Teil I Advent
Kapitel 1
15. Dezember
Zusammen mit einem unangenehm feuchten Schwall kalter Luft wurde Rasmus Holm in das Restaurant Brandenburg geweht, das zwar über einen exzellenten Koch, nicht aber über einen Windfang verfügte. Einige in der Nähe der Tür platzierte Gäste fröstelten. Ansonsten nahm niemand den Neuankömmling zur Kenntnis. Rasmus hatte zwar keinen frenetischen Applaus für seinen Auftritt erwartet, aber wenigstens ein klein wenig Beachtung, wenn schon nicht durch den Eigentümer des Sternerestaurants, seinen alten Freund Heinrich Brandenburg persönlich, dann doch immerhin durch den Chef des Service oder wenigstens durch irgendeinen beliebigen Kellner.
Aber nichts dergleichen geschah. Rasmus schloss die Tür und sperrte damit immerhin den kalten Luftzug aus. Danach blieb ihm nichts anderes übrig, als sich höchstpersönlich aus seinem Wintermantel zu schälen und ihn an den letzten noch freien Haken zu hängen, unmittelbar neben dem wenig vertrauenserweckenden Warnhinweis ›Für Garderobe keine Haftung‹. Rasmus stopfte seine Handschuhe in die Manteltaschen und schaute sich erneut hoffnungsvoll um. Noch immer war niemand vom Personal zu sehen.
Mit einer gewissen missgünstigen Befriedigung stellte er fest, dass sich das Brandenburg wohl nicht mehr allzu lange seines Michelin-Sterns erfreuen dürfte, hatte es sich doch offenbar seit Rasmus' letztem Besuch von einem Gourmettempel in eine Servicewüste verwandelt. Sollte er sich am Ende sogar noch seinen mühsam reservierten Platz alleine suchen müssen?
An dieser Herausforderung würde er zwar sicher nicht scheitern. Schließlich gab es nur noch einen freien Tisch, akkurat gedeckt für zwei Personen und ideal am Fenster gelegen, versehen mit einem hübschen Porzellantäfelchen mit der Aufschrift ›Reserviert‹. Aber das ging nun doch ein bisschen zu weit.
Obwohl also Rasmus den Tisch sofort entdeckt hatte, steuerte er nicht darauf zu. Schließlich war er ganz und gar nicht der Typ, der sich irgendwo still hinsetzte und geduldig darauf wartete, dass ihm jemand die Speisekarte überreichte.
Strategisch günstig positionierte er sich also mitten auf der Hauptverkehrsachse zwischen Küchentür und Theke und hoffte darauf, dass ihn hier in nicht allzu ferner Zukunft jemand finden, einsammeln und unter Entschuldigungen für die Verzögerung an seinen Platz geleiten würde.
Dieses Ereignis ließ nicht lange auf sich warten. Bereits Sekunden später schwang die Küchentür auf und erlaubte Rasmus so den Blick auf die herbeieilende Gestalt Pietro Lombardis, weder identisch noch verwandt oder verschwägert mit dem gleichnamigen DSDS-Gewinner. Pietro trug eine leicht angestaubte Flasche Wein, die für einen anderen Gast bestimmt zu sein schien.
Die etwas gestresst wirkende Mimik des Oberkellners verwandelte sich augenblicklich in den Ausdruck reiner Freude, als er das Verkehrshindernis identifizierte.
»Euer Ehren!«, begrüßte er Rasmus Holm strahlend. »Hat sich etwa niemand um Sie gekümmert? Ich bringe Sie sofort zu Ihrem Tisch.«
Milde lächelnd winkte Rasmus ab. »Lieber Pietro, danke sehr, aber erstens bin ich pensioniert und zweitens war ich doch nie einer der Perückenträger am Old Bailey, sondern nur ein kleines Licht, ein unbedeutender vorsitzender Richter am Oberlandesgericht.«
»Unbedeutend? Sie doch nicht, Dottore«, strahlte Pietro. Rasmus gab ihm stillschweigend recht, auch wenn die Anrede Dottore genauso falsch war wie Euer Ehren oder Eminenz.
Pietro sortierte seine Prioritäten und entschied sich blitzschnell dafür, zunächst einmal Rasmus an seinen Platz zu geleiten und erst danach die mit edlem Staub überzogene Flasche dem wartenden Gast zu präsentieren. Im Hinblick auf das zu erwartende Trinkgeld war dies sicherlich ein kluger Schachzug. Pietro rückte den Stuhl für Rasmus zurecht und fragte: »Ihre Begleitung kommt etwas später, Dottore?«
»Meine Begleitung kommt überhaupt nicht«, knurrte Rasmus. »Sie hat mich schmählich im Stich gelassen.«
»Wer würde denn so etwas tun, Dottore? Die Dame kann, gestatten Sie mir, nicht alle Tassen im Schrank haben.«
Rasmus nickte. Das sah er ganz genauso. »Es ist nur meine Tochter, Pietro. Angeblich ist ihr ein beruflicher Termin dazwischengekommen. Aber Sie haben völlig recht, so etwas geht natürlich überhaupt nicht. Es ist mühsam genug, in diesem Laden einen Tisch zu reservieren. Und dann eine Viertelstunde vor der Verabredung abzusagen und so kurzfristig dem Einladenden keine Möglichkeit mehr zu bieten, den freien Platz noch durch eine andere Einladung zu füllen, ist völlig indiskutabel. Das vorzügliche Essen hier schmeckt einem natürlich noch besser, wenn man ein nettes Gegenüber hat.«
»Ich sage gleich dem Chef Bescheid, dass Sie hier sind, Dottore. Wenn er einen ruhigen Moment in der Küche hat, freut er sich bestimmt, Ihnen ein bisschen Gesellschaft zu leisten. Ich bringe nur schnell den Wein weg und dann hole ich Ihnen sofort die Karte. Pronto. Kann ich vielleicht schon einen Aperitif bringen?«
Rasmus entschied sich für einen Campari auf Eis. Pietro eilte davon, um so schnell wie möglich die Flasche loszuwerden, damit er sich danach umso intensiver um seinen Lieblingsgast kümmern konnte.
Ein paar Minuten später studierte Rasmus die kleine, aber feine Karte, nach einem von Pietro äußerst großzügig bemessenen Campari längst versöhnt mit dem holprigen Beginn seines Restaurantbesuchs. Er hatte sich bereits für die Tapas vom Niederrhein als Vorspeise entschieden und schwankte beim Hauptgericht noch zwischen einer Entenbrust und Kalbsbäckchen, als er seine gute alte Freundin Helene Brandenburg auf sich zusteuern sah. Er verschob die Entscheidung zwischen Federvieh und jungem Rind, stand auf, und nahm Helene mit einem breiten Lächeln auf dem Gesicht in den Arm.
»Ich weiß, das hört sich jetzt nach einer billigen Anmache an, aber du siehst wirklich jedes Mal jünger aus, wenn ich dich sehe, Lenchen. Und ich stelle gerade fest, ich sehe dich viel zu selten. Wenn wir uns häufiger über den Weg liefen, hättest du demnächst Schwierigkeiten, ins Kino eingelassen zu werden, wenn sie dort Filme für Menschen über 18 zeigen.«
Die immer noch gutaussehende Endfünfzigerin Helene Brandenburg wusste, wie sie dieses Kompliment zu bewerten hatte. Sie kannte Rasmus Holm seit ungefähr fünfunddreißig Jahren. Sie war eine Schulfreundin von Ulrike Holm gewesen, seiner - tja, was war Ulrike nun? - Frau, oder sollte man besser von Exfrau reden, auch wenn die beiden nach wie vor verheiratet waren?
Ulrike Holm lebte seit über fünfzehn Jahren in einem kleinen Ort an der mecklenburgischen Küste, wo sie ein Atelier unterhielt, in dem sie ihre selbstgemalten Aquarelle sowie handgetöpferten Unikate an Touristen verscherbelte, und zwar immerhin so erfolgreich, dass sie finanziell einigermaßen unabhängig von Rasmus war.
In der Lebensphase bevor Ulrike Rasmus und Düsseldorf verlassen hatte, waren die Familien Holm und Brandenburg eng befreundet gewesen und hatten viel Zeit miteinander verbracht, unter anderem schöne gemeinsame Urlaube, bei denen sich auch die Kinder Luzie Holm sowie Lennart, Lotte und die Zwillinge Kai und Arne Brandenburg angefreundet hatten.
»Du bist und bleibst ein alter Charmeur, Rasmus. Als Frau weiß man zwar, dass man dich nie ernst nehmen darf, aber das ist mir ganz egal. Ich mag dich. Und ich werde dich immer mögen, ganz egal, was Ulrike von dir hält.«
»Möchtest du dich nicht zu mir setzen? Hast du schon gegessen? Aber auch wenn du keinen Hunger hast, trinkst du vielleicht ein Glas Wein mit mir?«
»Sehr gerne«, sagte Helene Brandenburg und nahm gegenüber von Rasmus Platz. »Pietro kam eben in die Küche gestürmt, um uns zu sagen, dass du hier bist, und auch noch ganz allein.«
»Luzie hat mich versetzt«, grummelte Rasmus, immer noch ein bisschen beleidigt. »Aber wenn ich gewusst hätte, dass ausgerechnet du für sie einspringen würdest, hätte ich sie nicht mal eingeladen, sondern einfach nur einen Tisch für zwei Personen bestellt.«
Pietro trat an den Tisch und sah die Frau seines Chefs erwartungsvoll an. Sie lächelte dem Chef de Rang freundlich zu und bat um ein Glas Chablis, das sie in Rekordgeschwindigkeit erhielt. Helene hob das Glas und fragte: »Auf was sollen wir trinken, Rasmus, auf die alten Zeiten oder auf die, die noch kommen?«
»In unserem Fall natürlich auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.«
»Ich habe eben kurz mit Heinrich gesprochen. Er ist sehr froh, dass du ausgerechnet heute hier bist. Wir haben ein Problem, über das er nachher mit dir reden möchte. Ich soll dich möglichst festnageln, bis er Zeit hat.«
Rasmus runzelte die Stirn und sah Helene überrascht an. »Nanu, was ist denn los?«
Helene Brandenburg seufzte. »Mal wieder Ärger mit Kai. Wie schon so oft. Aber diesmal scheint es ernster zu sein. Man hat ihn angezeigt wegen Betrugs. Das ist offenbar eine ziemlich komplizierte Sache. Am besten, Heinrich erzählt dir das ganz genau. Ich habe die Geschichte ehrlich gesagt nicht so ganz verstanden, oder besser ausgedrückt, mir fehlt der juristische Background. Ich soll dir schon mal von ihm sagen, dass er zu dir kommt, sobald er es einrichten kann. Heute ist der Laden ziemlich voll, aber die meisten Gäste haben ihr Essen schon. Falls du genug Zeit hast, auf ihn zu warten, würde uns das sehr helfen.«
»Kein Problem. Ich habe mir den ganzen Abend für Luzie freigehalten. Heinrich soll erst in Ruhe sämtliche Gäste versorgen. Dann trinken wir einen Cognac zusammen und er kann mir von eurem Problem berichten.«
Helene Brandenburg griff über den Tisch nach Rasmus' Hand und drückte sie. »Hab vielen Dank, Rasmus. Auf dich kann man sich wirklich immer verlassen. Erzähl doch mal, wie geht es Luzie in ihrem neuen Job und hast du noch was von Ulrike gehört?«
»Ulrike will uns merkwürdigerweise in diesem Jahr zu Weihnachten mit ihrer Anwesenheit beehren. Sie hat gestern angerufen. Ich bin ziemlich verblüfft darüber, weil sie das seit zehn Jahren nicht mehr getan hat. Das ist eigentlich auch der Grund dafür, warum ich mich hier mit Luzie treffen wollte. Ich wollte mich mit ihr abstimmen, wie wir uns unserem seltenen Gast gegenüber zu Weihnachten verhalten sollen. Ich sehe eigentlich nicht ein, irgendetwas an unseren mittlerweile wunderbar eingespielten Traditionen zu ändern. Das wollte ich Luzie heute sagen, damit sie hinterher nicht wieder behaupten kann, ich hätte alles über ihren Kopf hinweg geplant.«
»Das ist ja wirklich merkwürdig«, gab Helene zu. »Ulrike kommt doch kaum noch nach Düsseldorf, und jetzt ausgerechnet zu Weihnachten. Denkst du, sie plant irgendetwas, oder hat sie vielleicht einfach nur das Bedürfnis, das Fest zusammen mit ihren Lieben zu verbringen?«
»Ich habe keine Ahnung. Und ehrlich gesagt sind mir Ulrikes Gefühle mittlerweile auch ziemlich gleichgültig. Nicht ich habe mich vor fünfzehn Jahren einfach mal so abgeseilt, um mich selbst zu verwirklichen, sondern sie hat mich und Luzie im Stich gelassen, und das ausgerechnet in einer Zeit, als ich beruflich viel um die Ohren hatte und Luzie mitten in der Pubertät steckte und einfach nur grässlich war. Mich hat damals niemand gefragt, ob ich mir ihr Genörgel jeden Tag anhören wollte. Nachdem Ulrike fort war, blieb mir allerdings kaum eine andere Wahl.«
Helene Brandenburg hatte durchaus Verständnis für Rasmus' diesbezügliche Verbitterung. Niemand hatte damals auch nur ansatzweise begriffen, was Ulrike Holm dazu bewogen hatte, Mann und Kind zu verlassen und von Düsseldorf an die Ostseeküste zu ziehen. Ein anderer Mann war angeblich nicht im Spiel gewesen. Selbst Helene als Ulrikes beste Freundin war damals nicht in deren Entscheidungsprozess eingebunden worden.
