wir täglich von 9 bis 12 Uhr, solange, bis wir ein bisschen aufeinander eingestimmt sind“, schlug Gottlieb vor. „Dienstags und mittwochs gehört die große Walhalle mir“, donnerte Herbert. „Meine Herren, bitte seien Sie vernünftig. Der Winterplan sieht ganz andere Zeiten vor“, stöhnte entgeistert Peter und hielt Gottlieb und Herbert den vor kurzem fertiggestellten Computerausdruck unter die Nase.
„Was heißt hier ‚meine Herren‘?“, kreischte Maria. „Ich werde diesen Fall der Frauenbeauftragten der vierten Dimension melden. Es ist eine Unverschämtheit, dass hier jeder zu Wort kommt, nur wenn ich mich über meinen unmöglichen Gesangslehrer beschweren will, hört kein Wesen zu. Mit Blick auf Janis stieß sie hervor: „Anscheinend muss man hier seine Forderungen singen. Nun denn: Ich steherbe, ich steherbe, ich bin schon lange tooooooot, doch wenn kein neuer Leheheherer kommt, dann seheheheheheheh ich bahald auch roooooot.“ „Bravo, bravo, bravo!“, Gottlieb sank auf die Knie.
„Verehrteste, ich fürchte fast, Sie knödeln ein wenig. Sie haben Recht, Sie brauchen einen besseren Lehrer“, bestätigte Herbert. „Also bekommen wir jetzt Gras, Peace, Shit oder Crack?“, fragte Jimi. „Ich will nach Hause, zumindest nach Hause telefonieren“, verlangte John.
„Merken Sie eigentlich nicht, dass Sie alle auf meinen Partituren stehen...?“, fragte Gottlieb erbittert. Aus dem Lautsprecher ertönte. „15 an 1 bitte, 15 an 1.“ Peter erhob sich. „Ich muss zum Chef. Bitte fühlen Sie sich hier alle ganz wie zu Hause.“
*
Seit 172 Tagen war Luzie im All. Davon hatte sie ganze sechs Tage auf zwei kleinen Sillius Planeten verbracht, deren SOS- Rufe den Herrn der Finsternis alarmiert hatten. Das Ganze war ein mickeriger Fehlalarm. Statt von der Gegenseite angegriffen zu werden, hatte es zwischen Sillius 25 und Sillius alpha 4 diplomatische Verwicklungen gegeben, die im übrigen schon beinahe bereinigt waren, als Luzies Raumschiff an der dortigen Basis andockte.
Ihre Drohung mit einem höllischen Donnerwetter hatte mehr als ausgereicht, die ohnehin schon kleinlauten Sillianer gänzlich zum Verstummen zu bringen. Luzie erledigte also noch etwas Routine-Papierkram in den Sillius-Koordinaten, bevor sie sich auf den Heimflug machte.
Seit 82 Tagen war sie nun auf dem Weg zurück. Nichts war passiert. Keine Begegnungen mit anderen Raumschiffen, keine Meteoriten, keine elektromagnetischen Aufladungen, kurz es war eine der langweiligsten Reisen durch die Galaxis, die Luzie je hinter sich gebracht hatte.
Seit zehn Tagen hatte sie sich der vierten Dimension wieder soweit genähert, dass sie wenigstens Zugriff auf das Internet hatte und daher nicht gänzlich unvorbereitet landen würde. Momentan klickte sie sich durch die Seite Cerberus.höl und surfte von dort in die Rubrik ‚Letzte Neuigkeiten‘.
Sie stellte fest, dass sich nichts Wesentliches in ihrer Abwesenheit getan hatte. Was waren auch schon 172 Tage für die Ewigkeit der Hölle. Es hatte ein paar prominente Neuzugänge gegeben. Der Chef der Banco di Spirito Santo schmorte jetzt ebenso im Fegefeuer wie ein bayerischer christlich sozialer Spitzenpolitiker. Der letzte darüber selbst überaus verblüffte Newcomer war ein Oberbürgermeister gewesen, der eigentlich davon ausgegangen war, er könne länger, regieren oder was auch immer. Dumm gelaufen.
Verloren hatte man dagegen zur allgemeinen Überraschung einen Multimillionär, der sich sein Leben lang damit vergnügt hatte, feindliche Übernahmen konkurrierender Firmen zu planen. Er hatte sein ganzes Geld einer Stiftung vermacht, die die himmlischen Chöre unterstützen sollte. Daraufhin hatte Gott ihn und sein Vermögen natürlich für sich reklamiert. Luzie surfte neugierig zum Link im ‚all dimension web‘ adw.choere.him, wo lang und breit die Erfolgsstory des Wohltäters ausgebreitet wurde und über die Ankunft des neuen Chefchorleiters Gottlieb Schiffer – nomen est omen – berichtet wurde. Gelangweilt versuchte Luzie, sich in einen Chat einzuklinken, aber sie fand nicht die richtigen Themen und Partner.
Von rechts rollte mit quietschenden Rädern GU72 herbei. „Hier ist dein Essen.“ Luzie lächelte den Roboter an und drückte auf eine Sprechtaste. „Hier Luzie, bitte kommen.“ Auf einem Bildschirm in Augenhöhe erschien ein zweiter Roboter und fragte blechern. „Was kann ich für dich tun Chefin?“ – „Hallo C3H5, ich schicke dir GU72 in den Maschinenraum. Bitte versuche, seine Räder zu ölen. Wenn ich dieses Gequietsche noch lange hören muss, werde ich hysterisch.“ - „Musst du nicht“, erklärte C3H5. „Info auch an GU72. Wir nähern uns dem Wiedereintritt in die vierte Dimension.“ GU72 verbeugte sich. „Verstanden C3H5. Ich werde das Notwendige veranlassen.“ Mit quietschenden Reifen bewegte er sich in Richtung Bordküche.
Luzie seufzte halb erleichtert, halb ängstlich und wandte sich ihrem Essen zu. Endlich würde sie wieder aus dieser engen Büchse herauskommen, aber natürlich würde es wie immer diese Panik beim Wiedereintritt geben. Luzie litt massiv unter Höhenangst. Im All selbst gab es für sie keine Höhen, keine Tiefen. Sie glitt lautlos durch die Unendlichkeit und konnte nicht fallen, weil es kein Oben und kein Unten gab. Beim Wiedereintritt aber stürzte man ganz deutlich von oben auf die vierte Dimension zu. GU72 kam quietschend mit einem Tablett, auf dem eine Tasse Kaffee stand. „Trink das. Ich gehe jetzt zu C3H5 und lasse mich ölen. Ich will dir nicht auf die Nerven gehen.“ Luzie lächelte. „Danke GU. Auch für den Kaffee.“ GU72 rollte quietschend davon.