Helene hatte es Ulrike damals sehr übelgenommen, Luzie nicht wenigstens angeboten zu haben, sie in ihr neues Leben zu begleiten. Im Gegensatz zu Rasmus hatte Helene die damalige Luzie nämlich nicht als ewig nörgelnden Teenager in Erinnerung, sondern vielmehr als zutiefst verunsichertes Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenwerden, das jeden Tag erfolglos versuchte, seiner Umgebung und seinen Mitmenschen alles recht zu machen.
Die fünfzehnjährige Luzie hatte Helene damals unendlich leidgetan. Sie hatte versucht, den Kontakt zwischen ihrer Tochter Lotte und Luzie zu fördern. Aber eine enge Freundschaft hatte sich zwischen den beiden mittlerweile erwachsenen Frauen nicht ergeben.
»Wie geht es Luzie denn?«, erneuerte Helene mit echtem Interesse ihre Frage von vorhin.
»Gut, soweit ich weiß«, behauptete deren Vater. »Es ist mir gelungen, sie in einem renommierten Anwaltsbüro unterzubringen, obwohl ihre Examensnoten alles andere als erfreulich waren. Aber sie scheint mit dem Inhaber der Kanzlei recht gut auszukommen.
Vor kurzem hat sie ihren ersten ziemlich aufsehenerregenden Prozess gewonnen. Ich weiß nicht, ob du dich an den Fall Küppersbusch erinnerst? Der zog sich durch die gesamte Presse. Die bekannte Society Lady war vergiftet worden. Luzie hat den Angeklagten verteidigt und mit Glanz und Gloria einen Freispruch für ihn erwirkt. Das hätte ich ihr übrigens kaum zugetraut. Allerdings habe ich auch die ganze Zeit über im Hintergrund gelauert und ihr eine Menge Tipps gegeben. Aber das muss ja niemand wissen.
Das war im vergangenen Monat. Wen sie jetzt gerade verteidigt oder berät, kann ich dir nicht sagen, aber sie macht auf mich im Moment den Eindruck eines Menschen, der seinen Platz im Leben gefunden hat. Was kann man sich als Vater mehr wünschen?«
Helene Brandenburg dachte an ihre vier Kinder und konnte diese Aussage auch mütterlicherseits nur aus vollem Herzen bestätigen.
»Was macht denn der Rest deiner Bagage? Ich meine abgesehen von eurem Sorgenkind Kai?«
Helene zögerte einen Moment, denn Pietro servierte Rasmus gerade die niederrheinischen Tapas. Als der Kellner wieder außer Hörweite war, wünschte sie ihrem alten Freund einen guten Appetit und beantwortete danach seine Frage.
»Lennart und Harriet geht es, glaube ich, ganz gut. Aber so richtig schaut man natürlich als Mutter und Schwiegermutter auch nicht hinter die Fassade, selbst wenn wir alle zusammen in einem Haus wohnen. Zumindest nach außen stellen sie sich als heile Familie dar. Und meine beiden Enkelinnen halten mich zwar auf Trab, sind aber absolut liebenswert. Ich bin froh, dass die beiden so unmittelbar vor meiner Nase aufwachsen.
Lotte und Stefan planen ihren Auszug aus der Burg. Das finde ich sehr, sehr schade, aber natürlich kann ich durchaus verstehen, dass die beiden ihr eigenes Leben führen wollen. Ich sehe ja selbst die Nachteile, die damit verbunden sind, wenn man mit seiner Schwiegermutter unter einem Dach lebt.
Und was meine Zwillinge angeht, so kennst du ja die Problematik schon von früher. Es hat sich nichts daran geändert. Arne ist der Vorzeigezwilling, dem einfach alles glückt, und Kai leidet darunter, dass es bei ihm eben nicht so ist. Es ist natürlich auch gemein, wenn dir als nicht so erfolgreichem Menschen dein genaues Ebenbild gegenübersteht, dem alles gelingt, dem alle Herzen zufliegen und der dir täglich vorführt, wie es bei dir auch hätte laufen können.
Diesmal habe ich leider überhaupt kein gutes Gefühl. Kai hat offenbar eine rote Linie überschritten. Ich fürchte, die Situation eskaliert gerade. Ich habe keine Ahnung, wie wir ihm helfen können. Diesmal brauchen wir ganz dringend deinen Rat.«
Ratschläge erteilte Rasmus gern, häufig und notfalls sogar ungebeten. Das war eine seiner Kernkompetenzen als Mensch, als Jurist und als Lichtgestalt.
Also nickte er bestätigend, weil ihn an einer verbalen Antwort gerade ein größeres Stück Reibekuchen hinderte, das ursprünglich als Bett für eine Scheibe feinster Bio-Blutwurst gedient hatte.
»Hervorragend, der Flönz«, sagte er etwas später undeutlich, worauf Helene den vorbeieilenden Pietro anhielt und ihn bat, aus der Küche noch ein paar Scheibchen Blutwurst zu organisieren.
»Naturalmente!«, sagte Lombardi und machte sich subito auf, um das Gewünschte an den Tisch zu bringen.
»Ich stelle es mir schon etwas schwierig vor, so als Großfamilie unter einem Dach zu leben«, sagte Rasmus, für seine Verhältnisse ungewöhnlich einfühlsam. »Für mich wäre das nichts. Ich bin froh, in meiner Wohnung alleine schalten und walten zu können. Ich muss auch Luzie nicht jeden Tag um mich haben. Dafür ist sie einfach zu schwierig.«
Helene Brandenburg lächelte. Wenn einer in dieser Vater-Tochter-Beziehung schwierig war, dann war es sicherlich nicht Luzie. Aber grundsätzlich hatte Rasmus absolut recht. So ein Zusammenleben von in ihrem Fall insgesamt zwölf Personen in einem Mehrgenerationenhaus wäre auch schon ohne das Sternerestaurant, das die ökonomische Grundlage des Familienclans bildete, nicht ganz einfach gewesen. Die gemeinsame Arbeit einer Reihe von Familienangehörigen bot weiteres Konfliktpotenzial.
In dem von der Familie ›Burg‹ genannten ehemaligen Gehöft waren im Parterre der große Gastraum und die Küche untergebracht sowie die Wohnung von Heinrichs und Helenes Tochter Lotte Brandenburg und ihrem zukünftigen Mann, Stefan Rost, die demnächst frei werden sollte. Der Auszug der beiden war schon weitgehend beschlossene Sache.
In der oberen Etage des großen alten Gebäudes gab es zwei Wohnungen und drei Apartments. Je ein Apartment bewohnten die Zwillinge Arne und Kai Brandenburg, die mit stolzen fünfundzwanzig Jahren immer noch die jüngsten bei den Eltern lebenden Nachkommen waren, sowie Heinrichs Mutter Gertrud, zusammen mit ihrer polnischen Pflegekraft Maja Nowak.
In einer der beiden größeren Wohnungen lebte der älteste Sohn der Brandenburgs, Lennart, zusammen mit seiner Frau Harriet, beide dreißig Jahre alt, und den fünfjährigen Zwillingen Maria und Sophia. In der anderen Wohnung residierten Heinrich und Helene, die Gründer des Sternerestaurants, das ihren Namen trug: Brandenburg.
»Manchmal wünsche ich mich tatsächlich auch auf eine einsame Insel«, bestätigte Helene Rasmus' Gedankengang. »Aber dann finde ich es auch wieder wunderschön, alle meine Lieben um mich zu haben. Demnächst wird es bei uns aber leerer, weil Lotte und Stefan ausziehen wollen. Lotte hat ein Haus in Ratingen gefunden, aber Stefan ist noch nicht ganz überzeugt. Ich glaube, er würde am liebsten für immer in der Burg bleiben. Aber Lotte macht ihm die Hölle heiß. Schon merkwürdig, dass die eigene Tochter ausziehen will, der Schwiegersohn aber nicht.«
»Ich finde es eher merkwürdig, dass alle eure Kinder solche Nesthocker sind. Also, normal ist das nicht, wenn sie mit dreißig noch zu Hause wohnen«, schnaubte Rasmus ungnädig. »Hast du nicht manchmal Angst davor, sie könnten sich gegenseitig an die Gurgel gehen?«
»Eigentlich sind wir alle nicht besonders gewalttätig«, behauptete Helene, von dieser Feststellung zum Zeitpunkt des Gesprächs noch absolut überzeugt.
Mit dieser Aussage bestätigte es sich einmal mehr, dass es für das innere Gleichgewicht eines Wesens eher förderlich ist, nicht in die Zukunft schauen zu können. Das hätte zweifellos vor kurzem auch das Kalb bestätigt, dessen Bäckchen Pietro in diesem Moment Rasmus servierte.
»Mmh, das sieht aber gut aus«, rief der begeisterte Rasmus, bevor er sich mit Messer und Gabel über das Türmchen hermachte, das das Zentrum seines riesigen Tellers bildete, und aus Miniaturmengen von Gurkentatar, krossen Kartoffelchips und den besagten Bäckchen bestand. Um das Türmchen herum befand sich wie bei einer mittelalterlichen Burganlage der Saucengraben, allerdings ein Graben im Hochsommer, der nur aus wenigen flüssigen Flecken bestand.
Die von Heinrich Brandenburg zubereitete, ebenso berühmte wie hochkonzentrierte Jus, eine über die Grenzen der Landeshauptstadt hinweg in Fachkreisen berühmte Sauce, wurde vom Küchenchef nur in homöopathischen Dosen abgegeben. Damit gab sich jedoch Rasmus nicht zufrieden. Er rief Pietro hinterher, er möge ihm doch noch etwas Sauce bringen. Pietro ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, auch wenn außer Rasmus natürlich niemand wagen würde, solch eine kühne Forderung an die Küche zu richten. Der Dottore war schließlich ein Freund des Chefs. Also würde er wohl noch einige Tropfen der kostbaren Flüssigkeit erhalten.
Heinrich selbst war es, der den Nachschlag an den Tisch seines alten Freundes brachte. Großzügig hatte er sich bereitgefunden, weitere zwei cl des kostbaren Bratensaftes zu opfern.
»Hallo, mein Lieber«, sagte er. »Wie immer stellst du unmäßige Forderungen. Aber wenn es denn sein muss, lassen wir deine Kalbsbäckchen eben schwimmen.« Er stellte eine Miniatursauciere vor Rasmus ab.
»Die Bäckchen sind hervorragend«, sagte Rasmus kauend. »Wie bekommst du sie nur so zart hin? Wahrscheinlich Sous-vide gegart bei Niedrigtemperatur.«
Heinrich nickte lächelnd. »Back dein Fleisch bei dreißig Grad, inzwischen wächst dein Kopfsalat. Das ist eine alte Gastronomieregel.«
Helene stand auf, griff nach ihrem Glas und machte ihrem Mann Platz. Auch Rasmus erhob sich und hoffte, dass der Abschied einigermaßen zügig über die Bühne gehen würde, damit seine Bäckchen wenigstens noch lauwarm ihr Ziel erreichten.
»Ich lasse euch jetzt mal allein. Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder, Rasmus. Je nachdem, wie lange Ulrike in Düsseldorf bleibt, könntet ihr doch zwischen den Jahren noch einmal hier vorbeikommen. Ich würde mich freuen. Das wäre ganz wie in alten Zeiten, wir vier und ein paar Flaschen Wein.«
Rasmus blieb skeptisch. »Warten wir mal ab, wie sich das Ganze entwickelt und was Ulrike eigentlich von Luzie und mir will.«
Heinrich Brandenburg setzte sich auf den freigewordenen Platz und forderte Rasmus auf, sich zunächst einmal seinem restlichen Essen zu widmen. Der kippte die Sauce über seine Bäckchen und aß in Windeseile seinen allerdings ja nicht gerade üppig gefüllten Teller leer.
»Der einzige Mangel an deinem Essen sind die Portionsgrößen. Es kann doch nicht so teuer in der Herstellung sein, die doppelte Menge an Beilagen zu servieren.«
»Das würde nur ein paar Cent mehr kosten. Aber ich will ja schließlich nicht, dass meine Gäste allein von einem Hauptgericht satt werden. Meine Kalkulation geht nur auf, wenn man hier mindestens drei, besser noch fünf Gänge isst. Wer für zwanzig Euro satt werden will, geht besser in einen Landgasthof oder in die Systemgastronomie.«
»Ich brauche jedenfalls noch einen Nachtisch. Mir knurrt noch der Magen. Am besten, du stellst mir eine Dessert-Variation zusammen, und von allem bitte die doppelte Portion.«
Heinrich hob diskret die Hand, worauf ein Kellner herbeieilte. Es war nicht Pietro, aber der junge Mann in weißem Hemd, schwarzer Hose und langer, dunkelgrüner Schürze rief nicht etwa »Kollege kommt gleich«, sondern beeilte sich, die Wünsche seines Arbeitgebers entgegenzunehmen, auch wenn die Bestellung eigentlich nicht sein Revier betraf.
»Helene hat mir erzählt, du hättest etwas auf dem Herzen. Wie kann ich dir helfen?«, überbrückte Rasmus die Wartezeit.
Heinrich atmete tief durch und rief den Kellner erneut an den Tisch. »Bring uns mal eine Flasche von dem guten Cognac, Hannes. Und zwei Gläser.«
Rasmus wartete gelassen sowohl auf den Cognac als auch auf das Problem. Zuerst kam der Alkohol. Heinrich brauchte einen großen Schluck, bevor er seine Scham überwand.
»Es ist natürlich mal wieder Kai. Du kennst ihn ja. Diesmal ist er aber endgültig zu weit gegangen. Wir brauchen alle Hilfe, die wir bekommen können, sonst landet er im Gefängnis.« Heinrich goss sich ein weiteres Glas Cognac ein und bot auch seinem Freund die Flasche zum Nachschenken an. Rasmus winkte ab. Dieses Tempo konnte und wollte er nicht mithalten.
»Dann lass uns jetzt mal Tacheles reden, Heinrich. Mit deinen kryptischen Äußerungen kommen wir nicht weiter. Was genau hat er getan? Was wirft man ihm vor? Und wie ist der Stand der Dinge? Helene hat durchblicken lassen, es läge eine Anzeige wegen Betrugs vor. Ermittelt die Staatsanwaltschaft, oder was ist los?«
Heinrich Brandenburg bemühte sich, die komplizierte Geschichte in halbwegs verständliche Worte zu fassen. Das fiel ihm nicht leicht, eben weil sie so kompliziert war und weil es sich um seinen Sohn handelte, der darin nicht gut wegkam.
»Ich erzähle dir jetzt erst einmal Kais Version der Dinge. Kai hat sich eine Domain im Internet gesichert mit dem Titel www.handels-registrierung.com. Unter diesem Namen hat er eine Website erstellt. Auf dieser Seite findet man eine Art Adressbuch oder Register, in das sich gegen eine Gebühr jede Firma aufnehmen lassen kann. Allerdings ist es offenbar völlig schwachsinnig, seine Firmendaten auf diese Seite setzen zu lassen. Niemand sucht oder findet einen dort. Man hat also offenbar keinerlei Vorteile davon, wenn man sich eintragen lässt. Bis zu diesem Punkt scheint alles sinnlos, aber legal zu sein.
Kai hat aber nun - wie er sagt - Angebote an Firmen verschickt, sich auf dieser Website registrieren zu lassen. Die Adressen der Firmen hat er dem Handelsregister entnommen, in dem die Neugründungen ja veröffentlicht werden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm nun vor, diese sogenannten Angebote wirkten auf die Empfänger wie Rechnungen für ihren Handelsregistereintrag und nicht wie ein Angebot für den Eintrag auf einer privaten Website.
Im Rahmen der Untersuchung hat sich wohl außerdem herausgestellt, dass Kai seine Angebote überwiegend an Firmen mit ausländisch klingenden Namen geschickt hat. Man wirft ihm vor, er habe die mangelnden Sprachkenntnisse der entsprechenden Firmengründer ausnutzen wollen.«
Rasmus sah seinen alten Freund bedrückt an und sagte: »Leider ist das kein Einzelfall. Ich kenne diese Masche. So etwas gibt es schon länger. Hast du mal so ein Angebot für mich? Ich würde es mir gerne einmal anschauen. Für das Verfahren könnte nämlich einiges davon abhängen, wie professionell Kai vorgegangen ist.«
»Einen Moment bitte«, bat Heinrich, stand auf und verschwand durch den Ausgang, der nach hinten zu einem kleinen Flur führte, von dem aus man zu vier weiteren Türen kam. Links ging es zu den Toiletten und in die Küche, geradeaus im Sommer in den Biergarten und rechts zu einer Tür mit der Aufschrift ›Privat‹. Dahinter befanden sich die Wohnung von Lotte und Stefan und die Treppe ins erste Obergeschoss, wo auch die Wohnung von Heinrich und Helene lag. Heinrich fand schnell das Blatt Papier, nach dem er suchte, und ging damit zurück in den Gastraum.
»Iss erst mal dein Dessert«, schlug er vor. Auf einem riesigen Teller, der mittlerweile vor Rasmus stand, befanden sich diverse kleine Einheiten, die aus Cremes, Eis, Küchlein und Obst bestanden. »Nach diesem Teller solltest du aber wirklich satt sein. Ich sehe, man hat dir eine dreifache Portion zubereitet.«
Rasmus stopfte sich mit den hochkalorischen Köstlichkeiten voll, während Heinrich die Pause für einen weiteren Cognac nutzte. Das Gespräch fiel ihm nicht leicht. Schließlich gab niemand gern zu, dass der eigene Nachwuchs auf die schiefe Bahn geraten war.
Nachdem sich Rasmus den Mund mit seiner gestärkten, blütenweißen Stoffserviette abgewischt hatte, reichte ihm Heinrich das Blatt Papier aus seiner Wohnung.
Rasmus setzte seine Brille auf und studierte Kais angebliches Angebot. Auf den ersten Blick sah so aus, als handele es sich tatsächlich um eine Rechnung für den Eintrag im Handelsregister. Gedruckt war sie auf Umweltpapier, so wie man es von einer Behörde erwarten würde. Fett gedruckt stand dort das Wort ›Rechnung‹. Dem Empfänger wurden 273,70 Euro berechnet. Das Zahlungsziel betrug zwei Wochen. In einem dafür vorgesehenen Feld konnte man den exakten Text des Eintrags im Handelsregister lesen. Aufgeführt wurden unter anderem Adresse und Zweck des gerade gegründeten Unternehmens.
Und auch auf den zweiten Blick änderte sich die Einschätzung des nicht juristisch geschulten Empfängers dieser Post nicht. Es sah ganz nach einer offiziellen Rechnung für eben diesen Eintrag aus, der ja auch bei allen Adressaten kürzlich stattgefunden hatte. Einzig und allein der Ausweis der Mehrwertsteuer hätte den Empfänger stutzig machen können. Eine Behörde stellt keine Mehrwertsteuer in Rechnung, aber welcher Durchschnittsbürger achtet schon auf so etwas?
Die Kontonummer, auf die man seinen Obolus überweisen sollte, war natürlich angegeben, nicht jedoch der Empfänger mit genauer Adresse. Von einem Angebot eines Eintrags auf eine obskure Internetseite war nirgendwo die Rede.
»Tja, Heinrich, was sagst du selbst? Für mich sieht das nach einem klaren Betrugsversuch aus. Hier wird dem Empfänger suggeriert, er müsse 273,70 Euro für den erfolgten Eintrag ins Handelsregister zahlen. Da hat sich Kai viel Mühe gegeben. Ich wette, darauf sind doch wohl etliche Empfänger der Briefe hereingefallen.«
»Das stimmt. Er gibt zu, einen ordentlichen Reibach damit gemacht zu haben. Also, was rätst du uns? Was kann man tun?«
»Was willst du hören? Soll ich aufrichtig unhöflich oder unaufrichtig höflich sein? So oder so bin ich der Meinung, du solltest ihn diesmal vor die Wand laufen lassen. Meiner Meinung nach wart ihr immer zu geduldig mit ihm. Es wäre besser für ihn gewesen, wenn ihr ihm schon bedeutend früher seine Grenzen aufgezeigt hättet. Mit dieser Sache ist er tatsächlich zu weit gegangen. Bestimmt wird es ihm ganz guttun, eine gewisse Zeit in einer Zelle darüber nachzudenken, ob es selbst für ihn nicht bessere Möglichkeiten gibt, sich sein Geld zu verdienen. Ihr habt ihn einfach zu lange vor den Konsequenzen seiner Handlungen bewahrt. Ich habe dir schon früher gesagt, dass ich das für falsch halte.«
Aus diesem Grund hatte man Freunde. Wenn man sowieso schon am Boden lag, war es extrem hilfreich, wenn noch jemand in Jägermanier den Fuß auf das erlegte Wild, also die eigene Brust, stellte. Heinrich nahm noch einen großen Schluck Cognac, stellte dann aber fest, dass der ihm auch nicht half.
Und irgendwie würde er schließlich noch ins Bett kommen müssen. Es machte sicherlich keinen guten Eindruck, sich als Chef eines Sternerestaurants an den Tischen und Gästen festhalten zu müssen, um noch den Weg in die eigene Wohnung zu schaffen. Energisch griff er nach der auf dem Tisch stehenden Wasserflasche und spülte den Geschmack des Cognacs mit einem großen Schluck Wasser die Kehle hinunter.
Dann sagte er mit durch den Alkohol bereits merklich beeinträchtigter Stimme: »Lieber Raschmusch, ich brauche jetzt niemanden, der mir sagt, was Lenchen und ich im Lauf der Jahre falsch gemacht haben. Stattdessen brauche ich jemanden, der mir einen Ausweg aus der Krise zeigt. Was ist denn mit Lutschie? Meinst du, sie wäre bereit, sich mal mit Kai zu treffen?«
»Natürlich würde sie sich mit Kai treffen. Aber ich halte sie in diesen Fall für zu zaghaft. Ihr braucht einen mit allen Wassern gewaschenen Anwalt, der sich nicht durch alle möglichen Skrupel aufhalten lässt. Lass mich mal überlegen, wer da infrage käme.«
Heinrich schüttelte starrhalsig den Kopf. »Ich will Luzie«, sagte er, um eine klare Aussprache bemüht. »Ich will, dass das in unseren Familien bleibt.«
»Bitte sehr«, entgegnete Rasmus, großzügig über die Zeit seiner Tochter verfügend. »Dann bekommt ihr eben Luzie. Aber damit du mal merkst, dass ich nicht nur auf deinem Sohn herumhacke, sage ich dir offen und ehrlich, was ich von Luzie in dieser Sache halte. Sie ist noch völlig unerfahren im Strafrecht und auch sonst so im täglichen Leben. Und diesen Mangel an Erfahrung kann sie leider noch nicht mal durch sicheres Auftreten kompensieren. Sie ist also vor Gericht ein Wagnis für euch.