Luzie trank die vertraute Kaffee-Cognac-Mischung, die ihr GU72 stets vor den Landungen verabreichte. Wie es dem Roboter gelang, trotz des strikten Verbotes Alkohol an Bord zu schmuggeln, wollte Luzie lieber nicht wissen. C3H5 erschien auf dem Bildschirm: „Der Wiedereintritt beginnt in Null-sieben Minuten. Bitte schnall dich an. Wir müssen mit einem leichten Schwefelsturm rechnen. Du brauchst dich aber nicht zu beunruhigen. Ich habe alles voll im Griff. Und GU quietscht auch nicht mehr.“ Luzie lehnte sich angespannt zurück. „Ich danke euch beiden für den angenehmen Flug.“
*
In einem Vorzimmer der vierten Dimension trafen sich am nächsten Tag die ausführenden Organe der beiden Bosse, die sich nach getaner Planungsarbeit erschöpft in ihre Gemächer zurückgezogen hatten. Peter wirkte auf den ersten Blick wie ein sympathischer Trottel, fand Luzie. Da sie sowieso felsenfest überzeugt war, das Böse sei einfach stärker und es sei nur eine Frage der Zeit, wann es sich endlich durchsetzen würde, kroch ein Siegerlächeln auf ihre Lippen, wo es einfror. Dieser Typ war ohne Zweifel harmlos. Ein einfacher Job wartete auf sie. Hoffentlich würde er nicht so langweilig werden wie der letzte.
Peter lächelte Luzie freundlich an. Was er sah, gefiel ihm ausnehmend gut. Ein Wesen aus der Hölle, das aussah wie ein Engel. Lange blonde Haare umrahmten ein täuschend liebenswürdiges Gesicht. Die ausgezeichnete Figur steckte in freundlichem schwarzen Leder. Glücklicherweise würde ihn dieser Auftrag von den hysterischen Künstlern in seinem Büro fernhalten. Ob man dort immer noch auf ihn wartete oder sich vielleicht schon gegenseitig zerfleischt hatte? Egal. Hauptsache weg.
„Hi Luzie“, sagte Peter und versuchte, den Kloß wegzuräuspern, der seiner Spucke, seit Luzie den Raum betreten hatte, den Weg nach unten versperrte. „Hallo Peter. Lass uns gleich anfangen. Mein Boss ist ungeduldig." Luzie mochte wie ein Engel aussehen, aber sobald sie sprach, wurde man daran erinnert, dass sie aus der Hölle kam, die, wie man auch in himmlischen Gefilden wusste, durchrationalisiert und durchorganisiert mit einem Minimum an hochqualifizierten Teufel/innen den optimalen Schwefel-Nutzen-Faktor erreichte, um den armen Seelen das heißest mögliche Fegefeuer zu bieten.
Im Himmel dagegen ging es planloser zu. Gott war ohnehin der Ansicht, das vom Teufel immer ehrgeizig angestrebte Gleichgewicht der Kräfte ginge weit über dessen Macht hinaus. Schließlich war er unbestritten der Schöpfer des Universums. Dass bei einem Schöpfungsakt als Abfallprodukt das Böse schlechthin entstanden war, war schlichtes Pech. Manchmal spielte er mit dem Gedanken, seine ganze Kraft daran zu setzen, den Teufel durch einen erneuten schöpferischen Kraftakt wieder vollständig zu löschen. ‚Nulltes Leben, keine Bonuspunkte mehr. New Game? Cancelled!‘ Zwei Gedanken hielten ihn davon ab. Was würde, wenn es nicht gelänge, aus der Allmachttheorie und mit wem würde er, wenn es denn gelänge, mittwochs Monopoly spielen? Nein, alles sollte lieber bleiben wie es war. Aber der Himmel sollte auch keine effiziente Hölle werden.
Luzie und Peter setzten sich an den Tisch und verglichen ihre Unterlagen. Die Spielregeln, die sie erhalten hatten, waren identisch. Gott hatte Peter ausdrücklich um diesen Vergleich gebeten. Er misstraute sehr zu Recht dem angeblichen Fairplay des Teufels. „Vor ein paar Minuten sind also die beiden Inseln aus dem Meer aufgetaucht, Bonholm und Maledivien.“ Peter kramte in seinen Unterlagen. „Mein Chef hat Maledivien ausgestattet. Deiner hat die Sünder ausgewählt, die dort momentan noch friedlich schlafen. Wenn sie wach werden, werden sie denken, sie hätten ihr ganzes Leben auf dieser Insel verbracht. Sie werden, wenn alles geklappt hat, die Orte und die anderen Personen kennen. Wenn wir hier fertig sind, werde ich mich nach Maledivien aufmachen und versuchen, aus den Sündern reumütige Schäfchen zu basteln, die friedfertig und fröhlich in den Schoß von Mutter Kirche zurückkehren.“
„Amen“, sagte Luzie. „Mein Boss hat aus Bonholm einen wundervollen Ort gemacht, der viel von seinem Charme verlieren dürfte bei der langweiligen Bevölkerung. Aber ich werde sie schon aufmischen. Einmal in der Woche sollen wir uns treffen, hat man mir gesagt, immer abwechselnd auf einer der beiden Inseln. Heute in einer Woche komme ich nach Maledivien.“
„Wie weit liegen die Inseln auseinander?“ Peter hasste das Aktenstudium. Deshalb war es ihm noch nicht gelungen, sich vollständig durch die Unterlagen zu wühlen. Luzie hatte das, effizient wie immer, natürlich geschafft. „O himmlisches Unvermögen, was hast du getan, seitdem du deinen Auftrag bekommen hast? Die Inseln sind nicht fest verankert. Sie schwimmen momentan durch den Atlantik, so auf halber Höhe zwischen Europa und Nordamerika. Sie sind immer genau so weit voneinander entfernt, dass sie gerade hinter dem Horizont der anderen liegen. Es gibt eine unsichtbare Achse, die den gleichen Abstand garantiert. Ich empfehle dir doch, deine Unterlagen bei Gelegenheit einmal durchzublättern. Sonst wird es zu einfach für mich und der Job ist zu schnell getan.“
*
Die Audienz war beendet. „In Ordnung, Chef. Ich werde mein Bestes geben. Kannst du mir vielleicht noch etwas geweihtes Wasser mitgeben. Bei den Künstlern habe ich es oft gut gebrauchen können, zum Beispiel bei Ohnmachten von hysterischen Sopranistinnen." Gott antwortete weitsichtig: „Mein Sohn, ich werde einen Kasten Bier für dich weihen. Meine Intuition sagt mir, dass dir und den Malediviern damit mehr geholfen ist. Außerdem schmeckt es einfach besser.“
Die Maledivier:
Viola Sommerweiß - kulturlastige, leicht angewelkte, aber nach Maiglöckchen duftende Society-Dame und Gastgeberin.
Alfred Sommerweiß - Zahnarzt mit einer leicht sadistischen Ader, Hobbybastler, egal ob es um Bühnen oder Destillierapparate geht.
David Meckernich - der nette Neffe von Nebenan, opportunistischer Hausgenosse der Sommerweiß.
Agnes Schluck - Tennis spielende Hundezüchterin, Intimfeindin von Viola und auf der Jagd nach deren Pastetenrezept.
Werner Schluck - Banker, der gelegentlich mit dubiosen Aktenkoffern unterwegs ist, sein Name ist sein Programm.
Nick Schluck - verkauft Peter ein Punk-Open-Air-Fest als kirchentagsähnliche Veranstaltung, kommt bei Lisa 1 nicht so richtig zum Zuge.
Grete Gutbrod - Herausgeberin der Neuen Maledivischen Zeitung, Freundin und Tennispartnerin von Agnes, immer auf der Suche nach einer guten Pointe, egal, ob die einen Freund zwischen die Augen trifft.
Hanna Koslowski - Putzhilfe und Doppelagentin bei Viola und Agnes, berühmt für ihre große Handtasche, in der so manche Tupperdose verschwindet.
Hänschen Koslowski - Gemüsehändler ohne grünen Daumen, aber mit Taschenspielerqualitäten, Experte für Maische.
Diana Koslowski - 14-Jährige mit viel Mut zum Bein und einem Stoffmalset, mit dem sie die offiziellen Tour-T-Shirts der Roten Ampeln herstellt.
Dennis Koslowski - Jugendlicher Möchtegern-Dealer mit einer aufmerksamen Mutter, der sich zum Bonholm-Liebhaber mausert. Unumstrittener Sieger beim Pastetenessen.
Inge Strull - ebenso mutige wie erfolglose Köchin in der Gaststätte ‚Zur durstigen Kehle‘ („Was war das, als es noch lebte?“).
Adi Strull - Miniaturdiktator und Gastwirt, Hersteller von Methanol.
Sebastian Strull - der Einzige, dem es bei Inge schmeckt
Annabell Better - erträgt ihre Schüler nur im Suff, solange bis ein Bier namens ‚Made in Heaven‘ zu einer inneren Wandlung führt.
Bert Better - erteilt seinen segensreichen Unterricht zum Thema Better (The more the Better) und nennt dies Erdkunde und Mathematik.
Lisa 1 Better - hoffnungslos in den Verkehrten verliebt, entdeckt, wie nett ihre Mutter sein kann, ist ohne Illusionen über ihren Vater.
Lolo Kussmaul - Altrockerin in schwarzem Leder, Fan der Heavy-Wood Gruppe Woodica, und sonst ist ihr alles egal.
Cafri Kussmaul - ist wichtig, weil er das richtige Smartphone hat. Wenn er nicht gerade seine Kontoauszüge liest, schreibt er für Grete Artikel für die NMZ oder Sonette an ihre Augenwimpern.
Ina-Maria Kussmaul - leidet darunter, dass ihre Mutter voll uncool und megapeinlich ist.
Winfried Klapperbüx - Erfinder einer Schnellklonmaschine, die so ihre Macken hat.
Dr. Dietmar Düster - Chef des Inselrates, verbucht gewisse Spenden als ‚Sonstige Einnahmen‘.
Die Gäste:
Die Roten Ampeln - Punkband in der Identitätskrise. Anker, Hallo, Trölli, Schnuddel und Micha brechen zusammen mit ihrem Manager Achim Kante auf zur Tour de Gig nach Maledivien.
Stefan Meier-Stummel - junger wilder Dichter kurz vor dem ersten Literaturpreis, Autor des U-losen Bchs.
Andreas Übermut - Ersatzdichter und Ampelfan.
Das Grauen - wabernder Schutzengel und Unruhestifter in einer Person, auf der Suche nach der Antwort auf die quälende Frage: „Warum bin ich und warum bin ich ausgerechnet hier?“
*
Die Sonne ging auf über Maledivien und enthüllte die Insel, die idyllisch wie aus einem Reiseprospekt dem neuen Tag entgegenlachte. Gott hatte seine Vorstellungen von einem Paradies auf der Erde verwirklicht. Verwinkelte Gassen zogen sich hügelaufwärts. Die Häuschen wirkten wie aus dem Legoland. Efeu und wilder Wein rankten an frisch gestrichenen Häuserfassaden. Es gab praktisch keine Fensterbank ohne einen liebevoll bepflanzten Blumenkasten. Vögel zwitscherten, Bienen summten, Brunnen plätscherten...
Hanna Koslowski war die erste Maledivianerin, die auf den Beinen war. Sie machte das Frühstück für ihren Mann Hänschen und sich selbst. Sie stand noch unter dem Eindruck eines intensiven Traums, in dem sie mit ihrer Familie in einer kleinen Wohnung irgendwo in einer hässlichen Industriestadt gelebt hatte. Sie warf einen Blick aus dem Fenster des zwar nicht allzu großen, aber hübschen Häuschens und beglückwünschte sich, dass dieser Traum nichts mit der Realität zu tun hatte. Sie weckte ihren Mann mit einer Tasse Kaffee. Die Kinder ließ sie wohlweislich schlafen. Schließlich waren Ferien und die beiden standen nie vor dem späten Vormittag auf.