Selbst wenn man davon ausgeht, dass ungefähr die Hälfte ihrer Gene von Ulrike stammen und das arme Mädchen aus diesem Grund schon mal ein gewisses Handikap mit sich herumschleppt, habe ich keinen Grund daran zu zweifeln, dass die andere Hälfte von mir stammt. Es ist mir völlig schleierhaft, wie aus einer Tochter von mir solch ein verzagtes Häufchen Elend werden konnte, zumal sie ja nicht nur von meinen Genen profitiert hat, sondern auch von meiner Erziehung. Da mir seit nunmehr fünfzehn Jahren niemand mehr in meine pädagogischen Bemühungen reinredet, hätte Luzie eigentlich brillant ausfallen müssen. Leider hat das aber nicht ganz geklappt.
Eines muss man ihr allerdings lassen: Sie ist ehrlich und gutartig. Im Gegensatz zu deinem Kai hat sie auch als Kind weder den anderen den Pudding weggemopst noch irgendwelchen Insekten die Flügel herausgerupft.«
Heinrich widerstand nach diesen Worten mühsam der Versuchung, sich ein weiteres Glas Cognac hinter die Binde zu gießen. Natürlich hatte Rasmus wie immer recht. So ging es mit Kai nicht weiter. Sicher hatten sie Fehler gemacht, Lenchen und er. Schließlich waren sie Menschen und als solche nun mal nicht fehlerfrei. Selbst Rasmus übrigens nicht. Luzies mangelndes Selbstbewusstsein hatte sicherlich damit zu tun, dass sie immer im Windschatten ihres großartigen Vaters hatte segeln müssen. Umso mehr wollte Heinrich ihr jetzt eine Chance geben, sich in dieser Krise zu profilieren.
»Es ist nicht leicht, die Kinder vernünftig zu erziehen, besonders wenn man noch einen Stressjob am Hals hat«, gab er zu Bedenken.
Das konnte Rasmus vorbehaltlos bestätigen. »Immerhin sind uns ja vier von fünf ganz gut gelungen. Das ist doch keine schlechte Quote«, stellte er versöhnlich fest. »Außerdem weiß ich auch nicht, ob es immer nur an der Erziehung liegt. Im Laufe der Jahre, die ich mit Straftätern verbracht habe, bin ich immer mehr zu der Überzeugung gekommen, dass man manchmal einfach nichts machen kann. Diese Typen werden auch im Gefängnis nicht geläutert. Ich hatte sie immer und immer wieder vor meiner Richterbank sitzen.
Das soll aber natürlich nicht heißen, dass wir nicht noch die Kurve kriegen bei Kai. Natürlich soll er gut verteidigt werden, aber wenn du mich fragst, ist die Chance, dass er freigesprochen wird, sehr gering. Und das ist auch gut so. Dass er wirklich im Knast landet, glaube ich übrigens auch nicht unbedingt. Schließlich ist er nicht vorbestraft. Ich denke mal, das könnte noch gerade so eben auf eine Bewährungsstrafe hinauslaufen. Und wenn wir danach alle am gleichen Strang ziehen, bewährt er sich vielleicht tatsächlich.
Ich schicke dir jetzt mal Luzies Handynummer, damit Kai mit ihr Kontakt aufnehmen kann. Soll ich vielleicht mal mit dem Jungen sprechen? Ich könnte ihm ordentlich ins Gewissen reden und ihm klarmachen, was ihn erwartet, wenn er im Wiederholungsfall vor Gericht landet.«
Heinrich wehrte diese Höchststrafe für seinen Sohn zunächst noch ab. »Lass erst mal die Kinder miteinander reden. Vielleicht könntest du Luzie darum bitten, ihm möglichst schnell einen Termin zu geben. Für uns alle wäre es gut, wenn wir wüssten, was da in naher Zukunft auf ihn und damit in gewisser Weise auch auf uns zukommt. Ich habe zum Beispiel überhaupt keine Vorstellung davon, wie hoch so eine Strafe ausfallen würde. Außerdem befürchte ich, dass er das ergaunerte Geld nicht in einem Betrag zurückzahlen kann. Er lebt wohl bereits seit Monaten von diesen Einkünften. Und ich bin nicht sicher, ob es der Sache dient, wenn ich ihm dafür einen Kredit einräumen würde.«
Heinrich hatte auf Rasmus selten so verzweifelt gewirkt. Der pensionierte Richter beugte sich über den Tisch und tätschelte etwas unbeholfen den Arm seines Freundes.
»Das kriegen wir schon hin, Heini. Wir haben doch bisher immer alles geschafft, was wir uns gemeinsam vorgenommen haben. Ich verspreche dir, ich setze alle Hebel in Bewegung, um euch zu helfen. Als Allererstes rufe ich morgen früh Luzie an und bringe sie schon mal in etwa auf den Stand der Dinge. Vielleicht ist es besser, sie meldet sich bei Kai. Dann können wir wenigstens sicher sein, dass der Termin schnell zustande kommt.«
Heinrich lächelte dankbar. Rasmus war zwar der schwierigste Freund, den er hatte, aber auch einer der zuverlässigsten. »Danke«, sagte er und erhob sich etwas mühsam und leicht schwankend.
»Schickst du mir bitte Pietro mit der Rechnung vorbei?«
»Das geht heute aufs Haus. Die zusätzliche Jus und das Dessert hättest du dir sowieso nicht leisten können.«
Kapitel 2
16. Dezember
Hauptkommissar Otto Tjombe saß zwar in seinem Büro, hatte aber außer der Fertigstellung einiger Kriminalstatistiken nichts Dringendes zu erledigen. Daher nahm er sich die Zeit, den Helfer in beinahe allen Lebenslagen namens Google nach Geschenkideen zu fragen. Er präzisierte seine Suche in ›Geschenke für Frauen‹ und hoffte inständig auf eine Inspiration. In acht Tagen war Weihnachten und man konnte das Näherrücken des Heiligen Abends einfach nicht mehr ignorieren.
Glücklicherweise kümmerte sich seine zwar theoretisch emanzipierte Frau Rita um den ganzen Rest, also den Löwenanteil der Geschenke, den Baum, das Essen, die Dekoration und was sonst noch so anfiel. Nur ihre eigenen Wünsche erfüllte sie dann doch nicht selbst.
Otto staunte. Angeboten wurden ihm eine feuerrote Wolldecke mit Ärmeln, ein personalisierbares LED-Deko-Licht-Einhorn, Badeschlappen mit persönlichem Fotodruck - im Werbebeispiel die Kinder der Trägerin - sowie ein Rotwein-Set mit Gravur.
Otto seufzte. Wenn Rita fror, wärmte er sie ganz gern selbst, aus dem Einhorn-Alter war sie, so nahm er jedenfalls zuversichtlich an, bereits heraus, und dass sie auf Fitzwilliam und Elinor herumtreten wollte, wagte er zu bezweifeln, selbst an erziehungsbedingt schwierigen Tagen. Rotwein hatte Rita noch nie gemocht.
So war er nicht undankbar, durch das Klopfen an die Bürotür in seinen nicht sehr ergiebigen Überlegungen unterbrochen zu werden.
Er bat den Störenfried herein. Die Tür öffnete sich und gab den Blick frei auf eine Enddreißigerin, deren Anblick ihm sofort gute Laune bescherte. Sie war die Reinkarnation einer Mischung aus Pippi Langstrumpf, Pumuckl und dem Sams, dem allerdings die Wunschpunkte zu fehlen schienen. Sie war bestenfalls mittelgroß, hatte eine kräftige, sportliche Figur, knallrote Haare und einen ausgesprochen offenen und freundlichen Gesichtsausdruck.
»Hallo Chef«, sagte sie breit lächelnd und stapfte ohne weitere Einladung unbekümmert auf Ottos Schreibtisch zu. Sie streckte ihre Hand aus. Otto ergriff sie, ein bisschen überwältigt von der lebenssprühenden Erscheinung.
Sie ähnelte zwar nicht den Helden und Heldinnen seiner eigenen Kindheit, die er als Sohn einer wohlhabenden und einflussreichen Herero-Familie in Windhoek verbracht hatte. Die waren nämlich, genau wie er selbst, nicht allzu rothaarig gewesen. Aber durch seine eigenen beiden Kinder war Otto natürlich die Werkstatt von Meister Eder ein Begriff, genau wie die Villa Kunterbunt und Herrn Taschenbiers Wohnung im Haus von Frau Rotkohl. Seine Frau Rita hatte für die entsprechende Lektüre gesorgt. Und Otto hatte seinen Kindern diese Bücher mit wachsender Begeisterung vorgelesen, wieder und wieder.
So konnte er jetzt nicht anders, er lächelte breit zurück, auch wenn er im Moment nicht sicher war, was diese Pipi Pumuckl von ihm wollte. Abwartend wiederholte er das Wort ›Chef‹ mit einem deutlichen Fragezeichen dahinter.
»Sagen Sie bloß, Sie wissen noch nichts von Ihrem Glück«, sagte die junge Frau. »Ich heiße Michelle Blum. Bitte nennen Sie mich niemals Blümchen. Ansonsten bin ich ausgesprochen pflegeleicht. Ich bin Oberkommissarin und fange am 1. Januar hier im KK11 an. Bisher habe ich bei der Kripo Duisburg gearbeitet. Im Moment habe ich noch Urlaub. Ich war heute sowieso in Düsseldorf, weil ich ein paar Weihnachtseinkäufe erledigen wollte, und da habe ich gedacht, ich schaue einfach mal vorbei, und sehe mir die neuen Kollegen an. Ich hoffe das passt gerade.«
»Lieber Gott, ich danke dir, dass du meine Gebete erhört hast«, sagte Otto, weniger an seinen Schöpfer gewandt, als an seine neue Mitarbeiterin. »Wir sind im KK11 total unterbesetzt. Ich bin selbst erst seit einem halben Jahr hier, und seitdem versuche ich, die freien Planstellen zu besetzen, bisher allerdings vergeblich. Also herzlich willkommen, Frau Blum.
Allerdings werde ich mit meiner Kriminalrätin ein Hühnchen rupfen. Sie muss doch von Ihrer Versetzung gewusst haben. Sie hat keinen Ton gesagt. Aber egal. Das ist ein Grund mehr, sich aufs neue Jahr zu freuen. Setzen Sie sich doch bitte und erzählen mir ein bisschen von sich.«
Michelle Blum machte ihren neuen Chef mit den Eckdaten ihres Lebens vertraut. Sie sei achtunddreißig Jahre alt und habe Psychologie studiert. Einen Abschluss habe sie nicht, aus familiären Gründen, die sie nicht näher ausführte. Mittlerweile sei sie eine beruflich glückliche Polizistin, der dieser psychologische Hintergrund bei den Ermittlungen gelegentlich durchaus zustatten kam.
Sie sei ledig und habe keine Kinder. Ihr Freund arbeite bei der Düsseldorfer Stadtverwaltung. Noch wohne sie in Duisburg, aber sie sei auf der Suche nach einer kleinen Wohnung in Düsseldorf. Allerdings habe sie mittlerweile den Eindruck gewonnen, sich die Mieten in der Landeshauptstadt vermutlich erst leisten zu können, wenn sie zur Polizeipräsidentin befördert worden sei.
Ottos etwas indiskrete Frage, ob sie nicht bei ihrem Freund einziehen könne, verneinte sie lachend. Nein, er sei ein solcher Eigenbrötler, mit ihm könne man nur dann zusammenleben, wenn man ein ausgesprochenes Helfersyndrom habe. Das sei bei ihr aber nicht der Fall. Dazu habe sie keine Lust. Also werde sie eine gewisse Zeit lang von Duisburg pendeln, was sie nicht für ein Problem halte, und sich nebenbei um eine Wohnung bemühen.