„Morgen Hänschen. Hast du gut geschlafen?“ Hänschen räkelte sich faul im Bett und gähnte. „Ich weiß nicht. Ich hatte einen üblen Traum. Ich habe in einer riesigen Halle wie ein Tier gearbeitet. Es war heiß und laut wie in der Hölle.“ Hanna lachte. Das Bild eines Hänschens, der wie ein Tier arbeitete, überstieg ihre Vorstellungskraft. „Dann ruh dich von dieser Schinderei heute Morgen bei ein bisschen Gartenarbeit aus. Die Kirschen müssen dringend geerntet werden. Sonst haben die Vögel alle gefressen.“
Hänschen war der Obst- und Gemüsehändler des Ortes. Etwas außerhalb hatte er einen großen Garten gepachtet, in dem er seine Erzeugnisse wachsen ließ. Dabei fehlte ihm allerdings völlig der grüne Daumen. In Hänschens Garten gab es nur mickerige Gurken, die Tomaten wollten einfach nicht rot werden und die Äpfel schrumpelten vor sich hin.
Schnecken labten sich an den Salatköpfen, Vögel futterten die Kirschen auf und die Würmer wohnten in den Birnen. Eine Zeit lang versuchte Hänschen, seinen Produkten das Öko-Mäntelchen umzuhängen. Vergeblich. Hänschens Überlebenssystem bestand seitdem darin, die eigenen Produkte unter gleichartigen von Bauern gekauften zu verstecken und mit Taschenspielerqualität den Kunden nicht die appetitlich glänzenden Äpfel, sondern die schrumpeligen Eigengewächse in die Tüte zu packen. Schon oft hatte es Ärger deswegen gegeben und hätte Hänschen nicht als einziger Obst- und Gemüsehändler der Insel eine gewisse Monopolstellung innegehabt, wäre er ganz sicher langsam aber unaufhaltbar dem Ruin entgegengetaumelt.
In der Kneipe des Ortes - jawohl, die gab es, Gott war schließlich kein Unmensch, außerdem schätzte er selbst gelegentlich ein Gläschen Messwein - verteidigte sich Hänschen gegenüber seinen Zechkumpanen: „Was kann ich dafür, dass du die Tomaten erst heute gekauft hast. Gestern waren sie noch völlig in Ordnung.“
Weil aber die Insulaner teilweise selbst in ihren Gärten ein bisschen Obst und Gemüse zogen und andere lieber Skorbut in Kauf nahmen als heftige Magenschmerzen nach dem zweifelhaften Genuss von faulen Kartoffeln und matschigen Pfirsichen, warf der Laden nicht genug ab, um die Familie zu ernähren.
Hanna hatte daraufhin die Initiative ergriffen: „Ich muss einen Job finden. Den Kindern stehen die Apfelpfannkuchen, das Kompott und die rote Grütze bis obenhin. Und ich hätte auch gern mal wieder einen ordentlichen Braten.“ – „Kommt überhaupt nicht in Frage. Schlag dir das aus dem Kopf. Meine Mutter ist nie arbeiten gegangen, meine Schwester auch nicht. Überhaupt keine Frau meiner Familie.“
„Wir leben in der Gegenwart und nicht im Mittelalter. Auf dieser Insel gibt es viele Frauen, die arbeiten. Und ich gehöre ab sofort dazu!“ Hänschen gab sich geschlagen, allerdings nicht ohne demonstrative heftige Gegenwehr. Hanna wurde daraufhin zur Haupternährerin der Familie. Sie nahm zwei Putzstellen an, die eine morgens, die andere nachmittags bei zwei der einflussreichsten Familien des Ortes.
Viola Sommerweiß und Agnes Schluck hassten sich wie die Pest und kämpften seit Jahren um die Position der First Lady der Insel. Hanna verdiente ihr Geld nicht nur dafür, dass sie den Aufnehmer schwang. In erster Linie wurde sie als Doppelagentin gut bezahlt. Viola erfuhr so, was bei Agnes lief und Agnes ließ sich haarklein jedes Detail der berühmt-berüchtigten Gartenpartys, die Viola gab, erzählen. Während Viola nicht im Traum auf die Idee gekommen wäre, Hanna könne so illoyal sein, Agnes Bericht zu erstatten, war Agnes realistischer und streute gezielt die Informationen, von denen sie wollte, dass sie Viola erreichten.
„Frau Sommerweiß, wissen Sie schon, dass bei Schlucks im Garten ein Pool angelegt wird? Riesengroß! Mit Rutsche und Whirlpool.“ Oder: „Frau Schluck hat das Grand Schlamm Turnier der Insel gewonnen oder so ähnlich.“ Viola Sommerweiss schnaubte verächtlich, wenn sie Agnes Schlucks Triumphe serviert bekam. Typisch, diese Frau hatte nur Hunde und Tennis im Kopf.
Hanna machte sich auf den Weg zum Sommerweiß‘schen Anwesen. Es lag auf einem der kleineren Hügel der Insel mit einem wunderschönen Blick aufs Meer. Am Abend vorher hatte Viola eines ihrer Feste gegeben. Hanna, die am Vorabend dabei geholfen hatte, die Gäste zu bedienen, während Viola sie unbarmherzig mit ihrem Klavierspiel belästigt hatte, wusste, dass sie heute besonders viel damit zu tun haben würde, das Post-Party-Chaos zu beseitigen. Sie schloss die Haustür auf, weil, wie sie richtig vermutete, die Dame des Hauses noch ruhte und von ihrem gestrigen gesellschaftlichen Erfolg träumte.
Hanna wusste nicht, warum alle so wild auf Violas Einladungen waren. Gut, die Verpflegung war perfekt, aber wer wollte schon Viola auf dem Flügel hämmern hören, während er auf einem Kaviar-Canapè herumkaute. Sie schaute sich um. Da standen noch die Reste des Buffets. Sie öffnete die mitgebrachten Tupperdosen, suchte sich die leckersten Häppchen aus, die die Nacht und die Wärme am besten überstanden hatten und packte alles in ihre besonders große Handtasche der Kategorie ‚Tag-nach-der-Party‘.
Den Rest räumte sie in den Kühlschrank. Danach sammelte sie Gläser, Flaschen und Geschirr ein. Obwohl sie das Haus gut kannte, wunderte sie sich immer wieder über die merkwürdige Einrichtung. Mitten im Salon stand ein antiker Zahnarztstuhl. Alfred Sommerweiß war zwar Dentist, aber warum er sein Wohnzimmer mit solch einem Folterinstrument schmückte, ging über ihren Verstand. Auf der Sitzfläche des Stuhls musste stets aufgeschlagen mit den Rücken nach oben ein Buch liegen, ‚Die Abenteuer des Marquis de Sade‘.