Otto revanchierte sich sofort für Michelle Blums Offenheit. »Das hört sich für mich ziemlich perfekt an. Dann will ich Ihnen im Gegenzug mal kurz berichten, was Sie hier so in etwa erwartet. Sie haben ja schon herausbekommen, dass ich der Chef des KK11 bin. Mein Name ist Otto Tjombe.« Seinen zweiten Vornamen Justice würde sie noch früh genug herausbekommen. Eine halbe Stunde im Kollegenkreis würde genügen. »Ich bin Hauptkommissar und - um den üblichen Fragen zuvorzukommen - in Namibia geboren.
Bei meinem Studium in Düsseldorf habe ich meine Frau kennengelernt. Sie ist Dozentin für Anglistik an der Heinrich-Heine-Universität. Meine Kinder Fitzwilliam und Elinor sind fünfzehn und dreizehn, also in einem schrecklichen Alter. Sie werden die ganze Bande bestimmt bald kennenlernen. Es ist zwar jetzt nicht gerade die Zeit für Barbecues, aber wir werden schon ein Abendessen auf die Beine stellen, um Sie bei uns willkommen zu heißen.«
»Darauf freue ich mich jetzt schon«, sagte Michelle. »Wie viele Kollegen habe ich im KK11?«
»Außer mir leider im Moment nur drei. Ich sagte ja, wir sind hoffnungslos unterbesetzt. Wenn Sie hier angefangen haben, gibt es immer noch mindestens eine freie Planstelle.
Jetzt zu den Kollegen: Mein Stellvertreter heißt Martin Anger. Es mit mir aus Krefeld hierhergekommen, weil mein Vorgänger, der jetzt die Kripo in Neuss leitet, seinen Stellvertreter auch zu einem Ortswechsel hat überreden können.
Und dann gibt es noch mein A-Team, Anke Hellmich und Axel König. Die beiden sind so in Ihrem Alter. Ich bin der einzig alte Knochen, der auf die fünfzig zugeht, abgesehen von unserer Kriminalrätin natürlich, Frau Steiner. Mit der haben wir richtiges Glück. Das ist eine kompetente Frau, die immer hinter ihrem Team steht. Ihr Vorgänger soll da ein ganz anderes Kaliber gewesen sein.
Haben Sie noch ein bisschen Zeit? Wenn ja, schauen wir mal, wer von den Kollegen gerade da ist.«
»Sehr gerne. Ich habe heute Morgen schon alle meine Weihnachtseinkäufe erledigt.«
»Sie Glückliche«, sagte Otto neidisch und beschloss, den Reigen der Kollegen mit dem immer netten Axel König zu beginnen. Taktisch klug würde er den schwierigen Martin Anger als zweiten vorstellen, in der Hoffnung, dass die freundlichere und patente Anke Hellmich den vermutlich schlechten Eindruck zum Schluss wieder wettmachen würde.
Ottos Strategie ging nicht auf, weil Anke gerade bei Axel im Büro saß und mit ihm irgendwelche Listen durchsah. Nicht zu ändern. Vielleicht hatte er ja Glück, und Martin war entweder nicht an seinem Platz oder in für seine Verhältnisse sonniger Stimmung.
Aber jetzt erst mal die sozialen Pluspunkte seiner Abteilung vorführen: das A-Team Axel und Anke. Ganz wie er gehofft hatte, sprang die gute Laune, die Michelle Blum verbreitete, sofort auf die beiden zukünftigen Kollegen über.
Nach einigen Minuten gegenseitiger Sympathiebekundungen sagte Axel zufrieden: »Super, dass endlich überhaupt jemand kommt, aber noch besser, dass es jemand so Nettes ist wie Sie.«
Auch Anke fragte äußerst zufrieden: »Wann genau fangen Sie an?«
»Am 2. Januar. Momentan habe ich noch Urlaub und langweile mich sogar ein bisschen. Sollte hier also Not am Mann sein, ich bin wie ein Pfadfinder: allzeit bereit.«
Axel wies bedauernd auf seine Listen, die ungefähr zu zwei Dritteln abgehakt waren, und schüttelte den Kopf. »So nett das auch wäre, die Ganoven sind offenbar auch schon in die Weihnachtsferien gestartet. Wir haben sogar Zeit, internen Statistikkram zu erledigen.«
»Macht nichts. Es dauert ja nur noch gut zwei Wochen. Ich freue mich richtig auf den neuen Job.«
»Und wir uns auf die nette Verstärkung«, erwiderte Anke.
Auf dem Flur fasste Otto einen Entschluss. »Ich glaube, der Kollege Anger ist gar nicht im Haus«, sagte er wider besseres Wissen. »Soweit ich weiß, hat er einen Termin. Sie werden ihn ja im Januar kennenlernen.« Und das ist früh genug, fügte er in Gedanken hinzu.
Aber Martin machte ihm, wie schon so oft, einen Strich durch die Rechnung. Just in diesem Moment bog er um die Ecke und rief: »Otto, gut, dass ich dich treffe, du musst unbedingt mal mit dem Idioten reden, der für die Spesenabrechnungen zuständig ist. Dieser Schwachmat hat mir die Kilometerpauschalen nach Mettmann gekürzt. So geht das einfach nicht. Ich habe nicht die geringste Lust, mich wegen solcher Kinkerlitzchen zu streiten. Ich habe schließlich was Besseres zu tun. Soll der doch demnächst in den Shisha-Bars ermitteln, immer in der Gefahr, dass irgendein durchgeknalltes Clan-Mitglied ihn hinterrücks erschießt. Stattdessen sitzt er mit seinem fetten Hintern in der Personalabteilung die Stühle durch.«
Otto holte tief Luft. »Das ist Ihr neuer Kollege, Martin Anger, der sich offenbar gerade geärgert hat, und deshalb nicht bester Laune ist.« Otto verschwieg, dass Michelle gerade Martins Normalzustand erlebte.
»Und das ist Oberkommissarin Michelle Blum, eine neue Kollegin, die uns ab Januar im KK11 unterstützen wird, worüber wir alle sehr glücklich sind.« Otto, der das Wort ›alle‹ sozusagen in Großbuchstaben gesprochen hatte, sah Martin streng an.
Martin erfasste tatsächlich, was Otto von ihm wollte, und zwang sich ein schmallippiges Lächeln ab. »Sehr gut«, sagte er. »Wir brauchen dringend Verstärkung.«
Dieser halbherzige Willkommensgruß reichte Michelle für ein nett gemeintes Angebot. »Wenn Herr König und Frau Hellmich schon das A-Team bilden, können wir beide es ja vielleicht miteinander versuchen. Allerdings muss ich Sie warnen: Teil des B-Teams zu sein, reicht mir nämlich nicht. Wenn schon, dann werden wir A-Plus.«
Das Lächeln auf Martins ungläubigem Gesicht wurde sogar noch um eine Spur freundlicher. »Was halten Sie von M wie mega?« Michelle strahlte zurück. Otto sah von einem zum anderen und konnte sein Glück kaum fassen. Die neue Kollegin schien wirklich eine Antwort auf seine Gebete zu sein. Auf alle Gebete?
»Haben Sie zufällig eine Idee, worüber sich meine Frau zu Weihnachten freuen würde?«
»Na klar«, sagte sie. »Da fällt mir bestimmt etwas ein.«
Otto fragte sich, wieso ihm die Wunschpunkte in ihrem Gesicht vorhin nicht aufgefallen waren.
*
Mit deutlich geringeren Erwartungen an das Essen, den Service und das Ambiente als am Vorabend betrat Rasmus schon wieder ein Restaurant. Im Brauhaus in der Altstadt, wo er sich mit seiner Tochter Luzie verabredet hatte, erwartete selbst er nicht, von einem Köbes hofiert und zu einem besonders nett gelegenen Tisch gebracht zu werden. Sie hatten schließlich genug damit zu tun, mit von Altbiergläsern verschönten Tabletts durch die Gegend zu rennen und ihre dummen Sprüche gleichermaßen an Touristen wie an Einheimische zu verteilen.
Rasmus inspizierte auf der Suche nach seiner Tochter einmal sämtliche Winkel des großen Restaurants, und suchte sich dann ein Plätzchen in einer relativ stillen Ecke, um auf Luzie zu warten, die sich offenbar wieder einmal verspätete. So hatte er bereits ein Glas Alt intus, als sie sich mit einer Entschuldigung ihm gegenüber auf einen der harten Holzstühle fallen ließ.
»Hallo Papa«, sagte sie, während sie sich von Winterjacke, Mütze, Schal und Handschuhen befreite. Nachdem sie alles über einen Stuhl gehängt oder darauf abgelegt hatte, erhob sie sich noch einmal halb und gab ihrem Vater einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Den Köbes, der soeben ein Glas Alt auf den Tisch knallte, bat sie stattdessen um ein Wasser. Überraschenderweise blieb das übliche Genörgel eines Mitgliedes dieser Berufsgruppe aus, wenn sie Wasser wolle, möge sie doch einen der Waschräume aufsuchen. Stattdessen fragte er einigermaßen freundlich: »Wollen Sie etwas essen?«
»Ja, aber ich habe noch nicht in die Karte geschaut.« Der Köbes zog ab, worauf Vater und Tochter eifrig das Angebot studierten, um bei dessen nächstem Auftritt für die Bestellung gewappnet zu sein und nicht schon wieder Grund für eine Beanstandung zu liefern.
Rasmus orderte eine Haxe. Er hatte ordentlichen Hunger. Nach den filigranen Köstlichkeiten des Vorabends konnte er jetzt durchaus etwas Handfesteres gebrauchen. Luzie entschied sich für einen Salat mit Spiegeleiern und einen Metthappen.
»Dass du schon wieder so viel essen kannst, wundert mich«, stellte Luzie fest. Hat Heinrich dich gestern nicht richtig abgefüllt? Es tat mir wirklich leid, das tolle Essen dort zu verpassen. Er kocht einfach großartig.«
»Das stimmt, aber so richtig satt wird man im Brandenburg nicht, finde ich jedenfalls«, murrte Rasmus, großzügig über die drei Gänge sowie das doppelte Dessert hinweggehend.
»Wie geht es denn Heinrich und Helene?«, wollte Luzie wissen.
»Es geht so«, antwortete ihr Vater. »Wie üblich haben sie Ärger mit Kai. Der ändert sich auch nicht mehr. Aber diesmal könnte es ihm wirklich an den Kragen gehen.«
»Musstest du mich unbedingt ins Spiel bringen?«, fragte Luzie wenig enthusiastisch. »Du hast ihm wohl meine Nummer gegeben. Er hat mich vorhin angerufen. Wir haben morgen Vormittag einen Termin. Offenbar hat er ein Verfahren wegen Betrugs an der Backe.«
»Das wollte ich dir gerade erzählen. Wenn überhaupt, dann kommt er diesmal nur haarscharf am Knast vorbei. Da kannst du dich mal profilieren.«
»Worum geht es denn genau?« Luzie war noch nicht einmal ein halbes Jahr als Anwältin für Strafrecht tätig. Bisher war sie recht erfolgreich gewesen, was sie aber nicht daran hinderte, sich selbst immer noch für extrem unerfahren und ahnungslos zu halten. Daher wollte sie jetzt die Chance nutzen, sich schon einmal mit den Problemen vertraut zu machen, die ihr der Termin mit Kai Brandenburg am nächsten Tag vermutlich bescheren würde.
Rasmus winkte ab. »Sollen wir uns damit jetzt wirklich das schöne Essen verderben?«
»Ja bitte, Papa. Sag mir wenigstens in groben Zügen, um was es geht. Dann kann ich mich ein bisschen vorbereiten. Ich möchte gerade vor den Brandenburgs nicht dastehen wie jemand, der noch nie ein Gesetz in der Hand hatte.«
»Also gut, aber nur ganz kurz: Dieses Früchtchen hat sich eine Website gebaut, auf der man seine Adresse eintragen lassen kann. Er verschickt Angebote, sich dort verewigen zu lassen, die verteufelt nach Rechnungen für Handelsregistereinträge aussehen. Damit bedient er überwiegend Ausländer, die naturgemäß mit dem Amtsdeutsch schlechter zurechtkommen. Pro Angebot kassiert er rund zweihundertsiebzig Euro. Das Ganze hat er in den letzten Monaten ungefähr hundertmal erfolgreich durchgezogen. Die Menge seiner Fehlversuche kenne ich nicht, sie dürfte aber noch deutlich darüber liegen. Die Kohle hat er natürlich schon ausgegeben.
Wenn du mich fragst, wirst du nur dann eine Bewährungsstrafe für ihn herausholen, wenn seine Eltern ihm sofort das Geld zur Verfügung stellen, um den Schaden komplett auszugleichen. Außerdem sollte er entsprechende Reue und tätige Mithilfe vor Gericht zeigen.
Immerhin ist er nicht vorbestraft und er hat den Vorteil, dass der Richter ihn nicht so gut kennt wie wir. Bei manchen Menschen ist einfach Hopfen und Malz verloren. Merkwürdigerweise merkst du das gelegentlich schon, wenn sie noch im Kindergartenalter sind. Er war immer schon ein widerlicher, kleiner, bösartiger Schmierlappen und inzwischen ist er ein absolut unsympathischer Versager, der sich auf anderer Leute Kosten ein schönes Leben macht.«
»Dabei hat er so einen netten Zwillingsbruder«, sagte Luzie und nickte dem Köbes dankend zu, der gerade den Salatteller auf den Tisch geschmettert hatte.
»Die ganze restliche Familie ist nett« sagte ihr Vater, während er ein großes Stück der Haxe absäbelte.
»Natürlich hatte ich in unseren gemeinsamen Urlauben immer mehr mit Lotte und Lennart zu tun. Wir sind ja ungefähr gleich alt, während die Zwillinge fünf Jahre jünger sind als ich. Als Kind machen fünf Jahre ganz schön was aus. Wenn wir überhaupt mit den Zwillingen gespielt haben, dann habe ich mir immer Arne ausgesucht und nicht Kai.
Ich werde nie vergessen, wie der in einem Urlaub Fliegen in einem Marmeladenglas gesammelt und die dann vor unseren Augen lebendig seziert hat. Da war er höchstens fünf. Arne hat schrecklich geweint und Lennart hat Kai verprügelt. Lotte und ich waren im Team Lennart und haben ihn angefeuert, dem Tierquäler auch mal ordentlich weh zu tun. Ich habe wirklich überhaupt keine Lust, ihn jetzt zu verteidigen.«
»Min Dotter, ich hoffe, irgendwann wirst auch du endlich lernen, wie ein Profi zu denken. Wenn du dich beruflich nur mit netten Menschen hättest abgeben wollen, dann wärst du besser im Vorschlagskomitee für die Vergabe von Bundesverdienstkreuzen aufgehoben und nicht als Strafverteidigerin. Deine Mandanten sind in der Regel nicht nett. Damit musst du dich endgültig abfinden. Und ob du nun Kai Brandenburg verteidigst oder irgendeinen anderen Verbrecher, sollte dir eigentlich egal sein.«
»In Ordnung Papa, ich drücke mich ja nicht. Als Kinder war die Brandenburg-Holm-Clique so eng beieinander, aber irgendwie ist uns diese Freundschaft beim Erwachsenwerden abhandengekommen. Lotte würde ich tatsächlich gern mal wiedersehen. Vielleicht ist das ja ein angenehmer Nebeneffekt dieses Falles.«
Luzie spießte ein Stück Tomate auf ihre Gabel und tauchte es in ein wenig Eigelb, bevor sie es sich in den Mund steckte. Ihr Vater legte eine kurze Pause ein beim Versuch, der Haxe den Garaus zu machen. »So, und jetzt zum unangenehmen Teil unseres Treffens: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende Weihnachtszeit. Hast du irgendeine Ahnung, was deine Mutter von uns will?«
Luzie schluckte das Stück Tomate hinunter und schüttelte vehement den Kopf. »Nein, wirklich nicht. Ich war mindestens so überrascht wie du, dass sie uns zu Weihnachten besuchen möchte.«
»Ja, aber du telefonierst doch dauernd mit ihr oder etwa nicht?«
»Dauernd würde ich das jetzt nicht gerade nennen. Im Schnitt hören wir vielleicht so alle vierzehn Tage voneinander. Das sind dann aber gar nicht so oft Telefongespräche, sondern wir schicken uns über WhatsApp mal ein Foto oder chatten ein bisschen. Zum letzten Mal habe ich mit ihr Mitte November telefoniert. Da hatte ich gerade meinen großen Prozess gewonnen und sie hat mir gratuliert. Gesehen habe ich sie zuletzt im Sommer.«
»Kannst du sie nicht heute oder morgen mal kurz anrufen? Ich habe ein ganz merkwürdiges Gefühl bei der Sache. Nicht, dass sie am Ende nach Düsseldorf zurückwill.«
»Und selbst wenn, Papa. Ihr lebt nun schon so viele Jahre voneinander getrennt. Sie würde bestimmt nicht dauerhaft wieder bei dir einziehen wollen.«
»Das hätte mir gerade noch gefehlt«, stellte Rasmus entsetzt fest. »Es reicht mir schon, sie für ein paar Tage im Gästezimmer einquartieren zu müssen. Sie sagt ja nicht mal, wie lange sie bleiben möchte. Ich finde es rücksichtslos, sich bei fremden Menschen einfach einzuladen, oder sagen wir mal, bei fast fremden Menschen.«
»Ihr seid immerhin noch verheiratet, Papa.«
»Höchstens noch auf dem Papier«, stellte Rasmus klar.
»Vielleicht ist das ja eine gute Gelegenheit, endlich die Verhältnisse zu klären. Vielleicht will sie ja die Scheidung. Und sollte sie tatsächlich nach Düsseldorf zurückkommen wollen, dann muss sie sich eben eine Wohnung suchen. Aber ich glaube, wir interpretieren viel zu viel hinein in diesen kurzen Weihnachtsbesuch.«
»Ob er kurz wird, werden wir erst noch sehen«, sagte Rasmus pessimistisch. »Jedenfalls bin ich der Meinung, wir ziehen unser Weihnachtsding durch, so wie wir das in den letzten fünfzehn Jahren auch schon getan haben, egal ob Ulrike nun dabei ist oder nicht. Wir feiern wie immer bei mir. Ich bin für den Baum zuständig und du bringst das Essen mit. Was ist dieses Jahr eigentlich dran? Fondue oder Raclette?«
»Soweit ich mich erinnere, hatten wir im letzten Jahr Fondue. Das würde also Raclette bedeuten.«
»Ist gebongt«, bestätigte Rasmus. »Wenn ihr das nicht schmeckt, soll sie woanders essen.«
»Was schenken wir ihr?«
»Was schenkt ihr euch denn sonst so? Von mir braucht sie nichts zu erwarten.«
»Ich besorge eine Kleinigkeit für dich, die du ihr überreichen kannst, Papa. Das ist doch sonst peinlich, besonders, weil sie bestimmt irgendetwas für dich aus dem Hut zaubert.«
»Gott ja, hoffentlich kein Aquarell oder eine selbstgetöpferte Salatschüssel. Ich habe genug Salatschüsseln. Ich brauche nichts. Und am wenigsten brauche ich Ulrike zu Weihnachten«, sagte Rasmus verdrossen.
»Komm, Papa, wir lassen uns jetzt weder den heutigen Tag noch das Fest verderben, nicht von Kai und erst recht nicht von Mama.«
Rasmus inspizierte gründlich den Knochen auf seinem Teller und stellte befriedigt fest, dass er das Fleisch chirurgisch präzise bis auf die letzte Faser entfernt hatte. Lustlos nahm er noch eine Gabel Sauerkraut und merkte sofort, dass er eigentlich satt war.
*
Stefan Rost betrachtete liebevoll seine Freundin, die es sich an diesem kalten Winterabend mit einem Buch auf der Couch bequem gemacht hatte. Ein Feuer im Kamin prasselte und Stefan fühlte sich mit einem Glas Burgunder in der Hand an seinem freien Montagabend einfach nur wohl. Obwohl er Lotte schon seit - wie vielen Jahren eigentlich? - kannte, beglückwünschte er sich noch an beinahe jedem neuen Tag dafür, sich für sie entschieden zu haben, wenngleich er immer noch nicht ganz verstand, wieso sie im Gegenzug ausgerechnet ihn ausgesucht hatte.
Lotte Brandenburg war einfach eine tolle Frau, fand Stefan. Einerseits stimmte die Optik. Lotte war groß, schlank, hatte lange hellbraune Haare und ein ebenmäßig ovales Gesicht. Unter der hohen Stirn befanden sich die für die gesamte Familie charakteristischen grünen, schräg gestellten Augen, die an eine Katze erinnerten, allerdings an eine mit einem sehr edlen Stammbaum. Alle vier Brandenburg-Kinder hatten dieses Merkmal von ihrer Mutter geerbt.
Schaute man sich Lottes Mutter Helene an, dann hatte man eine ziemlich genaue Vorstellung davon, wie Lotte in dreißig Jahren wohl aussehen würde. Und obwohl natürlich mittlerweile einige Falten aus dem Gesicht Helenes nicht mehr wegzudenken waren, war diese Zukunftsvision alles andere als abschreckend.
Aber um Stefan Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, Lottes Aussehen war für ihn immer nur zweitrangig gewesen. Sie war intelligent, zielstrebig und geradlinig, dazu bedingungslos ehrlich und loyal. Diese Eigenschaften faszinierten ihn viel mehr als die ungewöhnlichen Augen und das schöne Haar.
Dazu kam natürlich dieses undefinierbare und nicht greifbare Gefühl, das einen Menschen dazu bringt, einen anderen zu lieben und wieder einen anderen abzulehnen. Und eins war sicher: Stefan liebte Lotte.
In diesem Moment schaute Lotte von ihrem Buch hoch und stellte fest, dass Stefan sie ansah. Sie erwiderte sein Lächeln. Eigentlich war sie genauso glücklich mit Stefan wie er mit ihr. Aber es gab einen gravierenden Unterschied. Während Stefan einfach nur wollte, dass alles so bliebe, wie es in diesem Augenblick war, plante Lotte Veränderungen. Seit Monaten war sie bereits auf der Suche nach einem geeigneten Haus oder einer schönen Wohnung für ihren Freund und sich selbst.
Sie wollte endlich von zu Hause ausziehen. Sie fand, mit achtundzwanzig Jahren sei es höchste Zeit für diesen Schritt. Sie liebte ihre Eltern und zwei ihrer drei Brüder durchaus, aber irgendwann musste einfach Schluss sein mit der Umklammerung durch diesen krakenarmigen Familienclan.
Mittlerweile war es schon so weit gekommen, dass ihr sogar die durchaus liebevoll gemeinten Fragen ihrer Mutter auf die Nerven gingen, auch wenn die nur wissen wollte, ob Stefan und sie denn irgendetwas Nettes für einen freien Abend geplant hatten.
Sie musste einfach raus aus dieser Burg und das lieber heute als morgen. Wenn sie nicht bald eine Lösung fand, würde dieser Zustand ihre Beziehung zu Stefan ganz erheblich belasten.
Andererseits musste sie zugeben, dass zu diesem Zeitpunkt ein ganz konkretes Reihenhaus in Ratingen ihre Beziehung viel mehr auf die Probe stellte. Lotte suchte jetzt schon seit Monaten nach einer neuen Bleibe, wurde dabei aber von Stefan überhaupt nicht unterstützt. Er hatte sich zwar vorgenommen, sich ihren Plänen nicht aktiv zu widersetzen, er würde jedoch andererseits auch nichts dafür tun, dass dieser Umzug früher als befürchtet zustande käme.