Ein weiteres Buch hatte seinen festen Platz auf Violas Lesetischchen. Seit vielen Jahren lag es dort - ungelesen - aber dekorativ mit einem deutlich sichtbaren Lesezeichen versehen. Sein Titel: ‚Ulysses‘. Der Autor war ein gewisser James Joyce. Hanna wusste dies. Oft genug hatte sie James abgestaubt.
Viola betonte ihr kulturelles Interesse damit, sich mit Marmorbüsten berühmter Persönlichkeiten zu umgeben. Zur gestrigen Party war sie auf die subtile Idee gekommen, die Büsten alle irgendwie zu verunstalten. Hanna war unsicher, ob sie Beethoven Alfreds Ohrschützer lassen sollte oder nicht. Mozart hatte man ein paar Billardkugeln wie eine klobige Kette um den Hals geklebt. Schillers Kopf zierte ein von einem Obstmesser durchbohrter Apfel und Cäsars Haupt wurde gekrönt durch einen Kranz von Küchenkräutern, Petersilie, Basilikum und Estragon. Cäsar duftete aromatisch nach Pesto Genovese. Lorbeerblätter trug er nicht.
Die Tür öffnete sich und Viola erschien in einem weißen seidenen Morgenmantel, nach Maiglöckchen duftend und den schon leicht angewelkten Gänseblümchenkranz vom Vorabend erneut ins Haar genestelt. Auch Viola war schon leicht angewelkt, hatte sich aber ihre mädchenhafte Figur erhalten.
„Guten Morgen Hanna. Decken Sie bitte für meinen Mann und mich den Frühstückstisch auf der Terrasse. Ob David vor dem Mittagessen, das er dann Frühstück nennt, herunterkommt, weiß ich nicht. Decken Sie erst einmal nur für uns zwei. Vom Buffet müssten noch Lachspastetchen übrig geblieben sein. Die hätte ich gern.“
Hanna überschlug den Inhalt ihrer Tupperdosen. „Die Lachspastetchen haben die Wärme nicht ausgehalten. Sie, äh, haben so gestunken, dass ich sie wegwerfen musste.“ Viola war erstaunt. „So warm ist es doch gar nicht. Na egal, aber ich bin sicher, dass noch genug Walnusskäse übriggeblieben ist. Bringen sie uns den.“ Hanna wand sich. “Völlig weggelaufen war der heute Morgen. Aber es ist auf jeden Fall noch Rote-Beete-Salat da. Den bringe ich Ihnen. Und Bismarck-Heringe sind im Kühlschrank.“
„Wunderbar, ganz wunderbar, nach so einer Party, ein saurer Hering“, warf der Gastgeber ein, der gerade den Raum betreten hatte. „Räumt einem den Kopf wieder auf.“ Viola warf ihrem Mann einen Wenn-du-gestern-nicht-so-viel-getrunken-hättest-brauchtest-du-jetzt-keinen-Hering-Blick zu und ging auf die Terrasse hinaus. Sie blickte in einen typisch englischen Garten mit gepflegtem Rasen und Blumenbeeten, die vor Üppigkeit überquollen. Auf dem Rasen waren dekorativ Krockettore aufgebaut und die Schläger lagen wie nach einem zufällig unterbrochenen Spiel hingeworfen. „Hanna, Sie können dann auch bitte das Krocketspiel wieder abbauen, wenn Sie mit der Küche fertig sind.“
Hanna war eine Frau mit viel Fingerspitzengefühl. ‚Hier ist alles nur wie eine Pappkulisse im Theater‘, dachte sie. ‚Und auch die Leute, die hierher kommen, verhalten sich nicht so, wie man sie normalerweise kennt. Sie wissen genau, was man hier von ihnen erwartet, dass sie wie Schauspieler in einem Stück auftreten, in dem Frau Sommerweiß die Regie führt.‘
Viola und Alfred setzten sich an den Frühstückstisch. „Zauberhaft siehst du heute wieder aus, mein Schatz“, meinte Alfred, der immer noch sehr verliebt in Viola war und sich seit dreißig Jahren fragte, warum diese wunderbare Frau es mit ihm so lange ausgehalten hatte. Viola fragte sich das manchmal auch. Heute Morgen im grellen Sonnenschein nach einer langen Nacht waren allerdings Zweifel an Alfreds Verstand oder aber seiner Sehkraft angebracht. „Wunderbares Fest“, lobte er weiter. Viola freute sich. „Mittlerweile haben unsere Partys einen solch guten Ruf, dass sich alle um eine Einladung reißen. Überleg mal: Gutes Essen, erlesene Weine und anspruchsvolle Unterhaltung. Wie kann man einen Abend angenehmer verbringen?“
Hier irrte sich Viola allerdings grenzenlos. Die Leute kamen nicht, um ihr Klavierspiel zu genießen, den Werken unbekannter Dichter zu lauschen und Scharaden oder Pantomimen aufzuführen. Sie kamen, weil man eine Einladung bei den Sommerweiß einfach nicht ablehnte. Genauso gut hätte man sich weigern können, Luft zu holen. Wenn man sich amüsieren wollte, ging man auf Feste, die von Violas bester Feindin Agnes Schluck arrangiert wurden.
Die Schlucks waren übrigens die einzige auf Maledivien bedeutende Familie, die nicht eingeladen war, wobei man wegen Malediviens geringer Größe und Einwohnerzahl das Wort ‚bedeutend‘ relativieren musste. Originalton Agnes: „Keine zehn Pferde würden mich zu so einer Party bringen. Wenn ich Kultur haben will, lese ich ein Buch!“
„Hast du gestern Abend gesehen, wie Cafri Kussmaul wieder hinter Grete Gutbrod hergehechelt ist?“, wollte Viola wissen. „Die arme Lolo wusste überhaupt nicht mehr, wohin sie schauen sollte. Natürlich war ihr klar, dass sie mein Fest nicht durch eine Szene durcheinander bringen durfte. Aber hoffentlich macht sie Cafri heute Morgen die Hölle heiß.“ Alfred wunderte sich. „Und dabei sieht Lolo doch wirklich gut aus.“
„Wenn man den Typ ‚Altrockerin in schwarzem Leder‘ mag. Ich fand ihr Erscheinungsbild auf einer Gartenparty ganz schön unpassend.“ Alfred schmeichelte: „Es kann nicht jeder deinen guten Geschmack haben. Zauberhaft, dein Kleid gestern. Hast du es dir vom ‚Alles-Versand‘ schicken lassen?“ – „Das ist mein Geheimnis, mein Schatz. Noch ein bisschen Rote-Beete-Salat?“ – „Danke, noch ein Hering wäre mir jetzt lieber.“
*
Peter saß an seinem neuen Schreibtisch und arbeitete sich durch die Unterlagen, mit denen man ihn auf die Reise geschickt hatte. Er freute sich auf seine Aufgabe, denn auch für ihn war das ewige himmlische Einerlei an die Grenzen des Erträglichen gestoßen. Vor ihm lag ein Stapel Karteikarten, für jede Familie von Maledivien eine. Auf jeder Karteikarte befand sich ein Foto der jeweiligen Menschen, Name, Adresse und eine kurze Biographie.