Stefan würde nämlich die Familie Brandenburg extrem vermissen. Seine eigenen Eltern waren früh verstorben. Außer ihnen hatte er nur ein paar entfernte Verwandte, auf die er nicht den geringsten Wert legte. Ein Glücksfall seines Lebens war die Ausbildung bei Heinrich Brandenburg gewesen, die er direkt nach seinem Schulabschluss begonnen hatte. Heinrich hatte sich des jungen Mannes nicht nur als Chef angenommen, er hatte sich vielmehr als eine Art Vaterersatz erwiesen, wofür Stefan sehr empfänglich und dankbar gewesen war.
Heinrich hatte Stefan also nicht nur zu einem ausgezeichneten Koch ausgebildet, sondern in dieser wichtigen Lebensphase auch noch ein gutes Stück dazu beigetragen, dass er ein so anständiger, netter Mensch geworden war.
Als Heinrich neben dem Löricker Stammhaus ein zweites Restaurant in Benrath eröffnete, war es fast folgerichtig, dass Stefan die Leitung übernahm. Dabei spielte allerdings auch eine Rolle, dass sich Stefan mittlerweile innerhalb der Familie etabliert hatte.
Er und Lotte hatten sich gegen Ende seiner Ausbildung ebenso plötzlich wie heftig ineinander verliebt, was ihre gesamte Umgebung verblüffte, weil sie vorher bereits zwei Jahre lang auf rein freundschaftlicher Ebene miteinander umgegangen waren. An einem eigentlich lauen Sommerabend war dann aber der Blitz mit einer Intensität eingeschlagen, die niemand hatte vorhersehen können. Daraufhin hatten Heinrich und Helene den jungen Koch mit offenen Armen in ihrer Familie aufgenommen und ihrer Tochter und Stefan eine Wohnung in der Burg eingerichtet, die bis zu diesem Zeitpunkt als Vorratslager für das Restaurant gedient hatte.
Diese Konstellation hatte sich seitdem - wie Stefan fand - durchaus bewährt. Allerdings war seine Liebste eben anderer Ansicht.
Weil von Stefan in dieser Hinsicht absolut keine Hilfe zu erwarten war, hatte Lotte die letzten Monate damit verbracht, sich ein Immobilienangebot nach dem anderen anzuschauen.
Stefan, der das Restaurant in Benrath sehr erfolgreich leitete, verdiente nicht schlecht. Finanziell sogar noch ein bisschen besser gestellt war Lotte, die nach ihrem Studium der Innenarchitektur mittlerweile einen sehr im Trend liegenden Laden in der Altstadt führte, in dem man nicht nur ausgewählte Designermöbel und Wohnaccessoires erwerben konnte, sondern auch den Rat der Inhaberin. Damit hatte sie sich - man konnte es nicht treffender formulieren - in den letzten drei Jahren eine goldene Nase verdient.
Folglich hatte sie entschieden, nicht in eine Mietwohnung zu ziehen, sondern trotz der über Düsseldorf schwebenden Immobilienblase ein geeignetes Objekt zu erwerben. Diese Idee war nicht so leicht zu verwirklichen gewesen, aber jetzt winkte eine Lösung mit dem ominösen Reihenhaus in Ratingen.
Sie hatte Stefan dazu gezwungen, es mit ihr zusammen zu besichtigen. Stefan fand, es handele sich um einen überteuerten 08/15-Schuhkarton mit einem handtuchgroßen Garten. Dieses Haus hielt er deshalb kaum für eine Verbesserung gegenüber der wunderschönen Wohnung im alten Bauernhaus mit offenen Deckenbalken, Kamin und Sprossenfenstern.
Lotte hatte ihm versichert, er würde das Schmuckstück in Ratingen nicht wiedererkennen, nachdem sie es neu designt hätte. Aber eigentlich ging es Stefan ja überhaupt nicht um die Optik seines Wohnzimmers, Hauptsache die Couch war bequem. Vielmehr scheute er sich davor, Helene und Heinrich zu verlassen, Lennart, Harriet und ihre Zwillinge nur noch bei Familienfesten zu sehen und Arne ausschließlich in dessen neuer Fernsehsendung, falls die überhaupt zustande käme. Auch Oma Gertrud war ihm ans Herz gewachsen. Der Einzige, auf den er frohen Herzens hätte verzichten können, war Arnes Zwillingsbruder Kai. Aber das ging wohl jedem so, selbst Helene, auch wenn sie so etwas niemals zugegeben hätte.
Stefan seufzte. Der wichtigste Mensch in seinem Leben war aber schließlich Lotte, und wenn sie es hier nicht mehr aushielt, dann blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr in die Freiheit zu folgen. Er konnte lediglich versuchen, diesen Prozess ein wenig zu verlangsamen. Also wandte er sich seiner Freundin zu und sagte: »Ich bin heute übrigens mal die Strecke zwischen Ratingen und Benrath abgefahren. Sie ist alles andere als ideal. Ich brauche deutlich länger als von hier aus. Könnten wir vielleicht doch noch einmal nach einer Bleibe im Düsseldorfer Süden suchen?«
Lotte sah ihn streng an. »Das haben wir doch alles schon hundertmal besprochen. In Benrath finden wir nichts, was wir uns leisten könnten. Ratingen ist einfach perfekt. Und dass du länger als von hier unterwegs bist, kann ich gar nicht glauben.«
Die Differenz der Arbeitswege hatte tatsächlich nur zwei Minuten betragen, wobei sich Stefan auf dieser Probefahrt von Ratingen nach Benrath vorschriftsmäßig, um nicht zu sagen vorbildlich verhalten hatte. An jeder gelben Ampel, an der er normalerweise Gas gegeben hätte, hatte er angehalten, und so das für ihn ungewohnte Erlebnis von mehreren Pole-Positionen erlebt. Wenn er also ehrlich mit sich selbst gewesen wäre, hätte er Lotte zugestimmt, dass es keinen großen Unterschied ausmachte, ob er nun von der Burg, die sich an der Stadtgrenze zwischen Düsseldorf und Meerbusch befand, oder aus Ratingen nach Benrath fuhr.
»Weißt du, ich hätte eigentlich auch viel lieber eine schöne große Altbauwohnung. So ein Reihenhaus finde ich ziemlich langweilig. Und der Garten macht auch viel Arbeit. Lass uns doch noch einmal in die Immobilienanzeigen schauen. Diesmal helfe ich dir auch. Das verspreche ich dir. Aber das Haus in Ratingen gefällt mir einfach nicht.«
»Ach mein Schatz, warum glaube ich dir nicht?«, fragte Lotte eigentlich mehr sich selbst als Stefan. »Du würdest an jedem Objekt etwas zu mäkeln haben. Du willst einfach hier nicht weg.«
»Ist das denn wirklich so schlimm? Andere Frauen wären froh, wenn ihre Freunde so gut mit ihrer Familie zurechtkämen.«
Lotte sah Stefan mit festem Blick an. »Ja, Schatz, ich empfinde es hier als ganz schrecklich. Spürst du denn wirklich nicht die versteckten Schwingungen innerhalb dieser Hausgemeinschaft? Merkst du nicht, wie es unter der Oberfläche brodelt? Und ich stelle von Tag zu Tag immer stärker fest, dass es nicht nur um die Beziehungen der anderen geht, sondern dass ich mit in diesen Strudel hineingezogen werde. Ich habe das Gefühl zu ersticken, wenn ich nicht bald hier herauskomme. Irgendetwas Schreckliches liegt in der Luft.«
»Meine Güte, Lotte, dramatisiert du das nicht ein bisschen? Was ist denn passiert in den letzten Wochen und Monaten? Wieso bekomme ich von diesen merkwürdigen Schwingungen überhaupt nichts mit?«
»Das verstehe ich eben nicht. Du musst doch einfach auch spüren, dass wir hier in der Burg auf eine Katastrophe zusteuern. Egal was es ist, Stefan, ich muss hier raus und das so schnell wie möglich. Ziehst du mit oder willst du hierbleiben? Das muss ich jetzt endlich wissen.«
»So gern ich deine Familie mag, du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Ich werde also mit dir ausziehen, nur lass uns bitte in Ruhe etwas Vernünftiges suchen. Ich möchte nicht in dieses Haus nach Ratingen. Wenn es dir so eilig ist, sollten wir vielleicht als Zwischenlösung noch einmal nach einer Mietwohnung suchen. Das geht bestimmt schneller und wir legen uns auch noch nicht so fest. Aber ich verspreche dir hiermit feierlich: Sobald du etwas gefunden hast, wo ich mich auch nur halbwegs wohlfühle, bin ich dabei. Und bis das der Fall ist, halten wir hier noch durch.«
Lotte blinzelte ein paar Tränen weg. Zusammen mit Stefan würde es schon noch ein paar Monate hier gehen, Schwingungen hin oder her.
Kapitel 3
17. Dezember
Nicht gerade voller Vorfreude auf den neuen Tag nahm Luzie an diesem Morgen an ihrem Schreibtisch Platz. Grund für ihre gedrückte Stimmung waren nicht die Schriftsätze, die sich dort stapelten, sondern der Termin mit Kai Brandenburg, der für zehn Uhr angesetzt war.
Wie immer vor solch direkten Begegnungen mit Mandanten hatte sich Luzie voller Eifer und Pflichtbewusstsein so gut es nur eben ging vorbereitet. Auch nach einem knappen halben Jahr ihrer neuen Tätigkeit als Anwältin für Strafrecht in der Kanzlei von Christoph Hill hielt sie sich noch für eine absolute Fehlbesetzung, die ohne zusätzliche Vorbereitung glatt versagen würde.
Ihr Vater, der in grauer Vorzeit zusammen mit Christophs Vater Jura studiert hatte, hatte diese Kooperation vor ein paar Monaten eingefädelt, als Luzie ihr zweites Staatsexamen mit einiger Mühe bestanden und sich erst einmal einen Job als Servicekraft in einem Café besorgt hatte. Leider war Luzie immer noch der irrigen Überzeugung, dass sie eigentlich nichts wusste, nichts konnte und sich daher die Position hinter ihrem Schreibtisch mehr oder weniger erschlichen hatte.
Das hielt ihr Chef Christoph für völligen Unsinn. Luzie hatte sich in diesem ersten halben Jahr ausgesprochen gut bewährt und Christoph war glücklich darüber, sie als Mitarbeiterin gewonnen zu haben. Was Luzie fehlte, waren weder Wissen noch Intelligenz, weder Empathie noch Kompetenz. Ihre einzige Schwäche war ihr mangelndes Selbstbewusstsein.
Christoph hatte gehofft, dass sie durch den Freispruch ihres Mandanten in ihrem ersten großen Schwurgerichtsprozess vor dem Landgericht jede Menge Selbstwertgefühl getankt hätte, aber leider war dem nicht so. Immerhin hatte Luzie inzwischen eine gewisse Strategie entwickelt, wie sie die von ihr besonders gefürchteten Beratungsgespräche mit Mandanten für sich selbst erträglicher gestalten konnte. Sie versuchte bereits im Vorfeld, so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen, und schlug dann vor dem jeweiligen Gespräch noch einmal die einschlägigen Paragrafen im Strafgesetzbuch und - falls erforderlich - auch noch die Kommentierung nach, um für alle möglichen Fragen und Probleme ihrer Mandanten gerüstet zu sein.
So schob sie also auch an diesem Morgen die zu bearbeitenden Aktenhefter beiseite und befasste sich mit Paragraf 263 des Strafgesetzbuches, der sich dem Betrug widmet. Ihr wurde ziemlich schnell klar, dass es für Kai Brandenburg in erster Linie um die Frage gehen würde, ob es sich um einfachen oder schweren Betrug handelte.
In seinem Fall war dies offenbar abhängig von der Schadenshöhe sowie der Anzahl der Versuche, die Kai unternommen hatte, um irgendwelche gutgläubigen Zeitgenossen um ihr Geld zu bringen. Die Beantwortung dieser Frage war wichtig für das Strafmaß. Würde Kai mit einer Geldstrafe davonkommen, eventuell auch mit einer Freiheitsstrafe auf Bewährung oder musste er damit rechnen, tatsächlich ins Gefängnis zu wandern?
So unsympathisch ihr Mandant auch war, die letzte Variante wollte sie um jeden Preis verhindern. Sie wollte es Helene ersparen, ihren Sohn im Gefängnis besuchen zu müssen und auch den übrigen Mitgliedern der Familie die Peinlichkeiten, die mit solchen Aufenthalten verbunden waren. Andererseits hätte sie nicht das geringste Mitleid mit Kai, wenn man ihm eine ordentliche Geldstrafe aufbrummen würde. Auch eine Freiheitsstrafe zur Bewährung würde ihn vielleicht von den krummen Pfaden abbringen, die sich am Rande der Legalität entlangschlängelten.
Kai war immer schon ein Ekel gewesen. Und so wunderte sie sich auch überhaupt nicht, dass dieser Termin notwendig geworden war. Was hätte man denn anderes erwarten können von jemandem, der schon im Kindergartenalter nur negativ aufgefallen war.
Für Luzie war es immer mit zwiespältigen Gefühlen verbunden gewesen, zusammen mit Familie Brandenburg in den Urlaub zu fahren. Während sich Rasmus und Ulrike in diesen Ferien eigentlich nur um ihre eigenen Belange kümmerten und Luzies Bedürfnisse wie immer ignorierten, waren Heinrich und Helene stets dabei, wenn es darum ging, für alle Kinder Eis zu kaufen, Flöße zu bauen, Quellen zu entdecken und Geschichten vorzulesen.
Auch Lotte und Lennart waren für jeden Blödsinn zu haben und den kleinen Arne schleifte man halt notgedrungen mit. Aber immerhin war er ein freundliches und fröhliches Kind, mit dem man nur selten Probleme hatte. So weit, so gut. Aber dann war da eben auch Kai, der die ganze volle Waagschale eines wunderbaren Urlaubs allein durch seine Anwesenheit zum Hochschnellen brachte.
Deshalb war Luzie auch nicht unglücklich gewesen, als nach dem plötzlichen Auszug ihrer Mutter die gemeinsamen Urlaube mit den Brandenburgs nicht mehr stattfanden. Zeitgleich verliefen die Freundschaften mit Lotte und Lennart irgendwo im Sande. Das hieß aber nicht, dass man sich nicht spontan um den Hals fiel, wenn man sich in Düsseldorf über den Weg lief. Irgendwelche Bindungen waren da immer noch.
Luzie hörte die Klingel und nahm schicksalsergeben hin, dass die Sekretärin wenig später Kai Brandenburg in ihr Büro führte.
»Hallo Kai«, sagte sie mit so viel Enthusiasmus, wie sie gerade noch aufbringen konnte.
»Hey Luzie, schön, dich mal wieder zu sehen«, entgegnete Kai. Er war wie seine übrigen Geschwister groß, hatte eine sportliche Figur und dichte, dunkelblonde Haare. Auch er hatte die charakteristischen grünen Augen seiner Mutter geerbt.
»Ich hätte dich lieber woanders getroffen, als hier in meinem Büro«, stellte Luzie energisch fest. Sie würde jetzt ganz bestimmt keinen Smalltalk mit Kai Brandenburg beginnen.
»Es ist, wie es ist«, behauptete Kai munter. »Irgendwie müssen wir aus dieser Sache wieder herauskommen. Ich bin froh, dass du ein Profi bist und mir jetzt hilfst.«
»Ja, so gut ich kann.«
»Das alles ist ein großes Missverständnis. Ich weiß überhaupt nicht, was die Staatsanwaltschaft von mir will.«
Luzie wusste es und sie versuchte nach Kräften, es ihrem Mandanten zu erläutern. Da dessen Unrechtsbewusstsein jedoch so gut wie überhaupt nicht vorhanden war, gestaltete sich dieser Erklärungsversuch schwierig. Er führte lediglich zu Kais Frage, wieso man es ihm in die Schuhe schiebe, wenn die Adressaten seiner Briefe zu blöd seien, ein unverbindliches Angebot von einer Rechnung zu unterscheiden.
Luzie redete sich zwanzig Minuten lang den Mund fusselig. Kai beharrte auf folgenden Standpunkten:
Erstens habe er sich mit seiner Website die größte Mühe gegeben und es gebe vielerlei Vorteile für die Firmen, die in dieser Adressliste aufgeführt seien. Konkrete Beispiele für diese Vorteile konnte er jedoch nicht nennen.
Zweitens habe er im Internet recherchiert und sei ganz sicher, dass mit seinem Angebot alles in Ordnung sei. Man müsse nur die allgemeinen Geschäftsbedingungen lesen, um festzustellen, dass sich das - zugegeben groß und fett gedruckte - Wort Rechnung nur auf den Fall beziehe, dass der Adressat Kais großzügiges Angebot annehme, sich für lächerliche zweihundertsiebzig Euro auf seiner Adressseite verewigen zu lassen. Und nur für diesen Fall gelte natürlich auch das Zahlungsziel von vierzehn Tagen.
Dass er sich drittens überwiegend an Ausländer gewandt habe, sei reiner Zufall gewesen. Die Adressen für seine Angebote beziehe er aus den Veröffentlichungen des Handelsregisters. Offenbar hätten sich in letzter Zeit eben deutlich mehr Leute mit ausländischen Namen registrieren lassen als deutsche Mitbürger. Auf gar keinen Fall habe er jedenfalls deren mangelnde Sprachkenntnisse ausnutzen wollen. Das sei eine unverschämte Unterstellung und durch nichts zu beweisen.
»Kai, ich bin Juristin. Mit dieser Argumentation kannst du weder die Staatsanwaltschaft noch mich überzeugen. Meiner Meinung nach erfüllt das klar den Tatbestand des Betrugs, und bei der Menge der Fälle und der Höhe des Schadens ist das hart an der Grenze zum schweren Betrug.
Wenn du meinen Rat hören willst, dann solltest du ein Geständnis ablegen und in jeder Hinsicht dabei mitwirken, dass die ganze Angelegenheit restlos aufgeklärt werden kann. Außerdem musst du den entstandenen Schaden bis auf den letzten Cent zurückzahlen und das möglichst sofort. Dann solltest du behaupten, du würdest die ganze Angelegenheit zutiefst bereuen. Außerdem solltest du eine feste Arbeitsstelle vorweisen - zur Not muss dich dein Vater einstellen - so dass du es zukünftig nicht mehr nötig hast, die Menschheit übers Ohr zu hauen. Unter diesen Umständen sehe ich eine gewisse Chance, dass du mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe auf Bewährung davonkommst. Wenn du dich anders verhältst, kannst du nur darauf hoffen, dass dir dein Vater demnächst einen Kuchen ins Gefängnis bringt, in dem eine Feile versteckt ist.«
»Hey Luzie, jetzt bleib mal locker. Ich werde überhaupt nichts gestehen, und das Geld könnte ich überhaupt nicht zurückzahlen, selbst wenn ich es wollte. Ich musste ja schließlich von irgendetwas leben in den letzten Monaten. Und da ich betriebsbedingt Anfang des Jahres meinen ohnehin schlecht bezahlten Job verloren habe, hatte ich keine andere Wahl. Aber die Initiative, sich selbstständig zu machen, wird offenbar in diesem Land nicht belohnt.«
»Kai, glaub mir, du verkennst den Ernst der Lage. Du bist nicht der Erste, der versucht, mit dieser Masche die Leute abzuzocken. Es gibt einige Präzedenzfälle, die ich dir gern heraussuche, damit du siehst, welche Urteile da so gesprochen worden sind. Die meisten deiner - das nächste Wort setzte Luzie mit einer Geste in Anführungszeichen - Kollegen werden allerdings gar nicht gefasst, weil sie rechtzeitig genug die Konten, auf die die Beträge eingezahlt werden, wieder schließen. Das hast du offenbar versäumt.«
»Und warum wohl? Eben weil ich nichts Unrechtes getan habe. Noch mal, Luzie, ich habe den Menschen ein unverbindliches Angebot gemacht. Wenn es Trottel gab, die diese Angebote für Rechnungen gehalten haben, dann ist das nicht mein Problem.«
»Doch, Kai. Genau das ist der Knackpunkt. Du hast unter Vorspiegelung falscher Tatsachen bei den Adressaten einen Irrtum erzeugt, nämlich, dass sie für den Eintrag ins Handelsregister zahlen müssten. Durch die dadurch entstandenen Überweisungen hast du dir einen rechtswidrigen Vorteil verschafft. Genau das steht in Paragraf 263 des Strafgesetzbuchs.
Vielleicht solltest du eine zweite Meinung einholen, wenn du mir nicht glaubst. Ich kann dir nur immer wieder sagen, dass du dich meiner Meinung nach strafbar gemacht hast und dass die beste Strategie jetzt darin besteht, das Strafmaß durch geeignete Maßnahmen so gering wie möglich zu halten. Diese Maßnahmen sind: Rückzahlung des Schadens, Geständnis, Reue und Mithilfe bei der Aufarbeitung des Falles.
Dagegen wäre es völlig schwachsinnig, lange Schriftsätze zu verfassen mit dem Inhalt, du seist unschuldig und vollkommen im Recht und die anderen einfach nur zu dämlich, um am allgemeinen Geschäftsverkehr teilnehmen zu können.«
»Das muss ich mir in Ruhe überlegen. Tatsächlich ist das überhaupt nicht die Strategie, die mir vorschwebt. Schließlich bin ich ein unbescholtener, gesetzestreuer und nicht vorbestrafter Bürger, der einfach nur versucht hat, mit Tatkraft und Eigeninitiative ein Geschäftsmodell auf die Beine zu stellen. Ich lasse mir weder von dir noch von der Staatsanwaltschaft einreden, ich sei ein Betrüger.«
»In Ordnung Kai, überlege es dir und gib mir dann Bescheid. Solltest du auf meinen Vorschlag eingehen wollen, vertrete ich dich gerne, allein schon wegen der langen Freundschaft unserer Familien. Ich bin dir aber überhaupt nicht böse, wenn du meinst, bei einem meiner Kollegen besser aufgehoben zu sein. Denke bitte nur daran, dass man dir eine Frist gesetzt hat, dich zu äußern, und lass die nicht verstreichen.«
Kai stand auf. »Wir müssen unbedingt mal wieder einen trinken gehen, Luzie.«
Luzie lächelte und sagte unverbindlich. »Lotte und Lennart habe ich schon länger nicht mehr gesehen, aber ich habe Arne neulich auf der Ratinger getroffen, als ich dort mit ein paar Freunden gefeiert habe.«
Kai zog die Augenbrauen hoch. Seine grünen Augen leuchteten. »Ach, hast du das?«, fragte er betont interessiert. Luzie nickte bestätigend.
»Und, was er gesagt? Geht es ihm gut?«
»Ich habe nur ein paar Worte mit ihm gewechselt. Du hast ihn bestimmt häufiger gesehen als ich in letzter Zeit.«
»Was du nicht sagst. Wer war übrigens der gutaussehende Typ, der an dem Abend versucht hat, dich zu überreden, mit ihm ins Irish Pub zu gehen?«
Luzie wurde rot. Diesmal jedoch nicht aus Unsicherheit, sondern vielmehr aus Ärger darüber, dass sie sich immer wieder von Kai Brandenburg hinters Licht führen ließ, zuletzt offenbar auf der Ratinger Straße.
»Ich bezweifle, dass du gern mit ihm zusammen wärst. Er arbeitet bei der Kripo, was ihn vielleicht für dich als Freund eher untauglich macht.«
Luzie brachte ihren Mandanten ohne weitere Erklärungen zur Tür und verabschiedete sich ziemlich kühl von ihm. Sie atmete tief durch, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Kai war schon immer ein Idiot, er blieb ein Idiot, und er würde immer ein Idiot sein. Mittlerweile hoffte sie inständig, dass er sich tatsächlich einen anderen Anwalt suchen würde, irgend so einen Typen, der ohne große Skrupel versuchen würde, der Staatsanwaltschaft Kais hanebüchene Geschichte zu verkaufen, wobei sie sicher war, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt sein würde. Schließlich zeichnete sich die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft weder durch besondere Leichtgläubigkeit noch durch Dummheit aus
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