Nach zwei Stunden hatte er genug von seiner Lektüre und beschloss, die Insel zu erkunden. Er prägte sich den einfachen Straßenplan ein - verlaufen konnte man sich hier kaum - und lief los. Diese Insel war fast zu schön, um echt zu sein, dachte Peter und lächelte, als ihm bewusst wurde, dass sie diesen Anspruch eigentlich auch nicht erheben konnte. Er bog um die Ecke und atmete genießerisch die duftende warme Sommerluft ein. Was er sah, gefiel ihm. Sein Chef hatte ganze Arbeit geleistet. Weiße oder in Pastellfarben gehaltene Häuser, idyllische Hinterhöfe und überall Blumen, Bäume, blühende Sträucher. Er sah nach rechts und stutzte. Auf einer frisch gestrichenen Häuserwand prangte ein noch frischeres Graffiti. Peter las ‚Basti ist ein blöder Spasti‘ und ärgerte sich über diesen nicht nur ästhetischen Missgriff. Probehalber rieb er mit einem Taschentuch an der frischen Farbe, aber sie war schon trocken.
Ein Kaninchen hoppelte über den Weg und zerplatzte. Es blieb nichts von ihm übrig. Es hatte sich einfach in Luft aufgelöst. Peter runzelte die Stirn. Wo war der Zauberer, der ihn mit diesem Trick beeindrucken wollte?
Peter ging weiter und begegnete einer Frau, die ihm von den Fotos vage bekannt vorkam, die er aber noch keinem Namen zuordnen konnte. „Hallo, Herr Pfarrer“, begrüßte ihn die für ihn leider noch zu Unbekannte. „Hallo, meine Liebe“, antwortete Peter vorsichtshalber überschwänglich, schüttelte ihr herzlich die Hand und nahm sich vor, noch am selben Abend die Karteikarten wie Vokabeln auswendig zu lernen.
Grete Gutbrod wunderte sich. Ihre letzte Begegnung mit Peter war nicht gerade erfreulich verlaufen. Grete war Journalistin und gab das lokale Blättchen heraus, in dem über jeden Schluckauf auf der Insel berichtet wurde und in dem Hänschen seine Anzeigen aufgab (Ökotomaten, Klasse I, herrlich aromatisch, nur 1,79 € pro Kilogramm - Die Maledivier wussten, dass dies Dichtung und nicht Wahrheit war). In einem Kommentar der letzten Woche hatte Grete die Kirche auf Maledivien - sprich also Peter - scharf angegriffen, zu wenig für die Jugendlichen auf der Insel zu tun und Peter hatte sich bei ihrem letzten Treffen heftig gegen diese Unterstellung gewehrt. Das aber wusste Peter nicht, weil dieses Treffen ja nur in Gretes Gedächtnis existierte. Jedem Inselbewohner war ein solches Gedächtnis für vergangene Ereignisse bei der Schöpfung der Inseln sozusagen eingepflanzt worden.
„Halten Sie mir gerade Ihre andere Wange hin oder wie soll ich Ihre Liebenswürdigkeit deuten?“, fragte Grete aggressiv. „Tja, ich muss weiter, bis demnächst“. Mit falschem Lächeln verabschiedete sich Peter. ‚Du bist absolut unprofessionell‘, schalt er sich selbst. Du hast alle Informationen über die Insel, über das, was den Menschen, die hier leben, ins Gedächtnis einprogrammiert wurde. Wenn du den ganzen Kram nicht liest, kannst du den Job hier nicht erledigen.
Peter ging weiter und hoffte, niemandem mehr zu begegnen, bis er besser vorbereitet wäre. Er war nun am Strand angekommen und blickte zum Horizont. Genau in dieser Richtung, westlich von ihm, lag Bonholm. Wie es Luzie wohl angetroffen hatte? Ob sie schon erste Erfolge dabei erzielt hatte, die harmlosen Leutchen auf Bonholm in miese Monster zu verwandeln? Peter seufzte. Schade, dass Luzie und er für konkurrierende Unternehmen arbeiteten. Er rief sich zur Ordnung: ‚Nicht schwächeln!‘
Peter zuckte zusammen. Ein jäher Schmerz durchzog seine rechte Schulter. Er war von einem Stein getroffen worden. Peter blickte nach oben, sah aber nur eine menschenleere Klippe und hörte die Möwen kreischen.
*
„Treffer“, verkündete Sebastian Strull und zog sich wieder etwas zurück. Nick spähte über den Klippenrand. „Was soll das, du Blödmann, habe ich dir gesagt, du sollst mit Steinen auf Leute werfen? Habe ich es dir gesagt?“ - „Nein, hast du nicht, Nick, aber es war so cool. Da steht dieser blöde Pfarrer und starrt voll dämlich aufs Meer und sieht aus wie eine Zielscheibe. Nick Schluck stand auf, näherte sich drohend Basti und sagte in Bruce-Willis-Manier: „Hör zu Basti und merk es dir gut: Wenn ich dir sage, ‚Schmeiß einen Stein auf den Pfarrer‘, dann schmeißt du einen Stein auf den Pfarrer und sonst nicht. Du weißt doch Bastiboy“, Nick wurde etwas freundlicher, „du bist unser Vollstrecker und nicht unser Denker.“
„Okie Dokie, Nick“, Basti lenkte ein. Er holte ein Paket Dromedar ohne Filter aus der Tasche und bot Nick und dem dritten Jungen eine an. „Gib her, Basti, ich hab noch was Besseres.“ Dennis Koslowski holte ein kleines Päckchen und einen Papierstreifen aus der Tasche, krümelte eine von Bastis Dromedar auf sein Papier, fügte aus seinem eigenen Päckchen einige Krümel hinzu und drehte daraus eine tütenförmige Zigarette. Mit dem spitzen Ende klopfte er auf den Boden und zündete die Spitze kurz an, ließ das Feuer wieder verlöschen und steckte das breite Ende in Brand. Er nahm einen Zug und reichte den Joint mit der Bemerkung „Eigenanbau im Garten meines Alten“ an Nick weiter. Nick stöhnte. Die Qualität von Dennis Eigenanbau stand der der Tomaten seines Vaters in nichts nach. Ihm würde also wieder schlecht werden von diesem Zeug. Aber er würde jetzt das Gesicht verlieren, wenn er nicht mit den anderen den Joint rauchte.
Basti strahlte. Er war der Gastwirtssohn und verfügte wegen der schon sprichwörtlich miserablen Kochkünste seiner Mutter über einen robusteren Magen. Er liebte diese Joints noch mehr als ein paar heimliche Glas Bier, wenn seine Eltern gerade nicht hinsahen. Die Wirkung war zwar ähnlich, aber beim Trinken war er allein und hier gehörte er dazu. Das war für ihn sehr wichtig, das Dazugehören.
Sie hörten Schritte. Irgendjemand kam den Klippenweg herauf. „Shit“, zischte Dennis und warf den gerade erst begonnenen Joint über die Klippe. „Hurra“, dachte Nick, der noch einmal davongekommen war. Um die Kurve bog das letzte Mitglied der Vierergang, David Meckernich. „Verdammt, du bist es nur“, jaulte Dennis. Wegen dir haben wir einen schönen Joint die Klippe hinuntergeworfen.“ David lachte: „Dumm gelaufen. Wer glaubt ihr, kommt schon um diese Zeit an diesen Ort?“ Nick erwiderte mit Blick auf Basti: „Basti hat eben versucht, den gottverdammten Pfarrer zu steinigen. Ich war eigentlich sicher, dass er es wäre, um nachzusehen, wer ihn umbringen wollte. Außerdem bist du spät dran. Wir hatten uns für elf Uhr verabredet.“
„Es ging nicht früher“, sagte David leise gähnend. „Ich bin erst mitten in der Nacht ins Bett gekommen. Meine Tante hat gestern wieder eine ihrer bescheuerten Partys gegeben und ihr kennt sie ja.“ Er imitierte Violas etwas affektierten Tonfall und sagte mit hoher Stimme: „Mein lieber David, du weißt ja, nichts läge mir ferner, als Dankbarkeit von dir zu erwarten, dafür dass wir dich aufgenommen haben und du nun ein so viel besseres Leben führen kannst, als bei deinem, äh, unglücklichen Vater, aber du kannst mir einfach keinen Korb geben. Was sollen denn die Leute denken, wenn mein eigener Neffe es vorzieht, nicht bei meinem Fest zu erscheinen?“
Nick, der die Animositäten zwischen Davids Tante und seiner Mutter nur zu gut kannte, sagte zu seinem Freund: „Weißt du, manchmal denke ich, du würdest dich bei deinem Vater wirklich wohler fühlen als bei diesen Leuten. Ich würde es da nicht aushalten, glaube ich.“
David zuckte die Achseln und sagte: „Es geht schon. Man muss nur lernen, die Schnauze zu halten und gelegentlich solch einen Abend durchstehen.“ Er beabsichtigte nicht, seinen Freunden von der Situation bei seinen Eltern zu erzählen. Seine Mutter, Violas Schwester, hatte längst den Kampf gegen den Alltag aufgegeben und sich in eine irreale Welt geflüchtet. Davids Vater soff wie ein Loch. Ob er angefangen hatte zu trinken, weil seine Frau verrückt wurde oder umgekehrt, wusste David nicht. Es war ihm eigentlich auch egal. David, mittlerweile von Beruf Neffe und Opportunist, war sich sicher, bei den Sommerweiß auf die Butterseite des Lebens gefallen zu sein.
„Meine Mutter hat gestern bei dem Fest geholfen“, warf Dennis ein. „Mal sehen, was sie nachher darüber erzählt.“- „Ich möchte wirklich mal wissen, wieso die halbe Insel wild darauf ist, auf Violas blöde Feste eingeladen zu werden und die andere Hälfte zumindest genau darüber Bescheid wissen will, was sie verpasst hat?“ David verstand es einfach nicht.
„Irgendwas stimmt da mit deiner Rechnung nicht. Wir kommen auf mindestens 101 Prozent. Mich interessiert nämlich weder, was da gelaufen ist noch will ich hin.“ – „Du bist echt der einzig Vernünftige, Nick“, sagte David zu seinem Freund. „Lasst uns jetzt bitte meine Tante und ihr blödes Fest vergessen. Es gibt glücklicherweise noch andere Themen in diesem Leben.“
„Wollen wir noch einen Joint rauchen? Ich habe eine Menge Cannabispflanzen hinter dem Gartenschuppen stehen“, bot Dennis an. Nick schüttelte den Kopf. Verkauf dein Zeug lieber an die Skins. Vielleicht macht sie das friedlich.“ Drei Skinheads, angeführt von Glatze Nummer 1 namens Mackie Trugschirm, machten momentan die Insel unsicher. „Habt ihr gesehen, dass sie jetzt auch mit Graffitis anfangen. Sie haben auf eine Mauer ‚Basti ist ein blöder Spasti‘ gesprayt. Ich staune, dass es Mackie gelungen ist, den ganzen langen Spruch ohne orthographische Fehler hinzukriegen. Er ist doch sonst nicht so gut in Deutsch.“
„Hör bloß mit Deutsch auf“, verlangte Basti, der sich momentan seiner Ferien erfreute. Er hatte die letzten Schuljahre nur mit großem Glück und Dennis Hilfe geschafft, der neben ihm saß und eine große, leserliche Handschrift hatte. In diesem Schuljahr drohte nun aber das Aus.
Dennis blickte auf die Uhr und beschloss aufzubrechen. Das Mittagessen winkte und mit ihm heute die von ihm heiß geliebten Blätterteig-Käse-Lachs-Pastetchen, von denen seine Mutter immer schon vor Beginn des Buffets ein paar abzweigte und in den hinteren Regionen des großen Sommerweiß‘schen Kühlschranks versteckte, weil sie die Leidenschaft ihres Sohnes für diese Delikatesse kannte und teilte.
„Ey, was machen wir denn jetzt?“, wollte Basti wissen. Diese Rumhängerei hier ist voll uncool. Irgendwas muss hier jetzt mal abgehen.“ - „Ja und das bin ich“ , sagte Dennis in Gedanken an die Pasteten, „ich gehe jetzt ab nach Hause. Tschö.“
*
Peter wunderte sich. Wen konnte er in den wenigen Stunden seiner Anwesenheit auf der Insel schon so verärgert haben, dass er mit einem Stein nach ihm warf? Dann wurde ihm die Systematik der Inseln wieder bewusst. Falsch, für die Leute hier, die glaubten, sie wohnten schon immer auf Maledivien, lebte auch er schon immer hier und nur seine Unterlagen konnten ihm Aufschluss darüber geben, mit wem er welchen Ärger hatte. Peter seufzte. Er kam einfach nicht um das Studium der Akten herum. Er wandte sich um, um nach Hause zu gehen, als schon wieder etwas die Klippe herunterflog. Instinktiv duckte Peter sich und schützte sein Gesicht. Doch diesmal verfehlte ihn das Flugobjekt knapp. Peter bückte sich. Er sah eine merkwürdig geformte Zigarette, die noch brannte. Peter schnupperte einen süßlichen Geruch. Seine Erfahrungen mit Rauschgiften waren rein theoretisch. Aber er ahnte, um was es sich handelte und er wusste, hier war ein Ansatzpunkt für sein ‚Unsere-Seelen-sollen-reiner-werden‘-Projekt.
Das Grauen landete nach seinem langen Flug endlich auf der Insel und plumpste wie ein dicker Teppich auf Peter. Peter spürte plötzlich Fusseln im Mund.
*
Dennis schloss die Haustür auf und betrat erwartungsvoll die Küche. Seine Mutter war gerade von der Arbeit nach Hause gekommen und packte die Tupperdosen aus der riesigen Handtasche. Sie deckte den Tisch und Dennis stibitzte sofort eine Lachspastete. Auf beiden Backen kauend fragte er: „Fo find Papa und Diana?“ Seine Mutter antwortete: „Diana ist auf ihrem Zimmer und näht an irgendeinem Rock herum. Papa müsste jeden Moment kommen. Hilf mir mal beim Tischdecken.“ Dennis hatte mittlerweile heruntergeschluckt: „Immer ich. Das ist Frauenarbeit.“ Er schraubte die Lautstärke höher und rief: „Hey Diana, komm und hilf uns.“ Diana betrat die Küche. Hanna kreischte erschreckt. „Zieh sofort diesen Rock aus!“ Diana machte Anstalten, diesem Befehl sofort nachzukommen. „Nicht in der Küche. Geh auf dein Zimmer. Hoffentlich sieht dein Vater dich nicht so.“ Diana sah ihre Mutter an. „Mach doch nicht so ein Theater Mama. Das ziehen heute alle so an. Nur ich muss wieder diese schrecklichen Dinger bis fast zum Knie tragen. Außerdem, abgeschnitten ist abgeschnitten und du willst doch bestimmt nicht, dass ich den guten Rock jetzt in die Tonne werfe.“ Hanna hasste die Situation. „Den guten was? Dieses Teil kannst du doch nicht mehr als Rock bezeichnen. Das ist ein breiter Gürtel.“ Dennis war inzwischen bei der vierten Lachspastete angekommen.
Die Tür öffnete sich. Hänschen betrat gut gelaunt das Zimmer. Gerade hatte er dem Pfarrer mehrere Tüten verdorbenes Obst und Gemüse angedreht. Eben noch guter Dinge starrte er seine Tochter an. „Warum hast du unten rum nichts an?“, wollte er wissen.
„Bist du blind? Ich habe einen Rock an.“ Hänschen zweifelte in der Tat an seiner Sehkraft. „Wo?“ fragte er. Diana deutete auf die wenigen Quadratzentimeter Stoff zwischen Taille und Hüfte. „O Herr, schenke mir Geduld. Meine Tochter ist verrückt geworden. Das geht entschieden zu weit. Geh in dein Zimmer und zieh dir etwas anderes an. Und dann komm zum Essen.“ Dennis schob mittlerweile das siebte Pastetchen in den Mund. Jüngere Schwestern waren zwar normalerweise nervig. Aber dieser Streit kam ihm gelegen.
Diana ging wütend ab. Sie wusste, es würde noch eine Menge Diskussionen über diesen Rock und andere modische Extravaganzen wie etwa ein Dutzend Ringe durch das linke Ohr geben. Irgendwie wollte sie nicht hinter ihren Freundinnen Lisa 1 und Ina-Maria zurückstehen. Das war aus zwei Gründen schwierig. Erstens war sie mit vierzehn ein knappes Jahr jünger als die beiden und zweitens konnten sie und ihre Eltern finanziell nicht mit den Familien der anderen Mädchen mithalten. Diana meinte nun, um diese Defizite aufzuwiegen, müsste sie besonders flippig herumlaufen. Diese Einstellung traf munter polternd auf Hänschens konservatives Frauenbild.
Dennis konnte nicht mehr. Zu seinem Bedauern war nach dem neunten Pastetchen Schluss, obwohl noch drei übrig waren. Großzügig beschloss er, jedem übrigen Mitglied der Familie eins übrigzulassen. Hänschen wandte sich an seine Frau: „Hanna, nun sag du doch auch mal was. Findest du es etwa richtig, wenn deine Tochter so rumläuft?“ Hanna fand das natürlich nicht richtig und sagte das auch ihrem Ehemann. Sie hasste Streitereien innerhalb der Familie und war deshalb bereits auf der Suche nach einem Kompromiss. „Ich werde ihr als Ausgleich einen neuen Rock nähen. Über die Länge werden wir Verhandlungen führen, solange, bis wir einen Kompromiss gefunden haben. Dafür könntest du jetzt aber erlauben, dass sie sich ein Loch ins Ohr stechen lässt. Alle ihre Freundinnen tragen Ohrringe. Wo zum Teufel sind die Pasteten? Ich habe mindestens zehn Stück mitgebracht. Dennis! Dennis, wo bist du?“
*
Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das vollständige Buch finden Sie hier: