427 Seiten
ISBN 979-8315245858
Prolog
Samstag, 8. Juni
(in dem jede Menge Hochzeitsgäste vorkommen,
die man sich nicht alle merken muss)
Der angeblich schönste Tag in Anke Hellmichs Leben sollte nicht durch eins der normalerweise eher kreativen Outfits ihres Verlobten Cem Arat getrübt werden. Mit Schaudern dachte sie an sein Aussehen bei einem der letzten festlichen Ereignisse, der Adventsparty ihres Chefs Otto Tjombe, bei der Cem mit lässiger Eleganz einen farbenfrohen Pullover getragen hatte, auf dem die blinkende Nase des Rentiers Rudolph im Zentrum der allgemeinen Aufmerksamkeit gestanden hatte.
Um ähnliche Fehltritte des nettesten Staatsanwaltes, den Düsseldorf zu bieten hatte, ausgerechnet bei seiner und ihrer Hochzeit auszuschließen, hatte sie sich für den Kauf des Hochzeitsanzugs der Hilfe ihres besten Freundes und Kollegen Axel König versichert und hoffte nun am Tag der Tage auf den Erfolg seiner Bemühungen.
Sie selbst hatte zusammen mit drei Freundinnen mehrere Brautmodengeschäfte abgeklappert, bis sie sich endlich zufrieden vor dem Spiegel gedreht und sich nicht wie eine verkleidete Schaufensterpuppe gefühlt hatte. Ihr Kleid war lang, weiß und schlicht. Auf einen Schleier hatte sie ebenso verzichtet wie auf dramatisches Make-up. Damit fühlte sie sich so wohl, wie es unter diesen angsteinflößenden Umständen - eine Stunde vor der Trauung - überhaupt möglich war.
Der Gedanke an die vorhersehbar negativen Reaktionen sowohl ihrer Mutter als auch ihrer künftigen Schwiegermutter auf ihren viel zu unspektakulären Anblick zauberte ein Lächeln in ihr dezent geschminktes Gesicht.
Die Mütter hassten sich seit ihrer ersten Begegnung. Immerhin einte sie von Anfang an die Überzeugung, in Zukunft wohl das unpassendste Schwiegerkind der Welt erdulden zu müssen. Heute würden sie eine weitere Gemeinsamkeit entdecken, die Enttäuschung über das Fehlen jeglichen Glamours bei Anke: keine Prinzessin, nicht mal eine Meerjungfrau, kein Schleier, kein Reifrock und keine High Heels. Also alles typisch Anke.
Noch ein bisschen schlimmer als die modische Gleichgültigkeit der Braut war für die Mütter die Tatsache, dass es keine kirchliche Trauung geben würde, also weder eine katholische, wovon Ankes Mutter selbstverständlich ausgegangen war - denn so war es immer schon gewesen - noch eine in der Moschee, was Cems Mutter zu der Bemerkung veranlasste, dann wären die beiden doch überhaupt nicht richtig verheiratet. Sollte er doch mit dieser *** - hier brachte Cems Vater sie entsetzt zum Schweigen - zusammenleben. Irgendwann würde er schon noch ein nettes türkisches Mädchen kennenlernen.
Die gegenseitigen familiären Vorzeichen standen also auf Sturm. Beste Voraussetzungen für eine gelungene Hochzeitsfeier.
*
»Wir müssen los, Otto«, sagte Rita schon zum dritten Mal, diesmal mit einem drohenden Unterton.
»Ohne mich können sie nicht anfangen«, behauptete ihr Ehemann, der vor dem großen Spiegel im Schlafzimmer wieder und wieder den Anfang seiner Traurede übte, dabei den Bauch einzog und sich weit, weit weg sehnte - in seine Heimat Namibia, aber gerne auch nach Grönland, auf die Osterinseln oder in die Südsee, Hauptsache so weit wie möglich entfernt vom Standesamt auf der Inselstraße und der Location der freien Trauung.
Wenn er nur nicht diese verflixte Rede halten müsste. Vielleicht würde ihn ja doch noch ein Anruf aus dem Polizeipräsidium retten, eine besonders schrecklich zugerichtete Leiche eines besonders prominenten Düsseldorfers sei an einem besonders belebten und unpassenden Ort gefunden worden, vielleicht auf dem Hof einer Grundschule. Und das sei ja wohl Chefsache.
Die Hoffnung stirbt zwar zuletzt, aber irgendwann ist auch sie mausetot. Das war im Hause Tjombe der Fall, als Otto von seiner Tochter Elinor untergehakt und aus der Wohnung gezerrt wurde. Ottos Sohn Fitz klimperte drohend mit dem Schlüsselbund und Rita sagte für ihre Verhältnisse beinahe ein bisschen unfreundlich: »Schatz, man soll doch auf die Braut warten und nicht auf den Trauredner.«
Sein Hosenbund kniff und der erste Satz der Rede fiel ihm nicht mehr ein. Otto schloss die Augen auf der verzweifelten Suche nach seiner inneren Mitte.
*
»Du siehst fabelhaft aus«, lobte Oberkommissar Axel König vom KK 11 seinen Freund Cem Arat. Gerade hatte er eine mit dem Brautstrauß abgestimmte weiße Rose an Cems eleganten grauen Anzug geheftet.
»Bisschen langweilig vielleicht«, grinste Cem und griff provozierend nach einer blauweißen Baseballkappe mit der Aufschrift »Kalsarikännit«, die er im letzten Finnlandurlaub erworben hatte, nachdem er die Übersetzung »sich zuhause in Unterhose allein betrinken« erfahren und für passend befunden hatte.
Axel pflückte die Mütze vorsichtig von Cems Kopf, um dessen Frisur nicht zu gefährden. Schließlich war er erst vor ein paar Minuten Zeuge gewesen von Cems Bemühungen, mit Kamm und Haarspray die nicht mehr wegzudiskutierenden Geheimratsecken zu verdecken.
»Und?«, fragte Axel lächelnd. »Wie fühlst du dich?«
Dem sentimentalen Cem traten Tränen in die Augen. »Ich bin einfach nur glücklich«, gab er zu. Sein Trauzeuge bewies die Berechtigung der englischen Übersetzung dieses Ehrenamtes - Best Man - und drückte ihm zuvorkommend eine Dose Bier in die Hand.
Cem öffnete zischend die Dose, trank einen Schluck und fragte: »Was ist eigentlich mit dir und Luzie? Ihr seid doch jetzt schon jahrelang zusammen.« Er summte ein paar Takte von Mendelssohn Bartholdys Hochzeitsmarsch.
»Besser nicht«, behauptete Axel. »Es ist alles super so, wie es ist. Bloß nicht daran rühren.«
»Sieht Luzie das genauso?«
»Ja.«
»Oder sagt sie das nur, weil sie weiß, dass du das hören willst?«, bohrte der Staatsanwalt nach, der sich schließlich mit Vernehmungen und unwilligen Angeklagten bestens auskannte.
»Keine Ahnung. Was für einen Grund sollten wir haben, uns so eine Feier anzutun? Außerdem: Bisher bin ich auch ohne einen Schwiegervater Rasmus Holm hervorragend klargekommen.«
Cem dachte an Luzies Vater, den ehemaligen vorsitzenden Richter Holm, der vermutlich Jurist geworden war, weil er seine Mitmenschen nicht mochte und gern recht hatte, und nickte verständnisvoll. »Meine Schwiegermutter ist auch nicht so ohne«, gab er zu. »Aber dafür ist Anke ein Lottogewinn.«
*
Michelle Blum und Martin Anger saßen bereits in der Bahn, um es pünktlich zum Standesamt in die Inselstraße zu schaffen. Die beiden Kollegen von Anke, Otto und Axel aus dem KK 11, dem Kommissariat für Kapitalverbrechen, waren auch privat ein Paar, wahrscheinlich weil Gegensätze sich gelegentlich anziehen. Michelle war auch heute freundlich, zugewandt und optimistisch, einen besonders schönen Samstag vor sich zu haben, während Martin wie üblich missmutig die Stirn in Falten zog und die Gestaltung dieses Tages verfluchte.
»Ich habe nicht die geringste Lust auf diese Veranstaltung«, murrte er. »Was soll ich auf einer türkischen Hochzeit mit Hunderten von Menschen, die ich nicht kenne und auch nicht kennenlernen möchte? Wahrscheinlich gibt es nicht mal Alkohol«, befürchtete er.
Michelle öffnete den Mund, um Martins Befürchtungen zu zerstreuen.
»Wenn du jetzt auch noch ein Gedicht vorträgst, ist das ein Scheidungsgrund.«
Michelle schloss den Mund wieder und versuchte stillschweigend, sich ihre gute Laune zu bewahren. »Gott sei Dank sind wir nicht verheiratet«, dachte sie, denn die Gedanken sind frei. »Also kann es auch keinen Scheidungsgrund geben.« Laut sagte sie: »Du tust geradezu so, als ob du zu deiner eigenen Hochzeit müsstest. Sei doch froh, dass es nur die einer Kollegin ist.«
Martin überraschte sie mit einem Lächeln und sagte: »Ob du es glaubst oder nicht, ich wäre lieber unterwegs zu unserer Hochzeit - allerdings im allerkleinsten Kreis - als zu diesem deutsch-türkischen Staatsempfang. Aber dir zuliebe werde ich jetzt so tun, als ob ich mir nichts Schöneres vorstellen könnte an einem freien Samstag.« Er strich ihr liebevoll über die Wange. »Immerhin werde ich das Vergnügen haben, Otto bei seiner Rede schwitzen zu sehen. Man muss auch für kleine Freuden dankbar sein.«
*
Anna Heine saß bereits in ihrem Hochzeitsoutfit in der Lokalredaktion der Düsseldorfer Zeitung vor ihrem Computer und tippte hektisch auf der Tastatur herum. Sie war gestern mit ihrem Pensum nicht fertiggeworden, weil sie am späten Nachmittag noch zu einem Termin des Stadtmarketings musste, auf dem die Vorkehrungen für das Public Viewing während der Fußball-Europameisterschaft besprochen worden waren.
Tagsüber war sie bei Gericht gewesen und musste jetzt noch schnell für die Kollegen des Sonntagsdienstes ein paar Meldungen fertigstellen. Ein Einbrecherduo war auf frischer Tat ertappt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt worden. Ein ähnliches Schicksal hatte eine Kosmetikerin ereilt, die ohne ärztliche Bestellung und mit nur geringen Vorkenntnissen an einer Fettabsaugung bei einer Achtundzwanzigjährigen gescheitert war und nun wegen gefährlicher Körperverletzung vor Gericht stand.
Der tragischste Fall war der eines Rentners, dessen dreijährige Enkelin sich durch die versehentliche Einnahme von beim Opa herumliegenden Medikamenten vergiftet hatte. Das kleine Mädchen war daran gestorben. Der Rentner war der fahrlässigen Tötung angeklagt. Der Prozess war vertagt worden.
Fertig. Sie fuhr ihren Computer herunter und sah dabei auf die Uhr. Sie würde es noch so gerade bis zur Trauung schaffen, wenn sie einigermaßen schnell durch den Hofgarten lief. Ihr Lebensgefährte Tom Brecht, Anke Hellmichs ehemaliger Chef, und ihre Tochter Jule warteten hoffentlich schon vor dem Standesamt auf sie.
*
Martins Befürchtungen hinsichtlich der Getränke trafen nicht zu. Bei der großen Gratulationsrunde im Hofgarten, auf der Wiese gegenüber dem Standesamt, standen Sekt und Häppchen bereit, während der Trauung bewacht von einem der zahllosen Cousins von Cem.
Außerdem gab es mit Helium gefüllte Luftballons, an denen die Gäste Karten mit guten Wünschen für das Brautpaar festbinden konnten. Auf Axels Kommando flog die rot-weiße Pracht in den blauen Sommerhimmel. Cems Mutter hoffte, sie würden es bis zum Bosporus schaffen. Ankes Mutter ging realistischer davon aus, die Ballons würden nicht mal ihre Heimat Rheinland-Pfalz erreichen, was sie auch deutlich hörbar verkündete. Cem wünschte die beiden rivalisierenden Mütter mittlerweile dorthin, wo der Pfeffer wuchs, sei es nun Koblenz oder Istanbul. Warum waren die beiden nur so kompliziert?
Cems Mutter hatte mit verkniffener Miene und einem strengen Blick in Richtung ihres Mannes den Alkohol abgelehnt, während man von Frau Hellmich trotz einer Sektflöte in der Hand und dem im Glas perlenden Stimmungsaufheller ohne Übertreibung behaupten konnte, dass es an diesem Tag überhaupt nichts gab, was ihr zusagte, weder der Schwiegersohn noch seine Familie, die anderen Gäste oder Ort und Zeit der Veranstaltung. Für ihr einziges Kind hatte sie sich etwas anderes vorgestellt als diesen Türken mit der Teddybärfigur und der Drei-Wetter-Taft-Frisur, die seine beginnende Glatze verdecken sollte. Dass der Sekt nicht lieblich genug war, fiel kaum noch ins Gewicht. Man hätte es sich denken können.
Otto stand mit seinem Glas in der einen Hand und einem Blatt Papier in der anderen etwas abseits und bewegte die Lippen. Nie wieder, so schwor er sich, würde er sich solch einen Job aufhalsen lassen. Hoffentlich tranken alle bald ihren Sekt aus und die lange Schlange der Gratulanten würde am Brautpaar vorbeidefiliert sein. Dann konnte endlich der Abtransport der Gäste zur Feierlocation, in der auch die freie Trauung stattfinden würde, beginnen. Und dann würde er es irgendwann hinter sich haben.
Seinen Job bereits erledigt hatte der vierjährige Julian Hill, der als Blumenkind Rosenblätter auf Anke und Cem geworfen hatte, als die das Standesamt verließen. Nur mit Mühe konnten seine Eltern Elisabeth und Christoph verhindern, dass er die Blätter und ein bisschen Straßenstaub wieder aufklaubte, um mit dem Vergnügen erneut zu beginnen. Christoph und Trauzeugin Luzie führten gemeinsam eine Rechtsanwaltskanzlei in der Carlstadt. Christoph und Elisabeth waren gute Freunde von Axel, Anke und Cem.
Jule Heine, Annas Tochter und Luzies und Christophs Referendarin, stellte fest, dass sich auf dem Rasen zwei Gruppen gebildet hatten, Cems große türkische Familie und ein paar Meter entfernt die deutschen Freunde des Paares, zu denen sich auch Ankes Mutter gesellt hatte. Entschlossen steuerte sie auf Cems Familie zu und plauderte mit seinen Geschwistern, Cousins und Cousinen. Jules Geschick war es zu verdanken, dass die beiden Gruppen schon nach kurzer Zeit zu einer großen, lachenden Einheit verschmolzen. Nur die beiden Mütter hielten sich ein wenig abseits, jede für sich natürlich.
Anke und Cem standen Hand in Hand inmitten ihrer Lieben und derer, die sie hatten einladen müssen, und ließen jetzt auch die für sie reservierten Ballons los. Sie blickten den Nachzüglern hinterher, einem roten und einem weißen.
»Was hast du dir gewünscht?«, fragte Anke.
»Ein schönes Leben mit dir und dass ein gewisser Teil unserer Gäste möglichst bald nach Hause geht.«
»Genau zwei«, bestätigte Anke mit Blick auf die Mütter.
Staatsanwältin Jenny Lichtenberg, die noch vor einem halben Jahr tieftraurig die Verlobung Ankes und Cems hatte zur Kenntnis nehmen müssen, beglückwünschte sich beim Anblick von Cems Mutter zu dessen Entscheidung für Anke und sah einem von Cems Cousins tief in die Augen.
Kapitel 1
Sonntag, 16. Juni
Es gab Tage, an denen Anna ihren Beruf mehr schätzte als an diesem Sonntag, den sie zum überwiegenden Teil in der Redaktion verbringen würde. Die ungeliebten Sonntagsdienste gingen gerecht reihum und heute war nun mal sie dran. Laut Dienstplan würde sie die nächsten Stunden zusammen mit ihrem Kollegen Hänschen Ahus verbringen und vermutlich auch mit ihrem Chef und On-Off-Freund Horst Wildermann, der wegen latenter Langeweile zuhause häufig auch an den Sonntagen, an denen er keinen Dienst hatte, in der Redaktion saß und Unruhe stiftete.
Anna fragte sich, wie es mit Horst wohl in dessen unmittelbar bevorstehendem Ruhestand weitergehen würde, wenn man ihm den wichtigsten Lebensinhalt, seinen Job, von einem Tag auf den anderen nehmen würde. Oder würde ihm Chefredakteur Jan Klas van Dyk als Abschiedsgeschenk symbolisch den Schlüssel zu den Redaktionsräumen überreichen, nachdem der Verlag ihn vergoldet hatte?
Falls das nicht vorgesehen wäre, würden die nächsten Monate schwierig werden für Horst und seine wenigen Freunde, zu denen sie sich zählte, auch wenn ihre Beziehung kompliziert war.
Anna war vor gut zwanzig Jahren Knall auf Fall von ihrem Mann Stanley im Stich gelassen worden, dem die Verantwortung für seine Frau und die beiden Töchter im Kita-Alter über den Kopf wuchs und den das Heimweh nach den USA gewaltig plagte. Anna musste also damals ebenso schnell wie dringend einen Job finden, der Geld einbrachte, der aber trotz der ständigen häuslichen Krisen wegen der kleinen Kinder nicht direkt in Gefahr geriet.
Horst hatte ihr damals eine Chance gegeben und war in den folgenden Jahren Annas Freund und Mentor geworden. Das hatte so lange ganz gut funktioniert, bis Anna vor zehn Jahren Hauptkommissar Tom Brecht von der Kripo Düsseldorf kennengelernt und sich in ihn verliebt hatte.
Horst hatte etwas später nicht zuletzt dank vieler Gläser Altbier, etlicher Schweinshaxen und unzähliger Zigaretten einen Herzinfarkt erlitten. Nach einer langen Rekonvaleszenz und einer ebenso langen Funkstille zwischen Anna und Horst hatten sich die beiden ausgesprochen. Dabei hatte Horst zugegeben, Anna immer schon geliebt zu haben, während Anna in ihm nur den guten Freund gesehen hatte.
Mittlerweile lebte sie glücklich mit Tom zusammen, so dass eine Beziehung mit Horst sowieso nicht in Frage gekommen wäre. Eine unbeschwerte Freundschaft hatte sich nach diesem Geständnis aber auch nicht mehr ergeben. Obwohl sich also Anna und Horst sehr mochten, glich ihre Beziehung seitdem einem Ritt auf einer Rasierklinge und hing vom Depressionsgrad ab, mit dem sich Horst gerade herumschlug. Es war und blieb schwierig für Anna und Horst, ganz zu schweigen von Tom.
Anna zog die Wohnungstür ins Schloss. Sie hörte, dass jemand von der dritten Etage aus die Treppe herunterkam, und blieb stehen. Es war Willi Wolf, einer der Bewohner der WG unter dem Dach. »Hallo Anna«, grüßte er und lief zusammen mit seiner Nachbarin weiter den restlichen Weg bis zur Haustür. Auf dem Bürgersteig fragte er: »In welche Richtung musst du?« Anna deutete nach links. »In die Redaktion. Ich habe Sonntagsdienst.«
»Ich auch. Dann können wir zusammen gehen«, freute sich Willi. Anna nickte lächelnd, obwohl sie wusste, dass Willi ganz sicher keinen Sonntagsdienst bei der Düsseldorfer Zeitung hatte. Aber was brachte schon das sture Beharren auf Tatsachen, wenn Willi die Wahrheit lieber in seinem Sinne auslegen wollte? Schließlich war Willi immer nett, meistens harmlos und ein besonders guter Freund von Annas Tochter Marie.
Also gingen Anna und Willi plaudernd den Weg durch die am Sonntagmorgen noch ziemlich leere Innenstadt, in der an jeder Ecke Willkommensbanner und Infoschilder für die Besucher der Fußballeuropameisterschaft angebracht waren. Vor zwei Tagen hatte die deutsche Mannschaft zusammen mit der schottischen das Turnier eröffnet. Seitdem eroberten die Fans der Tartan Army die Herzen der Deutschen, ganz besonders die der Altstadtwirte, deren Biervorräte bereits am ersten Abend zur Neige gegangen waren. An diesem Morgen waren jedoch noch keine Kilts auf den Straßen zu sehen.
Die wenigen Menschen, die ihnen begegneten, hatten entweder einen Hund an der Leine oder Stöpsel im Ohr und Laufschuhe an den Füßen. Um Anna zu unterhalten, gab Willi weitschweifig eine WG-Anekdote zum Besten.
Anna hörte nur mit halbem Ohr zu. Seit ihre Tochter Marie ihren langjährigen Partner Benedikt geheiratet und zusammen mit ihm aus der WG in eine gemeinsame Wohnung gezogen war, war ihre Verbindung zu den Nachbarn eine Etage über ihr nicht mehr ganz so eng wie früher. Neben Willi wohnten dort immer noch Funda, die mittlerweile Ärztin im praktischen Jahr war, und deren Freund Tim, der als Referendar an einem Düsseldorfer Gymnasium arbeitete. Ob das vierte Zimmer gerade vermietet war oder nicht, wusste sie nicht einmal.
Sie ließ also Willis Geschichte an sich vorüberrauschen, in denen die Begriffe Kühlschrank, Party, Apfelkorn und Scherben einen Klangbrei bildeten. Sie lächelte Willi weiter freundlich an, dachte dabei aber schon an die voraussichtlichen Themen des Sonntagsdienstes: Am folgenden Tag würde das erste Düsseldorfer Spiel der Fußball EM zwischen Österreich und Frankreich stattfinden. Fanmärsche zur Arena waren geplant. Spätestens dann würde auf den Straßen deutlich mehr los sein als jetzt.
Das Düsseldorfer Kinder- und Jugendhospiz Regenbogenland hatte zum Tag der offenen Tür eingeladen. Vielleicht wäre das etwas für Willi. Sie blickte ihren Begleiter prüfend von der Seite an. Er war für seine Verhältnisse mit einer schwarzen Hose und einem schwarzen T-Shirt relativ dezent gekleidet. Die Veranstalter im Hospiz würden seine unvermeidlichen roten Hosenträger ganz sicher nicht für einen Affront halten.
»Hast du schon einen Plan, was du heute machen möchtest?«, fragte sie ihn.
Willi nickte. »Ja, ich schreibe eine Reportage über die Unibibliothek. Das war ein Vorschlag von Herrn Hausmann.« Rainer Hausmann war Horsts Stellvertreter im Team der Lokalredaktion.
»Vielleicht könntest du stattdessen einen Termin für mich wahrnehmen?«, fragte Anna.
Willi liebte Termine. Da konnte er ganz offiziell als Mitarbeiter der Zeitung auftreten. Außerdem gab es für die Gäste häufig liebevoll zubereitete Buffets. Also stimmte er sofort hocherfreut zu.
Anna hoffte, ihn zum Regenbogenland schicken zu können, noch bevor Horst Wildermann den Sonntagsdienst durch seine Anwesenheit aufmischen und ganz sicher Einwände gegen Willis Einsatz erheben würde.
Willi war nämlich kein Journalist, sondern von Beruf Lebenskünstler. Vor ein paar Jahren hatte er sich durch einen klugen Schachzug in der WG eingenistet, angeblich nur für ein paar Tage, aus denen Wochen, dann Monate und schließlich Jahre geworden waren. Annas Tochter Marie hatte »den Parasiten« zunächst mit aller Kraft bekämpft, bis er ihr in einer Notsituation, in der sie sich total alleingelassen gefühlt hatte, mit Rat und Tat und Apfelkorn zur Seite gestanden hatte.
Seitdem ließ sie nichts mehr auf ihn kommen und hatte ihn seinerzeit nicht nur als Partner innerhalb der Wohngemeinschaft akzeptiert, sondern sich auch um seine brachliegende berufliche Karriere gekümmert, indem sie ihn gegen den bald bröckelnden Widerstand ihrer Mutter langsam aber sicher in die Lokalredaktion der DZ eingeschleust hatte, wo er mittlerweile als Universalgenie für diverse Hilfstätigkeiten eingesetzt wurde, von Botengängen über kleinere Reparaturen bis zur Versorgung des Teams mit Kaffee und Pizza, alles steuerlich legal auf der Basis einer geringfügigen Beschäftigung.
Willis Sternstunden waren aber seine Auftritte als freier Mitarbeiter der Redaktion. Wenn es einer seiner Berichte versehen mit seinem Namen in die Zeitung schaffte, schnitt er dieses literarische Kabinettstück aus und klebte es in einen Ordner, in dem er gern und häufig blätterte. Willi lebte noch weitgehend in einer analogen Welt.
Alle bis auf Horst standen Willi mittlerweile gleichgültig bis wohlwollend gegenüber. Und selbst Horst hatte nach etlichen unergiebigen Diskussionen akzeptieren müssen, in Willi seinen Meister gefunden zu haben. Er war wie eine in friedlicher Absicht gekommene Zecke, die sich festgebissen hatte und die man nun nicht mehr loswurde. Horst resignierte und mied ihn, so gut er konnte. Andere Redaktionsmitglieder bewunderten Willi in dieser Hinsicht und wünschten sich dessen Talent im Umgang mit dem Chef der Lokalredaktion.
»Geh schon mal ohne mich rein«, sagte Anna. »Ich muss noch kurz mit den Kollegen vom Sport abstimmen, wer was über die EM schreibt. Es soll ja nicht alles doppelt im Blatt stehen. Wir müssen den lokalen Aspekt vom sportlichen abgrenzen. Ich bin aber in ein paar Minuten da. Dann gebe ich dir die Einladung vom Regenbogenland.«
Willi nickte und verließ den Lift. Anna fuhr weiter nach oben und versuchte dabei, ruhig durchzuatmen. Ihre Angst vor Fahrstühlen würde sie wohl nie so ganz verlieren. Immerhin hatte sie ihre Psyche so weit im Griff, Aufzüge mittlerweile überhaupt betreten zu können. Aber irgendwann, da war sie sich sicher, würde sie in einem dieser Dinger steckenbleiben.
Anna hatte Glück, dass sich der netteste Kollege aus der Sportredaktion als ihr direkter Ansprechpartner erwies. Sie und Steffen Jasper hatten zwar nicht allzu häufig miteinander zu tun, aber wenn das mal der Fall war, klappte die Zusammenarbeit nicht nur, aber auch, wegen der gegenseitigen Sympathie hervorragend. An diesem Morgen hatten sie sich zwar fachlich schnell einigen können, waren dann aber bei einem Kaffee noch ein wenig auf die private Ebene gerutscht, so dass Anna nach einem Blick auf ihre Uhr erschrocken aufsprang und eilig die Treppen zur Lokalredaktion herunterlief.
Es war mittlerweile bereits kurz vor elf Uhr. Die Tür zur Redaktion war wie erwartet nicht mehr abgeschlossen, aber es herrschte absolute Stille, als sie das Großraumbüro betrat. Anna war überrascht. Hänschen Ahus und Willi mussten doch da sein und wer Hänschen kannte, wusste, dass Geräuschlosigkeit nicht gerade zu seinen Kernkompetenzen zählte. Ob Horst schon an seinem Arbeitsplatz saß, konnte man nie mit Sicherheit sagen. Er kam und ging, wann er wollte.
Sie lief zu ihrem Schreibtisch, auf den sie ihre riesige Handtasche warf, und rief nach Willi, aber es kam keine Antwort. Überrascht und bereits von einem winzigen Unbehagen beschlichen durchquerte sie das große Büro, das mit seinen Raumteilern und Pflanzkübeln - von den Innenarchitekten durchaus so beabsichtigt - ziemlich unübersichtlich war. Kein Horst, kein Willi und der Stille nach zu urteilen, offenbar auch kein Hänschen. Sie umrundete die Trennwand zu Hänschens Schreibtisch und gab einen leisen erschrockenen Laut von sich.
Ihr Kollege war offenbar über seinem Schreibtisch zusammengebrochen und lag dort bewegungslos mit dem Kopf auf der Arbeitsplatte. Anna rannte die letzten paar Meter und rief ängstlich seinen Namen. Hänschen regte sich nicht. Sie umrundete den Schreibtisch und sah entsetzt in geöffnete Augen in einem qualvoll verzerrten, geröteten Gesicht. Ihr war klar, dass er tot sein musste, aber dennoch rüttelte sie verzweifelt an seiner Schulter. Das konnte doch einfach nicht sein!
Sie hielt inne. In ihrem Kopf pulste es. Was jetzt? Ein Arzt und die Polizei. Oder nur ein Arzt? Sie rannte zurück zu ihrem Schreibtisch und versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Was tat man in so einer Situation? Handelte es sich um einen Herzinfarkt? Oder einen Mord? Wieso kam sie überhaupt auf so eine absurde Idee? Lag es vielleicht an ihrer Liaison mit einem Kripobeamten, dass sie mittlerweile überall Verbrechen witterte? Egal. Sie würde jetzt erst einmal Tom in seiner sonntäglichen Ruhe stören. Er würde wissen, was zu tun war in so einer Situation. Für sie war es das blanke Entsetzen, für ihn Routine.
Tom hörte sich Annas knappen Bericht an. »Du bist ganz sicher, dass er wirklich tot ist?«, wollte er wissen.
»Ganz sicher.«
»Hast du nach seinem Puls gesucht?«
»Nein, aber er rührt sich nicht. Und seine Augen sind offen und starren einen an. Sein Gesicht ist total verkrampft. So, als ob er gerade schreien wollte.«
»Ruf 112 an und schildere denen die Situation. Es wird auf jeden Fall eine Untersuchung durch die Polizei stattfinden, wenn jemand so plötzlich und auf so merkwürdige Art stirbt. Wie alt war dein Kollege?«
»Anfang fünfzig.«
»Ich rufe gleich mal Axel an und sage dem Bescheid. Meinen Nachfolger Otto Tjombe kenne ich bisher nur flüchtig, aber Axel wird ihn schon informieren, falls es sich um einen Fall für seine Truppe handeln sollte. Fass du bitte so wenig wie möglich in unmittelbarer Nähe des Toten an und pass auf, dass das auch sonst niemand tut. Dann wartest du auf den Notarzt.«
»Kannst du vielleicht herkommen?«
»Ungern. Ich will nicht, dass es so aussieht, als wollte ich den Kollegen ins Handwerk pfuschen. Ich achte aber auf mein Handy. Wenn die Situation für dich irgendwie schwierig wird, komme ich.«
Anna fand ihre Situation bereits jetzt schwierig genug und Toms Bedenken wegen möglicher Kompetenzprobleme völlig überflüssig. Aber jetzt ging es nicht um ihre Befindlichkeiten. Sie musste funktionieren. Sie beendete ihr Gespräch mit Tom und alarmierte die entsprechenden Einsatzkräfte.
Danach ging sie noch einmal zu Hänschens Schreibtisch, um sich zu vergewissern, dass er sich nicht doch bewegt hatte und dringend einen Arzt oder sonstige Hilfe brauchte. Tom hatte sie durch seine Fragen verunsichert.
Hänschen lag noch genauso da wie vor ein paar Minuten. Seine Augen starrten auf eine Zimmerpalme.
»Ach, Hänschen«, sagte Anna unglücklich. Egal wie er gestorben war, er würde ihr fehlen. Wie lange hatten sie zusammengearbeitet? So um die zwanzig Jahre mussten es sein.
Die Tür zur Redaktion ging auf und Horst stapfte herein. Anna sprang auf. Tränen liefen ihr übers Gesicht. Sie stolperte halb blind in Horsts Arme.
»Na, meine Schöne, hast du endlich begriffen, wer der Mann deines Lebens ist?«, spottete ihr edler Ritter, wurde aber sofort ernst, als er ihren verzweifelten Gesichtsausdruck bemerkte.
»Was ist passiert?«
»Hänschen ist tot. Er liegt da vorne.«
Horst befreite sich aus Annas Umklammerung, um selbst nachzuschauen, ob diese unerhörte Behauptung wirklich zutraf.
»Pass in seiner Nähe auf. Wir dürfen nichts anfassen. Ich habe eben mit Tom gesprochen. Und dann habe ich die 112 angerufen. Der Notarzt ist unterwegs.«
»Ich fasse nichts an«, versprach Horst und umrundete den Raumteiler, der Hänschens Schreibtisch vom Rest des Büros abschirmte. Entweder Anna war hysterisch oder Hänschen tot. Als Ressortchef sollte er wissen, was davon zutraf. Ein Blick auf Hänschens leblose Gestalt und sein im Todeskampf verzerrtes Gesicht gab ihm eine eindeutige Antwort.
»Setz dich erst mal hin, Mädchen«, sagte er zur zitternden Anna. Er holte ihr ein Glas Wasser und bewies wenigstens in dieser Krisensituation seine durchaus nicht immer vorhandene Führungsqualität. Er blieb neben ihr stehen und drückte sacht und beruhigend ihre Schulter. Dann rief er den Chefredakteur Jan Klas van Dyk an. Während er noch mit ihm sprach, hörte man eine laute Sirene, die immer näher kam und dann vor der Haustür erstarb. Anna raffte sich auf und lief zur Tür, um dem Team des Notarztes den Weg zu zeigen.
*
Axel hatte mit Luzie noch bei einem späten Frühstück gesessen, als ihn der Anruf seines ehemaligen Chefs aus der Sonntagsruhe riss. Er war ein wenig verwundert, als er im Display sah, wer ihn da zu erreichen versuchte. Er hatte sich sehr darüber gefreut, Tom und auch Anna vor einer Woche bei Ankes und Cems Hochzeit endlich mal wieder zu treffen, und natürlich hatten sich die beiden ehemaligen Kollegen versprochen, sich nicht wieder völlig aus den Augen zu verlieren, aber dass sich Tom schon so bald melden würde, damit hatte Axel nicht gerechnet.
»Das ist aber eine nette Überraschung«, stellte Axel erfreut fest. »Du machst dein Versprechen also wahr, Tom.«
»Sorry, Axel, es ist mir zwar beinahe peinlich, aber das hier ist leider kein Versuch, den Termin zu viert auszumachen, von dem wir letzte Woche gesprochen haben.«
Axel wurde ernst. »Was ist los?«
»Anna hat heute Morgen beim Sonntagsdienst in der Redaktion einen Kollegen tot aufgefunden. Der Mann ist noch gar nicht so alt und so wie Anna mir seinen Anblick geschildert hat, könnte an seinem Tod etwas verdächtig sein. Er ist offenbar mit schmerzverzerrtem Gesicht über seinem Schreibtisch zusammengebrochen. Ich habe keine Ahnung, ob das etwas für euch sein könnte, aber ich wollte dich auf jeden Fall schon mal vorwarnen. Anna hat den Notarzt gerufen und wartet jetzt auf ihn. Ich nehme an, von seiner Diagnose macht ihr euer weiteres Vorgehen abhängig.«
»Daran hat sich nichts geändert, seit du uns so schmählich im Stich gelassen hast.«
»Ich glaube, ihr habt es mit meinem Nachfolger auch ganz gut getroffen. Ich fand ihn bei den paar Gelegenheiten, bei denen ich ihn bisher gesehen habe, jedenfalls sehr umgänglich. Er hat eine tolle Traurede gehalten und ich war in diesem Moment sehr froh, nicht mehr Ankes Chef zu sein. Ich hätte das nicht halb so gut hinbekommen.«
»Hast du eigentlich seine Nummer? Vielleicht wäre es besser, du würdest ihn selbst informieren.«
»Nein, die habe ich nicht. Und ich will mich da auch nicht offiziell einmischen. Schließlich hat Anna den toten Kollegen gefunden. Und du weißt ja selbst aus Erfahrung, dass man den Finder einer verdächtig wirkenden Leiche ganz besonders unter die Lupe nehmen sollte. Das ist einfach eine blöde Konstellation. Informiere du deinen Chef. Du kannst ihm natürlich gern und jederzeit meine Nummer geben. Aber eigentlich habe ich mit der ganzen Angelegenheit überhaupt nichts zu tun.«
So wurde es dann beschlossen. Die beiden beendeten ihr Gespräch. Tom wartete unruhig, aber zur Untätigkeit verdammt darauf, dass Anna sich melden würde, während Axel Otto anrief, der gerade fluchend versuchte, eine neue Batterie in einer Uhr zu installieren, was für seine eher grobmotorisch angelegten Finger eine echte Herausforderung darstellte. Erleichtert griff er also zu seinem Handy und hörte sich Axels Erklärung, warum er den Chef am heiligen Sonntag störte, in aller Ruhe an.
»Jetzt warten wir erst einmal ab«, beschloss Otto. »Der Mann wäre nicht der erste Journalist, der mit fünfzig einen Herzinfarkt bekommt. Man kennt das ja: Alkohol, Zigaretten, Stress, Midlife-Crisis. Und das verkrampfte Gesicht kann einfach nur Ausdruck eines plötzlichen Schmerzes bei einem natürlichen Tod sein. Aber du hast natürlich recht. Maik soll ihn sich auf jeden Fall ansehen. Nach der Obduktion wissen wir dann mehr. Ist Cem schon zurück von der Hochzeitsreise? Wenn nicht, muss sich ein anderer Staatsanwalt darum kümmern.«
»Die beiden landen erst heute Abend«, sagte Axel. Anke und Cem hatten es vor ihrer einwöchigen Rundreise durch Irland tatsächlich geschafft, ihre Mütter abzuschütteln. So war es den beiden nicht gelungen, dem Paar auch noch den Honeymoon zu verderben. Am Montag würden Anke und Cem wieder ihren Dienst antreten: im Job und bei den Müttern. Das eine gern und das andere der Not und den Familientraditionen gehorchend. Aber noch waren sie vermutlich in Dublin.
»Ehrlich gesagt bin ich nicht wild auf ein Kapitalverbrechen, in das womöglich die Frau meines Vorgängers verwickelt ist«, sagte Otto.
»Mach dir da bloß keine Sorgen. Selbst wenn es Mord war, verdächtige ich Anna genau so wenig, wie ich Rita verdächtigen würde. Ich kenne beide und würde für sie meine Hand ins Feuer legen«, erwiderte Axel sehr bestimmt.
Otto schwieg diplomatisch. Bei seiner Frau Rita sah er das natürlich ganz genauso. Aber bei dieser Anna wusste er nicht, woran er war. Schließlich kannte er sie kaum. Auf Axels Menschenkenntnis konnte man sich normalerweise verlassen. Aber gleich die Hand ins Feuer legen? Blöd war die Situation auf jeden Fall.
*
»Diese Rötung im Gesicht gefällt mir ganz und gar nicht«, stellte der Notarzt fest, schnupperte noch einmal in Hänschens Nähe, und wandte sich an Horst: »Mir bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei zu verständigen. Ich kann keine eindeutig natürliche Todesursache bescheinigen.«
Horst nickte. Damit hatte er gerechnet.
»Ich bin schon hier«, sagte Axel wie der Igel beim Wettlauf mit dem Hasen. Er war gerade hereingekommen und hatte die letzten Sätze gehört. Er zückte seinen Dienstausweis und hielt ihn dem Arzt hin.
»Nach dieser ersten Diagnose von Ihnen übernehme ich und verständige den Polizeiarzt und ein paar Kollegen.«
Der Notarzt kritzelte ein paar Ziffern auf einen Zettel und bat Axel darum, dem Polizeiarzt seine Nummer zu geben. Er würde nämlich gern noch ein paar Worte mit ihm wechseln, hatte aber jetzt keine Zeit mehr, auf ihn zu warten. Axel versprach, die beiden miteinander ins Gespräch zu bringen. Dann drehte er sich um: »Hallo, Anna, du Arme, und hallo, Herr Wildermann. Axel kannte Horst Wildermann zwar nicht allzu gut, aber immerhin seit etlichen Jahren durch ihre gemeinsame Verbindung zu Anna.
»Können wir uns vielleicht in einem anderen Raum unterhalten? Solange wir nicht wissen, ob das hier ein Tatort ist, muss ich das ganze Büro sperren.«
»Das ist unmöglich«, sagte Horst in einem Ton, der jede weitere Diskussion verbot. »Wir müssen schließlich eine Zeitung machen und zwar eine mit Lokalteil. Und das unter erschwerten Bedingungen, weil einer derjenigen, der das hätte tun sollen, jetzt wohl leider nicht mehr dazu in der Lage ist.«
»Tut mir leid, Herr Wildermann. Ich sehe ein, dass Sie Ihre Arbeit machen müssen, aber ich muss das auch. Es ist doch sicher technisch möglich, von einem anderen Raum und Computer aus Ihren Job zu erledigen. Außerdem sollten Sie sich wohl besser nach Verstärkung aus dem Kollegenkreis umsehen. Ich werde ein längeres Gespräch sowohl mit Anna als auch mit Ihnen führen müssen. In der Zeit können Sie beide nicht arbeiten.«
Anna wandte sich an Horst: »Soweit ich weiß, sind Leonie und Sven zuhause. Ich könnte die beiden anrufen und fragen, ob sie einspringen.«
Horst nickte das ab und Anna berichtete in einem knappen Anruf bei Sven Ücker von Hänschens Tod und der Notwendigkeit einer Notbesetzung. Sven und Leo versprachen, in einer halben Stunde vor Ort zu sein. Anna sah auf ihrem Smartphone eine Nachricht von Tom, der ungeduldig nach weiteren Details fragte. Sie entschuldigte sich und verließ das Großraumbüro. Von der Damentoilette aus rief sie Tom an.
»Der Notarzt hat Hänschens Tod bestätigt und gesagt, er könne keinen Totenschein ausstellen, in dem eine natürliche Todesursache bescheinigt wird. Er scheint den Verdacht zu haben, dass etwas nicht stimmt, und hat sogar darum gebeten, dass Axel ihn mit dem Polizeiarzt zusammenbringt. Anscheinend will er ihm noch irgendwelche Hinweise geben. Axel ist da und sperrt die gesamte Lokalredaktion ab. Horst ist auf hundertachtzig. Leo und Sven machen sich gerade auf den Weg in die Redaktion, um uns zu helfen. Keine Ahnung, wie lange das heute hier dauert.«
»Wie geht es dir denn? Bist du sehr traurig über Hänschens Tod?«
Anna schwieg einen Moment, bevor sie antwortete: »Ehrlich gesagt habe ich den Verlust überhaupt noch nicht realisiert. Bis eben musste ich einfach nur funktionieren. Doch, ich werde ihn ganz sicher sehr vermissen. Er war zwar nicht meine engste Bezugsperson in der Redaktion, aber ich habe ungefähr zwanzig Jahre lang mit ihm zusammengearbeitet. Wir hatten eigentlich nie Probleme miteinander. Er hat immer gute Laune verbreitet, selbst wenn Horst gerade mal wieder seine unerträglichen Phasen hatte. Hänschen war ein netter Kerl, der für alle anderen immer da war. Deshalb kann ich ihn mir auch kaum als Opfer einer Gewalttat vorstellen. So ein Mord hat doch schließlich Gründe.«
»Meistens«, gab Tom zu. »Warten wir die Untersuchungen der Kollegen ab. Ich bleibe zuhause, damit ich notfalls schnell bei dir sein kann, obwohl ich nicht glaube, dass das nötig wird, wenn Axel vor Ort ist.«
Im Großraumbüro diskutierte Horst gerade mit Axel darüber, welche Gegenstände ins Ersatzbüro mitgenommen werden durften, damit die Herstellung der Montagausgabe nicht gefährdet wäre. Axel bestand darauf, auf sämtliche Papiere oder sonstige Materialien wenigstens einen kurzen Blick zu werfen. Diese Einmischung empfand Horst als unerträglichen Eingriff in das Grundrecht der Pressefreiheit und des Informantenschutzes. Diese Meinung vertrat er lautstark und kampfbereit. Anna stand unglücklich zwischen Horst und Axel und dachte dabei an Hänschen, auf den die beiden Kontrahenten nicht die geringste Rücksicht nahmen.
»Mal ehrlich, Horst«, warf sie ein, »wir haben doch an diesem Sonntag wirklich nichts zu verbergen. Wir haben ein paar Termine und vor allem die Fußballfans mit dem ganzen Drumherum wie dem Public Viewing und der Unterbringung der Teams. Das können wir doch alles offenlegen.«
»Es geht ums Prinzip«, murrte Horst.
»Es geht um Ihren toten Kollegen, Herr Wildermann. Falls ihn wirklich jemand auf dem Gewissen hat, sollten Sie doch der Erste sein, der von uns Erfolg bei der Suche nach dem Täter fordert«, konterte Axel.
»Ach, machen Sie doch, was Sie wollen«, sagte Horst.
Anna ging zu ihrem Schreibtisch und griff nach einem Korb mit Ausdrucken, Einladungen und Notizen. Sie sah ihn durch und stellte fest, dass sie damit für den Tag wohl zurechtkommen würde. Sie hielt ihn Axel entgegen, der entschuldigend lächelte und die Papiere relativ flüchtig durchsah. Nein, da war wirklich nichts Verdächtiges. Anna versuchte nicht etwa, Indizien vom Tatort zu entfernen.
»Solltest du etwas vergessen haben, kannst du natürlich jederzeit noch einmal an deinen Schreibtisch heran, Anna. Wir reden später. Ich warte erst einmal auf unseren Gerichtsmediziner.«
Anna und Horst verließen das Büro. Annas Blick fiel auf das oberste Blatt ihres Korbes, die Einladung des Regenbogenlandes. Wo war eigentlich Willi?
*
Otto hatte nach Axels Anruf natürlich doch keine Ruhe mehr gefunden. Obwohl er das eigentlich gar nicht vorgehabt hatte, saß er schon wenig später in seinem Auto und fuhr zur Düsseldorfer Zeitung. Wenn es sich wirklich um einen Fehlalarm handelte, dann hatte er seine Work-Life-Balance eben um ein paar Stunden betrogen. Aber sein Bauchgefühl, das ihn selten trog, hatte ganz klar dafür plädiert, so bald wie möglich vor Ort zu sein.
Immerhin hatte die Frau seines Vorgängers den Toten gefunden. Da war möglicherweise Fingerspitzengefühl gefragt, um im Präsidium nicht irgendwelche Irritationen aufkommen zu lassen. Gerade Axel saß da möglicherweise zwischen den Stühlen. Und den wollte er nun wirklich nicht im Stich lassen.
Otto fand mühelos einen Parkplatz an der Kö. Es war schließlich Sonntag. Die Läden waren geschlossen. Er studierte die Tafel neben dem Fahrstuhl des Pressehauses und fuhr hoch. Im Großraumbüro fand er Axel, der mit Latexhandschuhen an den Händen den Schreibtisch des Toten durchsuchte, wobei er darauf achtete, Hänschen nicht zu nahe zu kommen, um ihn nur ja nicht zu bewegen, bevor Maik ihn sich angesehen hatte.
»Na, hast du es zuhause doch nicht ausgehalten?«, fragte Axel.
Otto nickte: »Ich habe so ein Gefühl, als ob da etwas ganz und gar nicht stimmt.«
»Das hatte der Notarzt auch. Du bist also in bester Gesellschaft. Hoffentlich kommt Maik bald. Dann wissen wir hoffentlich mehr.«
»Hast du schon mit Anna geredet?«
»Nur kurz. Sie hat pünktlich den Sonntagsdienst angetreten, zu dem sie mit Hans Ahus eingeteilt war. Als sie hereinkam, war er bereits tot. Sie hat den Notfall gemeldet und kurz danach kam dann ihr Chef, Horst Wildermann, der heute zwar keinen Sonntagsdienst hat, aber trotzdem ständig an den Wochenenden in der Redaktion herumhängt. Offenbar hat er kein Privatleben.«
Dr. Maik Wessel, Polizeiarzt und Gerichtsmediziner, betrat den Raum. Axel winkte ihm zu.
»Ach, du bist auch schon hier, Otto? Ich dachte, ich soll erst mal schauen, was überhaupt los ist.«
»Morgen Maik«, sagte Otto. »Sorry, dass wir dir schon wieder das Wochenende verderben.«
»Irgendwas ist immer«, bestätigte der Arzt. »Gerade ihr wisst doch genau, dass eine schöne frische Leiche am Montagmittag mit eindeutiger Todesursache die Ausnahme ist. Entweder sie lassen sich an Feiertagen umbringen oder sie werden so spät gefunden, dass sie streng riechen und ganze Insektenkolonien ernähren.«
»Augen auf bei der Berufswahl«, bestätigte Axel und reichte ihm den Zettel mit der Telefonnummer des Notarztes. »Dein Kollege, der als Erster vor Ort war, bittet dich um Rückruf. Er scheint irgendwelche Informationen für dich zu haben.«
Maik zückte sein Handy und gab die Nummer ein. Er stellte sich kurz vor, lauschte den Worten des Notarztes und bedankte sich. Danach ging er zu Hänschen, betrachtete dessen Gesicht und beugte sich vor. Er sog die Luft tief durch die Nase ein und nickte dann. »Ein sehr aufmerksamer Kollege«, lobte er. »Es riecht nach Bittermandel. Und das rote Gesicht des Toten bestätigt den ersten Verdacht. Das sieht ganz nach einer Blausäurevergiftung aus. Zyankali«, fügte er hilfsbereit hinzu.
Axel schnupperte. »Ich rieche nichts.«
Auch Otto schüttelte den Kopf.
»Ein interessantes Phänomen«, bestätigte Maik. »Ungefähr die Hälfte der Menschheit riecht den Bittermandelgeruch nach einer Zyanidvergiftung und die andere Hälfte nicht. Das ist genetisch bedingt. Statistisch stimmt es hier auch. Zwei Ärzte riechen es, zwei Polizisten nicht, wobei die Berufswahl nichts damit zu tun hat.
Ich lasse ihn abholen und obduziere ihn gleich morgen, damit ihr sicher Bescheid wisst. Aber geht mal getrost von einer Vergiftung aus. Darauf verwette ich ein Ticket fürs Endspiel der EM, das ich allerdings leider nicht habe.«
»Kannst du seinen Todeszeitpunkt schon ein bisschen eingrenzen?«, fragte Otto.
»Allzu lange sitzt er noch nicht auf seiner Wolke. Jetzt ist es zwölf Uhr. Um zehn hat er sicher noch nicht ans Harfespielen gedacht. Wann ist er denn gefunden worden?«
»So gegen elf«, antwortete Axel.
»Passt«, bestätigte Maik. »Ich hätte auf den Zeitraum zwischen zehn und elf getippt. Ich kann hier jetzt nicht mehr viel tun. Ich bin dann mal weg und melde mich morgen bei euch unter anderem mit einer Analyse des Mageninhaltes. Frohes Schaffen, die Herren.«
»Hast du auf seinem Schreibtisch irgendetwas gefunden, was uns weiterhilft?«, fragte Otto Axel.
»Nein, nichts Eindeutiges. Er scheint vor seinem Tod noch nicht zum Arbeiten gekommen zu sein. Der Schreibtisch war ordentlich aufgeräumt. Sein Computer war noch nicht eingeschaltet. Es sieht so aus, als sei er ziemlich direkt nach seiner Ankunft gestorben.«
»Wenn bei seinem Tod Gift im Spiel war, muss er etwas zu sich genommen haben. Zyankali wirkt sofort. Hast du irgendwelche Verpackungen von Lebensmitteln gefunden?«
»In seinem Rucksack hatte er eine Bäckertüte mit zwei belegten Brötchen. Die waren aber noch nicht angebissen. In seinem Papierkorb habe ich eine Metallfolie gefunden, die wie eine Pralinenverpackung aussieht.«
»War sonst noch etwas im Papierkorb?«
»Nein, der ist offenbar nach dem letzten Arbeitstag geleert worden.«
»Also muss er die Praline heute ausgewickelt und gegessen haben.«
Axel nickte. Dafür sprach so einiges.
»Die Brötchen müssen trotzdem ins Labor«, bestimmte Otto. »Kann man anhand der Folie feststellen, um was für eine Praline es sich gehandelt hat?«
Axel glättete mit seinen behandschuhten Händen die kleine quadratische silberne Metallfolie, auf der ein goldener Radschläger zu erkennen war.
»Kennst du die Firma, die so etwas herstellt?«, fragte Otto.
Axel schüttelte den Kopf. »Nein, aber das Radschlägermotiv deutet doch auf Düsseldorf hin. Es sollte also keine Rocket Science sein, den Hersteller ausfindig zu machen.« Er schnappte sich sein Handy und googelte die Begriffe Radschläger und Pralinen. Dann hielt er Otto sein Smartphone entgegen, wies auf das Bild einer verpackten Praline und sagte: »Der Hersteller hat seinen Sitz in der Altstadt. Es handelt sich um eine Konditorei, in der man Torten und Süßigkeiten bekommt. Sie heißt Manubaktur. Heute hat sie geschlossen.«
»Sehr gut«, sagte Otto, »dann kann dort im Moment niemand vergiftete Pralinen kaufen. Morgen früh sollten wir vorsichtshalber so lange den Verkauf stoppen, bis uns Maik die entsprechenden Informationen geliefert hat.«
Der tote Redakteur wurde abtransportiert. Die Kollegen der Spurensicherung betraten das Großraumbüro. Nach einem kurzen Gespräch zwischen Otto und dem Einsatzleiter verließen er und Axel den Ort des Geschehens und gingen in das Büro, das sich die Lokalredaktion als Übergangsquartier ausgesucht hatte. Dort begrüßten sie die mittlerweile eingetroffenen Ersatzleute Sven Ücker und Leonie Schmitz-Talaue. Alle - auch Horst - hatten konzentriert gearbeitet, als die beiden Polizisten hereinkamen.
»Gibt es was Neues?«, fragte Horst.
Otto antwortete: »Ihr verstorbener Kollege wird gerade in die Gerichtsmedizin gebracht und dort morgen obduziert. Sie haben ja mitbekommen, dass schon der erste Arzt den Verdacht auf eine Vergiftung geäußert hat. Unser Gerichtsmediziner teilt diese Meinung. Morgen sind wir da schlauer. Die Spurensicherung durchsucht gerade das Großraumbüro, damit Sie dort morgen wieder arbeiten können.«
Horst brauste auf: »Was soll das heißen: Sie durchsucht das Großraumbüro? Ich protestiere aufs schärfste. Ich will nicht, dass dort in meinen Unterlagen rumgewühlt wird.«
»Wir haben bereits einen Durchsuchungsbeschluss erwirkt. Ihre Einwände sind also zwecklos, aber ich versichere Ihnen, dass meine Kollegen wirklich nur nach Spuren suchen, die uns einen Hinweis auf den plötzlichen Tod von Herrn Ahus liefern. Keiner von uns hat auch nur das geringste Interesse an Informationen aus der Lokalpolitik oder irgendwelchen anderen Themen, die Sie bearbeiten«, sagte Otto beruhigend. Horsts hochroter Kopf gefiel ihm nicht. Er legte keinen Wert auf einen weiteren Notarzteinsatz.
»Können Sie sich an die Spiegel-Affäre erinnern? Da wurde auch eine Redaktion durchsucht und danach wurden leitende Redakteure verhaftet«, donnerte Horst. Dabei konnten seine eigenen Erinnerungen an die Durchsuchung der Redaktionsräume des Politmagazins allenfalls sehr verschwommen sein. 1962 bestand Horsts Hauptbeschäftigung wahrscheinlich noch im Kuchenbacken im Sandkasten einer Kita, damals noch Kindergarten genannt. Der von ihm angesprochene Otto war erst zehn Jahre nach dem Politskandal und auf einem anderen Kontinent auf die Welt gekommen.
Otto verkniff sich die Bemerkung, Horst möge sich doch nicht lächerlich machen, und versprach stattdessen, sollte man versehentlich auf irgendwelche geheimen Recherchen der Redaktion stoßen, werde man diese augenblicklich wieder vergessen, sofern sie nichts mit dem Tod von Hänschen Ahus zu tun hatten.
Als Horst - ohne das wirklich zu meinen - behauptete, die Arbeit der Spurensicherung in diesem konkreten Fall sei reine Behördenwillkür, mischte sich Anna einmal mehr ein: »Jetzt ist es aber wirklich genug, Horst. Denk doch nur mal eine Sekunde lang an Hänschen. Er ist tot, Horst, und wir werden ihn alle schrecklich vermissen. Sein Lachen und seine Fröhlichkeit, seine Auftritte im Karneval und als Nikolaus im Kinderheim, seine blöden Witze und seinen schrecklichen Kaffee. Vielleicht hat ihn jemand brutal ermordet und du regst dich ernsthaft darüber auf, dass jemand einen Blick in deine Schreibtischschublade wirft.«
Tränen liefen über ihr Gesicht. Horst schwieg kleinlaut und Leonie nahm Anna in die Arme. Sven Ücker funkelte Horst wütend an, sagte aber nichts, um die Situation nicht noch mehr eskalieren zu lassen.
»Also, wenn es denn sein muss, machen Sie Ihre Arbeit, aber bringen Sie bloß nichts durcheinander. Und verpflichten Sie Ihre Leute zum Schweigen. Ich habe keine Lust, irgendwelche mühsam recherchierten Informationen demnächst in der Bildzeitung zu lesen.«
Axel lächelte Anna an. »Könntest du bitte kurz deine Arbeit unterbrechen und mit uns irgendwo in Ruhe reden?«
Anna stand auf und führte Axel und Otto in das Büro eines Kollegen vom Feuilleton, der an diesem Sonntag keinen Dienst hatte. Sie setzten sich.
»Meine Güte, ist das ein Choleriker«, stellte Otto genervt fest. »Wie halten Sie das nur mit dem aus? Oder waren wir auf Ankes und Cems Hochzeit nicht schon beim Du?«
Axel bestätigte sofort: »Ja, wir haben uns alle geduzt.«
»Dann bleiben wir jetzt auch dabei, wenn es dir recht ist, Anna.«
Anna nickte. »Ja klar. Wie kann ich euch helfen?«
»Erzähl uns einfach alles, was dir zu Hans Ahus einfällt. Außerdem wüssten wir gern, wer seine direkten Kollegen waren, also wer im Lokalressort arbeitet außer Herrn Wildermann und dir.«
Anna erzählte, Otto hörte aufmerksam zu und Axel machte Notizen: »Hans Ahus wurde von allen Hänschen genannt und das nicht ohne Grund. Er war einer der liebenswertesten und fröhlichsten Menschen, die ich kenne oder gekannt habe. Manchmal war er etwas laut, gelegentlich sogar ein bisschen peinlich, aber für mich war er sowas wie der Prototyp eines lebensfrohen Optimisten.
Wir haben Anfang des Jahres auf einer großen Party seinen 50. Geburtstag gefeiert. Ich habe insgesamt ungefähr zwanzig Jahre lang mit ihm zusammengearbeitet, und ich kann mich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem er nicht hilfsbereit, nett und freundlich war. Bitte denkt jetzt nicht, ich würde gerade in den Modus verfallen, nur ja nichts Schlechtes über Tote zu sagen. Hänschen war wirklich so.«
»Das heißt, er war dein allerbester Freund?«, warf Otto kritisch ein.
»Nein, das war er sicher nicht«, antwortete Anna. »Dafür war er mir nicht vielschichtig genug. Wenn man ihm etwas vorwerfen kann, war es vielleicht eine gewisse Oberflächlichkeit. Er hat hier einen sehr guten Job gemacht, aber seine Interessen haben sich auf ganz bestimmte Gebiete beschränkt. Um die hat er sich gekümmert, aber andere Themen, die mir zum Beispiel wichtig sind, waren ihm egal.«
»Versuch doch bitte mal, das mit ein paar Beispielen deutlicher zu machen. Was waren denn seine Lieblingsthemen?«
»Karneval, Brauchtum, seine Schützen, Heimatliebe, Fortuna Düsseldorf und natürlich sein Ehrenamt beim Verein ›Wünsch dir was‹. Schon allein für dieses Engagement musste man ihn in sein Herz schließen.«
»Wünsch dir was?«, fragte Otto.
»Das ist ein Verein, der letzte Wünsche todkranker Menschen erfüllt. Manchmal möchten sie einfach noch einmal an einen Ort gebracht werden, an dem sie früher mal sehr glücklich waren. Das ist dann nur ein Organisationsproblem. Manchmal steckt aber auch deutlich mehr dahinter, als die Beschaffung eines Transporters für Rollstühle. Vor ein paar Wochen hat Hänschen es zum Beispiel einem Zwölfjährigen ermöglicht, nicht nur bei einem Fortuna-Training zuzuschauen. Danach durfte er auch noch mit dem Team in die Kabine und hinterher hat ihn noch sein Lieblingsspieler zu einem Eis eingeladen.
Um solche Aktionen zu ermöglichen, hat Hänschen sämtliche Hebel in Bewegung gesetzt und all seine Beziehungen spielen lassen. Und das schon seit etlichen Jahren. Da spielt es dann kaum noch eine Rolle, dass er in anderer Hinsicht manchmal einfach die Augen verschlossen hat, ja geradezu ignorant war.«
»In welcher Hinsicht?«
»Umweltschutz und der Kampf gegen den Klimawandel gehörten nicht gerade zu seinen Steckenpferden. Er fuhr einen Youngtimer, eine richtige CO2-Schleuder, und das auch noch so schnell und so laut wie möglich. Wenn andere den Müll getrennt haben, hat er nur gelacht und diejenigen, die um die Erde besorgt sind, für hysterische Spinner gehalten. Für Politik hat er sich auch nicht besonders interessiert mit Ausnahme der Lokalpolitik, so lange die sich um die Förderung von Fußball und Brauchtum bemüht hat.
Das soll jetzt aber nicht zu negativ klingen. Er war wirklich ein besonders netter Mensch und immer zu allen freundlich und hilfsbereit. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er mir irgendwann mal eine Bitte abgeschlagen hätte. Er war immer bereit, den Dienst zu tauschen, wenn er einem anderen damit helfen konnte. Aber er hat halt nur innerhalb seines etwas begrenzten Kosmos gelebt und dazu gehörten eben keine Katastrophen jenseits von Kaarst oder Mettmann.«
»Wie war seine familiäre Situation und wer waren seine engsten Freunde?«
»Er war, seit ich ihn kenne, Single. Ich habe nie eine Partnerin oder einen Partner von ihm kennengelernt. Freunde und Bekannte hatte er wie Sand am Meer. Bei so viel Engagement in den verschiedenen Vereinen bleibt das ja nicht aus. Aber ich könnte euch keine Namen nennen.«
»Hatte er Familie?«
»Ja, einen Bruder. Der lebt in Düsseldorf. Irgendjemand muss ihn wohl benachrichtigen.«
»Hast du denn seine Kontaktdaten?«
Anna schüttelte den Kopf. Da konnte sie nicht helfen.
»Kommen wir zur Lokalredaktion. Wer waren seine Kollegen, was für Arbeitsschwerpunkte haben sie und wie standen sie zu ihm? Versuch doch bitte mal, die einzelnen Leute kurz und knapp zu charakterisieren. Wir werden zwar sicher noch mit allen sprechen, aber das würde uns beim Einstieg in den Fall sehr helfen«, bat Otto.
»Den Chef der Lokalredaktion, Horst Wildermann, habt ihr ja kennengelernt. Er ist 66 Jahre alt und wird am 1. Oktober in den Ruhestand geschickt. Wenn es nach ihm ginge, würde er noch mit achtzig auf seinem Chefsessel thronen. Aber da spielt der Verlag nicht mit. Der drohende Abschied vermiest Horst bereits seit ein paar Monaten die Laune. Zwischen Horst und Hänschen gab es keine großartigen Reibereien. Die beiden haben in friedlicher Koexistenz nebeneinander her gewurschtelt. Horst wusste, was er an Hänschen hatte und was nicht, und hat ihn entsprechend seinen Fähigkeiten und Interessen eingesetzt.
Horsts Nachfolger wird sein bisheriger Stellvertreter, Rainer Hausmann. Rainer ist Mitte fünfzig, Familienvater, im Gegensatz zu Horst ein Teamplayer, ruhig, besonnen und intelligent. Mit ihm wird hier ein ganz anderes Arbeitsklima herrschen. Rainer ist bisher in erster Linie für die Lokalpolitik zuständig. Sein großes Hobby ist das Zaubern. Er war sogar schon bei internationalen Wettbewerben, zum Beispiel in Las Vegas. Sein Verhältnis zu Hänschen war einwandfrei und unspektakulär.
Dann gibt es noch meine Kollegin Sibylle Müller, von allen Billy genannt. Sie und ich teilen uns eins der Großraumbüroabteile. Unsere Schreibtische stehen direkt nebeneinander. Billy ist einundfünfzig und momentan auch Single. Im Gegensatz zu Hänschen hat sie aber durchaus immer mal wieder auch längerfristige Beziehungen gehabt. Kinder hat sie nicht. Billy ist vorwiegend für die Sozialschnulzen zuständig, aber im Grunde eine Allrounderin der alten Schule. Auch mit ihr hatte Hänschen, soweit ich das beurteilen kann, nie Stress. Es war einfach kaum möglich, mit Hänschen aneinanderzugeraten.
Der nächste in der Hierarchie ist Sven Ücker. Er müsste sechsunddreißig oder siebenunddreißig sein. Er hat hier nach seinem Germanistikstudium volontiert, weil sein Vater den Verleger kannte. Am Anfang hat er uns alle in den Wahnsinn getrieben, weil er schon alles wusste und das auch noch besser. Irgendwie haben wir uns dann aber zusammengerauft und jetzt würde ich ihn durchaus als meinen Freund bezeichnen. Er ist auch mein Nachbar. Wir wohnen im selben Haus. Sven ist für die lokale Kultur zuständig, allerdings nicht ausschließlich. Es gibt praktisch keine Themen, an denen er nicht interessiert wäre.
Seine Partnerin, Leonie Schmitz-Talaue, hat auch bei uns volontiert und dabei eine Metamorphose von der Punkerin zur Redakteurin durchgemacht. In der Zeit dieser Verwandlung hat Horst sie gerne als einen seiner Sargnägel bezeichnet. Leo ist bei uns Kollegen bekannt für ihre hervorragend recherchierten Reportagen. Außerdem schreibt sie ganz wunderbar. Es ist ein Vergnügen, ihre Artikel zu lesen. Leo muss so Anfang dreißig sein. Sowohl sie als auch Sven hatten ein ganz entspanntes Verhältnis zu Hänschen.
Last but not least gibt es unsere Sekretärin Moni van Tekel. Sie ist so alt wie ich, also sechsundfünfzig. Ohne sie würde hier die ganze Organisation zusammenbrechen. Moni hat vor ein paar Jahren einen der Preisträger unseres Jubiläumsrätsels zum einhundertjährigen Bestehen der Zeitung geheiratet. Auch sie hatte wie alle anderen ein gutes Verhältnis zu Hänschen.«
»Sind das alle Kollegen?«, fragte Otto.
Anna dachte an Willi, beschloss aber aus Gründen, die sie selbst nicht so genau definieren konnte, die aber wohl etwas mit der drohenden Reaktion ihrer Tochter Marie zu tun hatten, Willi erst einmal außen vor zu lassen.
»Wir haben natürlich noch jede Menge freie Mitarbeiter, aber die sind nur unregelmäßig vor Ort und ich könnte euch auch keinen nennen, der Probleme mit Hänschen hatte.«
»Danke, Anna, du hast uns sehr geholfen. Wenn du möchtest, kannst du jetzt erst mal weiterarbeiten«, bot Otto an.
Anna stand auf und ging. In der Tür zögerte sie. Natürlich musste sie von Willi erzählen. Schließlich war er heute Morgen vor ihr in das Redaktionsbüro gegangen. Wahrscheinlich hatte er Hänschen tot aufgefunden und war dann panisch weggelaufen. Oder die Tür war zu der Zeit noch abgeschlossen und Willi war daraufhin wieder nach Hause gegangen. Oder aber Hänschen und Willi waren in einen verhängnisvollen Streit geraten. Sie rief sich zur Ordnung. Wenn das der Fall gewesen war, woher hatte Willi dann das Gift? So etwas schleppte man doch nicht prophylaktisch in der Hosentasche mit sich herum.
Um Zeit zu gewinnen, schloss sie zunächst einmal die Tür hinter sich und ging noch einmal auf die Damentoilette, um ungestört zu telefonieren. Statt Willis Stimme hörte sie nur eine Ansage. »Der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.«
Sie rief Tom an und schilderte ihm ihr Problem. Bevor sie Otto und Axel von Willis Verschwinden berichten wollte, bat sie ihn, in der WG nachzuschauen, ob Willi sich dort verkrochen hatte.
Tom seufzte nach einer kurzen fruchtlosen Diskussion. Seiner Meinung nach hätte Anna den Ermittlern längst berichten müssen, dass sie am Morgen nicht allein in die Redaktion gegangen war. Er ließ sich aber von ihr breitschlagen und klingelte ein paar Minuten später an der WG-Tür, eine Etage über der Wohnung, in der Anna und er lebten.
Funda öffnete und klopfte auf Toms Bitte hin an Willis Zimmertür. Als keine Reaktion kam, öffneten sie die Tür und stellten fest, dass Willi nicht da war. Tom bedankte sich und rief Anna zurück. Anna versprach ihm, jetzt aber wirklich ohne weitere Verzögerung Otto oder Axel über Willi zu informieren. Sie ging zurück in das Büro, in dem sie zuvor mit Otto und Axel gesprochen hatte. Dort saß gerade Horst, dem man ansah, dass ihm die Befragung wenig Vergnügen bereitete. Otto blickte Anna überrascht an.
»Ich habe vergessen, etwas zu erwähnen«, murmelte sie unglücklich. Axel stand nach einem kurzen Blickwechsel mit Otto auf und folgte ihr auf den Flur, damit Otto sich in Ruhe weiter Horsts mit Spitzen gespickte Aussage anhören konnte.
»Ich bin heute Morgen nicht allein in die Redaktion gegangen, sondern zusammen mit Willi Wolf, einem freien Mitarbeiter. Er wohnt bei uns im Haus. Ich war allerdings zuerst noch kurz bei den Kollegen vom Sport. Willi ist schon in die Lokalredaktion vorausgegangen. Wegen Hänschens Tod und der ganzen Aufregung habe ich ihn dann total vergessen. Erst vor ein paar Minuten habe ich wieder an ihn gedacht. Ich habe versucht, ihn telefonisch zu erreichen. Sein Handy ist aber ausgeschaltet oder der Akku ist leer. Tom hat eben bei ihm geklingelt. Zuhause ist er auch nicht. Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.«
»Merkwürdig«, stellte Axel fest. »Ist das etwa Maries Willi? Ich meine, ist das der komische Kerl, der ihr so am Herzen liegt, seit er sie bei Jules Verschwinden damals so unterstützt hat?«
»Genau der.«
Axel sah Anna so streng an, wie Axel ausgerechnet Anna, die er so sehr mochte, überhaupt ansehen konnte. Das war nicht besonders streng, aber die ohnehin verunsicherte Anna wäre am liebsten im Erdboden versunken. »Gut, dass es dir noch eingefallen ist«, sagte er in bemüht neutralem Tonfall.
Anna antwortete entschuldigend: »Weißt du, Willi hatte wirklich kein leichtes Leben. Ich wette, er hat Hänschen gefunden und ist dann vor Angst, dass man ihm dessen Tod irgendwie in die Schuhe schieben könnte, panisch geflohen und verkriecht sich jetzt. Ich habe keine Ahnung, wo er sein könnte. Aber er hat ihn ganz bestimmt nicht vergiftet, nicht mal mit Apfelkorn. Das ist Willis einziges Mordwerkzeug und Trostspender in einem. Frag Marie. Sie kann ein Lied davon singen.«
Axel erinnerte sich an eine Party am Rheinufer vor ein paar Jahren mit dem ganzen Heine-Clan, Teilen der Redaktion und eben Willi und seinem Apfelkorn. Ihn schauderte, wenn er an den Morgen danach dachte, der ihm noch durchaus in schlechtester Erinnerung war.
»Danke, Anna«, sagte er. »Wir kümmern uns um Willi.«
Anna nickte betreten. Marie würde ihr die Hölle heißmachen, weil sie den armen unschuldigen Willi den Hyänen der Kripo ausgeliefert hatte. Aber welche Wahl hatte sie denn gehabt?
*
Inzwischen mühte sich Otto mit dem widerspenstigen Horst Wildermann ab, der seine an diesem Vormittag wegen des schrecklichen Ereignisses durchaus vorhandene Verunsicherung hinter möglichst ablehnendem und aggressivem Verhalten zu verstecken versuchte. Bisher war es ihm gelungen, seine Fassade aufrechtzuerhalten, indem er verbal vorsichtshalber in sämtliche Richtungen um sich schlug.
Langsam aber sickerte der Gedanke in sein Bewusstsein, dass Hänschen wirklich tot war, dass er nie mehr dessen lautes und fröhliches »Moinsen« hören würde, das jeden Morgen durch das Großraumbüro gedröhnt hatte. Dieser Verlust machte Horst gleichermaßen traurig und wütend. Und mit dieser Trauer und Wut wäre er jetzt gern erst mal allein fertiggeworden. Stattdessen musste er diesem Kripobeamten Rede und Antwort stehen, und zwar ausgerechnet dem, der inzwischen Tom Brechts Job ausübte. Tom Brecht hatte ihm Anna weggenommen. Und Anna war diejenige, die Hänschen gefunden hatte. So schloss sich der Kreis.
»Herr Wildermann?«, fragte Otto. »Hören Sie mir überhaupt zu?«
»Ja natürlich«, behauptete Horst und riss sich zusammen. Wenn er die Fragen nicht endlich beantwortete, würde er diesen Kerl überhaupt nicht mehr los. Und irgendjemand musste sich schließlich um die morgige Ausgabe der Zeitung kümmern. Er rekapitulierte: »Sie haben mich gefragt, woran Hänschen Ahus gerade gearbeitet hat. Ich habe nachgedacht: Es gab keine konkrete Story, an der er momentan dran war.
Sein Fachgebiet waren Vereine, das Brauchtum und entsprechende Veranstaltungen. Wie Sie wissen, ist die Karnevalssession vorbei und die meisten Schützen haben ihren großen Auftritt wegen der Rheinkirmes erst im Juli. Im Moment war Hans Ahus also für das Tagesgeschäft zuständig. Jeder von uns hat Fachgebiete und Lieblingsthemen, aber im Prinzip müssen innerhalb der Lokalredaktion alle alles machen. Wir beackern das breiteste Spektrum sämtlicher Ressorts. Wie wir Übrigen war er also ein Allrounder.«
»Gerade im Karneval und auch bei den Schützen gibt es doch bekanntermaßen Querelen und Reibereien zwischen den einzelnen Vereinen. Als Berichterstatter und Insider ist es fast unmöglich, in diesen Kreisen ausschließlich Freunde zu haben. Das muss doch auch Herrn Ahus so gegangen sein. Hat er sich denn nie mit jemandem angelegt? Hat sich nie irgendwer über seine Berichterstattung beschwert?«
»Gerade Sie und ich als relativ meinungsstarke Menschen werden das wahrscheinlich nicht nachvollziehen können, Herr Tjombe, aber Hänschen war wirklich Everybody's Darling. Er war zu jedem gleichermaßen nett, hatte immer gute Laune und hielt sich aus Streitigkeiten innerhalb der Vereine heraus. Genau solch ein neutrales Verhalten verlangt unser Job. So sollte man als Journalist ticken.«
Otto sah Horst betont ungläubig an.
»Sie brauchen gar nicht so überheblich zu tun, Herr Kommissar. Ich weiß genau, was Sie sagen wollen. So ein sonniges Gemüt ist leider nicht jedem von uns gegeben, auch mir nicht. Ich sage ja auch nur, wie man sich im Idealfall verhalten sollte. Und Hänschen Ahus kam diesem Ideal relativ nahe.«
»Ein fehlerfreier Journalist?«
»Nein, natürlich nicht. Wenn man wie Hänschen zu nett zu allen ist, fehlt einem nämlich der Biss, unangenehme Dinge aufzudecken. Hans Ahus war kein investigativer Enthüllungsjournalist, sondern eher ein Hofberichterstatter. Er war nicht der Terrier, der solange buddelt, bis er die unangenehmsten Tatsachen ans Tageslicht befördert hat. Für solche Jobs konnte ich ihn nicht einsetzen.
Aber glauben Sie mir, ich kannte seine Stärken und Schwächen und ich kann nur sagen, ich habe sehr gerne mit ihm zusammengearbeitet. Nicht jeder ist ein Alphatier und das ist auch gut so.«
Ein Mitarbeiter der Spurensicherung klopfte an und fragte, ob er einen der Ermittler kurz stören könne, man habe etwas entdeckt, was vielleicht von Interesse sei. Axel stand sofort auf und folgte ihm ins Großraumbüro. Dort deutete ein anderer Mann im weißen Schutzanzug auf die Tür von Horsts Glaskasten, in dem er zumindest akustisch von den übrigen abgetrennt normalerweise seine Arbeit tat.
Axel und sein Kollege traten ein. Auf Horsts Schreibtisch lag eine silberne Packung Pralinen, aufs edelste verziert durch einen goldenen Radschläger.
»Wenn ich den Doc richtig verstanden habe, besteht doch wohl der Verdacht, dass der Tote möglicherweise durch solch eine Praline vergiftet worden ist«, sagte der Mann von der Spurensicherung.
»Das ist richtig«, bestätigte Axel. »Ist die Packung angebrochen?« Der Kollege öffnete die quadratische Pralinenpackung, die, wie man den Aussparungen entnehmen konnte, ursprünglich einmal 16 Pralinen enthalten hatte. Davon fehlten vier. Jede Praline war in Silberfolie eingewickelt, auf der der goldene Radschläger zu sehen war.
»Die Pralinen müssen unbedingt ins Labor«, sagte Axel. »Wo genau habt ihr sie gefunden?«
»In dieser Schreibtischschublade.«
»Vielen Dank. Habt ihr sonst noch Treffer gelandet?«
Axels Gesprächspartner schüttelte den Kopf. »Wir nehmen natürlich sämtliche Lebensmittel mit, die wir in der Teeküche und in den Schreibtischen gefunden haben, aber es ist nichts Auffälliges dabei.«
Axel ging zurück und bat Otto für einen Moment auf den Flur, wo er ihm von der Entdeckung der Spurensicherung berichtete. Zurück im Büro sahen sie, dass Horst ungeduldig mit den Fingern auf dem Schreibtisch des abwesenden Kollegen vom Feuilleton herumtrommelte. Otto überlegte kurz und beschloss, Horst Wildermann sofort mit dem Fund zu konfrontieren, der alle möglichen Spekulationen in Gang setzte und alles oder nichts bedeuten konnte.
»Herr Wildermann, die Kollegen haben in Ihrer Schreibtischschublade eine angebrochene Pralinenschachtel gefunden. Die Pralinen sind einzeln in Folie verpackt, auf der Radschläger zu sehen sind. Man kann sie also nicht mit anderen Pralinen verwechseln.
Eine dieser Einzelverpackungen haben wir in Herrn Ahus' Papierkorb gefunden. Wir haben den Verdacht, dass er mit dieser Praline das Gift zu sich genommen haben könnte, von dem unser Arzt vermutet, es könne für seinen Tod verantwortlich sein. Morgen nach der Obduktion wissen wir in diesem Punkt Genaueres. Dass wir die gleichen Pralinen bei Ihnen gefunden haben, wirft natürlich Fragen auf. Können Sie sich daran erinnern, wie viele Pralinen aus der Packung Sie schon gegessen haben?«
Horst blieb für seine Verhältnisse erstaunlich ruhig und schluckte sämtliche Einwände gegen das Herumwühlen in seiner Privatsphäre, sprich seiner Schublade, tapfer herunter. »Ja, das kann ich tatsächlich. Es müssten exakt drei fehlen.«
»Woher wissen Sie das so genau?«, fragte Otto, der sich kaum vorstellen konnte, dass es Menschen gab, die den Konsum von Pralinen kontrollieren und sogar dosieren konnten, wenn eine Packung erst einmal geöffnet war.
»Ich habe die Packung von Anna Heine geschenkt bekommen. Ich hatte ihr einen kleinen Gefallen getan, für den sie sich unbedingt bedanken wollte, was natürlich Unsinn war, aber sie sah es nun einmal so.
Ich habe vor ein paar Jahren einen schweren Herzinfarkt nur knapp überlebt und seitdem meine Lebensgewohnheiten stark verändert. Unter anderem ernähre ich mich so gesund wie möglich. Also habe ich mir jeden Tag nur genau eine Praline gegönnt, und zwar immer abends, bevor ich die Redaktion verlassen habe. Und weil Anna mir die Packung am Mittwoch geschenkt hat, muss ich drei Pralinen gegessen haben, und zwar am Mittwoch, Donnerstag und Freitag. Am Samstag war ich nicht in der Redaktion. Meine heutige Praline werden Sie mir unter diesen Umständen ja wahrscheinlich nicht mehr zugestehen.«
»Es fehlen vier Pralinen«, stellte Axel klar. »Haben Sie vielleicht eine davon Herrn Ahus gegeben?«
Horst schüttelte den Kopf. »Jemand muss sich bereits vor der Polizei an meinem Schreibtisch zu schaffen gemacht haben, entweder Hänschen oder sein Mörder, falls Sie recht haben und das Gift wirklich in der Praline war.«
»Trauen Sie es denn Herrn Ahus zu, aus anderer Leute Schubladen Süßigkeiten zu mopsen?«
Horst nickte. »Durchaus. Andererseits war er immer derjenige, der mit Bonbontüten durch die ganze Redaktion lief und jedem davon anbot. Neulich hat er für die ganze Mannschaft Eis gekauft. Allerdings hätte ich vermutet, dass mein Schreibtisch für ihn tabu wäre. Es ist ziemlich unverschämt, in meine Privatsphäre einzudringen und sich einfach an meinen Süßigkeiten zu bedienen.«
»Vielleicht hat er Ihnen ja mit dieser Unverschämtheit das Leben gerettet«, sagte Axel trocken.
Horst starrte ihn ungläubig an.
*
Anna stapfte müde durch den Düsseldorfer Regen. Ein heftiger Schauer machte ihren Heimweg gerade ziemlich ungemütlich. Irgendwie wollte es in diesem Jahr nicht richtig Sommer werden. Der Tag - Hänschens Tod, die Ermittlungen der Polizei und der Sonntagsdienst - hatte sie deprimiert und erschöpft. Außerdem machte sie sich Sorgen um Willi. Wo steckte der bloß und warum zum Teufel hatte er sich aus dem Staub gemacht?
Sie war froh, ihren Schlüssel ins Schloss der Haustür stecken zu können und hoffte auf einen ruhigen Abend zusammen mit Tom. Vielleicht erwartete sie ja sogar ein bereits fertiges Abendessen. Das wäre einfach wunderbar. Die Ereignisse des Tages hatten dazu geführt, dass alles andere wichtiger gewesen war als eine Mittagspause. Ihr Magen knurrte. Sie hatte Kopfschmerzen und spürte, dass ihr die Elastizität ihrer jüngeren Jahre an Tagen wie diesen abhandenkam. Aber glücklicherweise waren ja solche extremen Tage die Ausnahme.
Sie umkurvte den Rollator, auf den der Hauseigentümer Egidius Knecht mittlerweile angewiesen war und der den Flur jetzt deutlich unzugänglicher machte, als es die Fahrräder ihrer Töchter oder der Kinderwagen einer Nachbarin jemals vermocht hatten.
Wie viele Diskussionen, lautstarke Auseinandersetzungen und Kündigungsandrohungen hatte es im Laufe der fast fünfundzwanzig Jahre, in denen sie und Egidius unter einem - nämlich seinem - Dach lebten, wohl schon gegeben um diesen hässlichen Hausflur? Mittlerweile lebten ihre Töchter Marie und Jule längst in eigenen Wohnungen und hatten ihre Fahrräder mitgenommen. Tom und sie fuhren nur selten Rad. Sie waren überwiegend als Fußgänger unterwegs. Also bildete Egidius' Rollator mittlerweile das einzige Verkehrshindernis.
Abgesehen von ihm selbst natürlich. Er war zwar nicht mehr gut zu Fuß, aber sein Gehör funktionierte immer noch tadellos, besonders wenn in einer der Wohnungen die Musik einmal ein achtel Dezibel über die von Egidius vorgeschriebene Zimmerlautstärke hinausging.
Das Knarren von Treppenstufen hörte er bereits, wenn es noch eine Etage entfernt war, und konnte sich daher für seine Verhältnisse blitzschnell - in seiner Wohnung war ein weiterer Rollator im Einsatz - hinter der Tür positionieren, wenn ein potenzieller Gesprächspartner versuchte, an seiner Wohnungstür vorbeizuhuschen.
Auch heute gelang es Anna nicht, ihm zu entkommen. Er riss die Wohnungstür auf und brüllte in seiner üblichen Lautstärke - also deutlich jenseits des von ihm erlaubten Geräuschpegels - aber immerhin mit einem pseudofreundlichen Lächeln im Gesicht: »Ach, die Frau Heine. Haben Sie etwa bei diesem Mistwetter einen Spaziergang gemacht? Und dann auch noch alleine? Hatte der Herr Gemahl keine Lust? Ach pardon, Sie sind ja gar nicht verheiratet. Ich vergesse das immer wieder. Zu meiner Zeit war so etwas noch nicht so ganz das Wahre. Aber ich nehme daran natürlich keinen Anstoß. Ich bin ja ein modern denkender Mensch. Jedem das Seine, sage ich immer.«
Anna beschloss mehr müde als friedfertig, den letzten Satz zu überhören. Bei Egidius konnte man einfach nicht sicher sein, ob er dessen Bedeutung als Eingangsspruch des KZs Buchenwald kannte und bewusst provozieren wollte, oder ob er sich vielmehr als toleranten und liberalen Humanisten sah, der jeden so leben lassen wollte, wie er mochte. Sie zwang sich zu einem mindestens ebenso unaufrichtigen Gegenlächeln und sagte: »Guten Abend, Herr Knecht. Kann ich etwas für Sie tun? Oder warum haben Sie mich abgepasst?«
»Ich habe Sie doch nicht abgepasst. Ich war rein zufällig im Flur, als ich Sie kommen hörte. Ich wollte Sie nur begrüßen, wie man das unter Nachbarn so macht.«
»Dann wünsche ich Ihnen noch einen besonders schönen Abend, Herr Knecht. Ich bin erleichtert, dass es heute mal keine Beschwerden gibt.«
»Nicht so schnell, Frau Heine. Sie sind doch bei der Zeitung. Da kommen Sie doch bestimmt an Karten für die Euro. Einer meiner Schützenbrüder hat mich gefragt und da habe ich sofort an Sie gedacht und ihm praktisch schon zugesagt. Das Spiel ist ihm egal. Hauptsache die Atmosphäre in der Arena stimmt.«
»Tut mir leid, Herr Knecht. Ich kann nicht mal meinem Schwiegersohn Karten besorgen. Der hat mich auch schon gefragt. Aber leider arbeite ich nicht in der Sportredaktion. Apropos arbeiten. Ich habe einen langen Arbeitstag hinter mir.«
Anna winkte Egidius einen kurzen Gruß zu und nahm schnell und entschlossen die Treppe zwischen erster und zweiter Etage in Angriff. Egidius blickte ihr kopfschüttelnd hinterher. Immer in Eile, diese jungen Leute von heute, dachte er.
Anna dagegen fühlte sich alt und müde, als sie, endlich in ihrer Wohnung angekommen, ihre Schuhe auszog, sich ein Glas kaltes Mineralwasser eingoss und sich dann auf die Suche nach Tom machte. Sie fand ihn im Wohnzimmer auf der Couch liegend, wo er mit geschlossenen Augen und leicht geöffnetem Mund mit äußerstem Interesse dem Spiel Sloweniens gegen Dänemark folgte.
Als sie ins Zimmer kam, schreckte er hoch, rieb sich die Augen, stand dann aber auf und zog sie an sich. »Du Arme«, sagte er, »du musst ja ganz erledigt sein. Hast du Hunger? Ich habe etwas zu essen vorbereitet.« Er ging in die Küche voraus und schaltete die Mikrowelle ein.
»Was hat sich denn noch getan?«, fragte er, während ein inzwischen kalt gewordener Nudelauflauf wieder auf Betriebstemperatur gebracht wurde.
»Ich habe kurz vor Feierabend ein paar Minuten mit Axel sprechen können. Man hat ihm aber deutlich angemerkt, wie ungern er mit mir in dieser Situation geredet hat. Einerseits bin ich die Frau seines ehemaligen Chefs, der er wahrscheinlich grundsätzlich vertraut, aber andererseits war ich am Tatort, habe ›angeblich‹ meinen gerade erst verstorbenen Kollegen gefunden und bin daher eindeutig verdächtig. Und obendrein bin ich auch noch von der Presse. Aber er hat mir trotzdem ein paar Informationsbrocken hingeworfen.«
Die Mikrowelle machte »pling«. Tom stellte die dampfende Glasschüssel auf den Küchentisch. Anna griff schnell nach einem Untersetzer und verbrannte sich beim Versuch, ihn unter die Schüssel zu schieben, die Hand. Das war die Krönung dieses an sich schon kaum noch negativ zu toppenden Tages.
Immerhin war der Auflauf sterneverdächtig und nach einem Glas Pinot war sie bereit, das Wenige, das sie wusste, mit Tom zu teilen.
»Maik Wessel ist immer noch der zuständige Gerichtsmediziner. Er wird Hänschen morgen obduzieren. Er geht laut Axel von einer Zyankalivergiftung aus. Hänschen hat wohl eine Praline aus Horsts Beständen gegessen, die möglicherweise das Gift enthalten hat. Bislang sind das aber alles nur Spekulationen.«
»Interessant«, stellte Tom fest und brachte das Problem sofort auf den Punkt: »Da fragt man sich, wer wohl das Opfer sein sollte: Horst oder Hänschen? Wenn man wie wir beide kennt, kann man eigentlich nur zu dem Schluss kommen, dass jemand Horst an den Kragen wollte. Hänschen war der harmloseste und netteste Mensch auf dieser Erde, was man von Horst nun wirklich nicht behaupten kann. Haben die Kollegen schon einen Verdacht, wer es getan haben könnte?«
Anna schüttelte den Kopf. »Nicht wirklich. Jedenfalls hat mir Axel nichts gesagt. Aber ich mache mir Sorgen um Willi. Oder ist er mittlerweile aufgetaucht?«
»Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass Willi Hänschen umgebracht hat? Das wäre ja so, als ob Frodo Beutlin Bambi getötet hätte.«
»Nein, natürlich nicht. Aber wo zum Teufel steckt er? Dass er in der ersten Panik weggelaufen ist, kann ich ja noch verstehen, aber mittlerweile müsste er doch wieder zur Vernunft gekommen sein.«
Es klingelte. Tom ging zur Tür und stand seinen Nachbarn aus der Parterrewohnung, Annas Kollegen Leonie und Sven, gegenüber. Sven hielt ihm eine Flasche Rotwein entgegen, einen Chateau Migraine von 2008 in einem Goldnetz, den offenbar ein wohlmeinender Gast zu irgendeinem Anlass mitgebracht und der seitdem in der Speisekammer auf dem Regal ganz unten ein unbeachtetes Dasein gefristet hatte.
»Wir dachten, Anna könnte vielleicht einen Schluck vertragen«, behauptete Sven, darum bemüht, seinem ungebetenen Auftauchen ein karitatives Mäntelchen umzuhängen.
Tom seufzte. Es sah gar nicht gut aus für den ruhigen Abend, den Anna so bitter nötig hatte. Aber er gab noch nicht auf. Entschlossen suchte er nach einer Formulierung, die die netten Nachbarn und Freunde nicht vor den Kopf stoßen, ihnen aber dennoch unmissverständlich klar machen würde, dass ihr Besuch an jedem anderen Abend erwünschter wäre. Er öffnete gerade den Mund für eine höfliche Absage, als er schnelle Schritte auf der Treppe hörte. Ebenfalls nicht zu überhören waren die Stimmen seiner beiden Stieftöchter Jule und Marie, deren Gespräch jedoch auf Höhe der ersten Etage jäh verstummte, als sich eine Tür öffnete.
»Hallo, Herr Knecht. Schön, Sie mal wieder zu sehen. Ich hoffe, es geht Ihnen gut. Leider haben wir heute überhaupt keine Zeit. Also noch einen schönen Abend.« Das war eindeutig die konziliante Jule, die die jahrzehntelangen Querelen mit Egidius bereits freundlich vergessen zu haben schien, während die konsequente Marie dem Fleisch gewordenen Albtraum ihrer Kinder- und Jugendjahre - wenn überhaupt - nur ein kurzes geräuschloses Nicken gönnte. Die beiden bogen im Treppenhaus um die Ecke, gefolgt von Maries Mann Benedikt.
Tom schloss den Mund wieder. Gegen so eine Invasion war selbst er machtlos. Er nahm Sven die angestaubte Flasche Rotwein aus der Hand und bat ihn und Leonie herein. Jule und Marie folgten ihnen in die Wohnung und umarmten Tom. Benedikt klopfte ihm freundschaftlich auf den Oberarm.
Anna kam aus der Küche, winkte ihrem ruhigen Regenerationsabend noch einmal kurz zum Abschied hinterher und begrüßte lächelnd ihre Töchter. So müde sie auch war, freute sie sich jetzt doch auf den Abend. Seit dem Auszug der Mädchen hatte sie immer das Gefühl, man sehe sich viel zu selten. Sven und Leonie gehörten fast zur Familie, also waren sie beinahe ebenso willkommen.
»Ich fürchte, wir haben nicht genug zu essen für alle«, stellte Anna besorgt fest.
»Entspann dich, Mama. Wir haben alle gegessen«, antwortete Marie. »Und wenn noch jemand Hunger haben sollte, dann kann er beim Lieferservice etwas bestellen.«
Die Kolonne bewegte sich ins Wohnzimmer. Der praktisch veranlagte Benedikt überschlug, dass für das allgemeine Wohlbefinden noch zwei Küchenstühle von Nutzen wären, und machte sich sofort auf den Weg, um die Sitzgelegenheiten zu organisieren.
Marie war ihm gefolgt und holte Gläser für alle. Anschließend stellte sie noch Wasser, Bier und Wein auf den Tisch. Dann wandte sie sich an ihre Mutter und forderte: »So, jetzt sind alle versorgt. Leg los, Mama. Bisher kenne ich nur Jules Gruselversion. Hänschen ist tot, du bist Axels Hauptverdächtige und Willi ist verschwunden. Sag bitte, dass das alles nicht stimmt.«
Anna trank einen Schluck Wein und sah dann in die Runde, die sie gespannt beobachtete: »Leider ist Hänschen wirklich tot, und wo Willi sich herumtreibt, weiß im Moment wohl nur er selbst. Dass Axel mich für die Hauptverdächtige hält, hoffe ich aber wirklich nicht. Er wird doch wohl kaum unter seinem neuen Chef sein kriminalistisches Fingerspitzengefühl verloren haben.«
»Da bin ich mir nicht so sicher«, warf Jule ein. »Ich bin stocksauer auf ihn. Ich habe vorhin mit ihm telefoniert, nachdem Tom uns die Nachricht geschickt hatte, und ihn eingeladen, heute Abend mit uns allen zu beratschlagen, wie es weitergehen soll. Ich hatte mich so darauf gefreut, dass es wieder so wird wie in alten Tagen, als wir Toms Fälle gelöst haben.«
Tom schwieg tapfer und ließ auf diese Weise seine eigene nicht unbeträchtliche Rolle bei der Aufklärung der alten Fälle friedfertig unerwähnt. Warum? Weil er nett war und weil er der müden Anna unergiebige Diskussionen ersparen wollte.
Also konnte Jule ohne Einwände und Unterbrechungen weiterreden: »Aber Axel hat nur herumgedruckst und behauptet, er habe keine Zeit. Ich habe ihm gesagt, dass er gerne auch später noch nachkommen kann. Aber er wollte einfach nicht, dieser Blödmann. Dabei dachte ich, er wäre einer meiner besten Kumpel. Außerdem arbeite ich mit seiner Freundin Luzie in derselben Kanzlei und befreundet bin ich mit ihr auch. Da wäre es doch wohl das Mindeste, dass er an einem Abend, an dem meine Mutter die Leiche eines ermordeten Kollegen gefunden hat, mit uns den Fall diskutiert hätte.«
»Da bin ich ganz anderer Meinung«, sagte Tom entschieden. »Ich hoffe, ich habe Axel so gut ausgebildet, dass er sich nicht von Freundschaften ausbremsen lässt, wenn es um die Aufklärung eines Verbrechens geht. Deine Mutter wäre nicht die erste Frau eines Polizisten, die einen anderen Menschen tötet. Also muss er völlig unvoreingenommen an den Fall herangehen und Anna so behandeln wie alle übrigen Personen, die mit der Sache zu tun haben.
Eine der Grundregeln bei den Ermittlungen der Kripo lautet: ›Halte immer genügend emotionalen Abstand zu Zeugen und Verdächtigen‹. Du hast den armen Kerl mit deiner Einladung regelrecht in den Schwitzkasten genommen. Er hat vernünftigerweise höflich abgesagt und dabei wollen wir es jetzt auch belassen. Ich bin sicher, dass das KK 11 den Fall bald aufklärt, und dann wird Axel wieder dein bester Kumpel sein, vorausgesetzt, du zerschlägst in der Zwischenzeit nicht zu viel Porzellan.«
»Zu einem guten Polizisten gehört aber auch der Instinkt dafür, wer als Täter infrage kommt und wer nicht. Und dass wir niemals jemanden ermorden würden, sollte ihm nun wirklich klar sein. Was haben wir nicht schon alles miteinander erlebt! Wie viele Fälle haben wir gelöst! Denk bloß mal an den Bombenleger, der halb Düsseldorf in Schutt und Asche legen wollte, und an den Kunstprofessor mit den zwei Familien, der tot in seinem eigenen Kunstwerk hing.«
»Der Kunstprofessor ist das richtige Stichwort«, sagte Marie streng. »Ich erinnere mich noch gut daran, dass du dich genau zu der Zeit von diesem verrückten Amerikaner hast kidnappen lassen, und als dann auch noch Bene dringend zu seiner Familie fahren musste, war nur noch einer für mich da, und den scheint ihr heute total vergessen zu haben. Ja, ich rede von Willi. Axels Befindlichkeiten sind mir im Moment völlig egal. Soll er doch den Abend verbringen, mit wem er will.
Ich mache mir schreckliche Sorgen um Willi. Wo ist er? Hat ihn der Mörder vielleicht auch erwischt? Oder hat er Hänschens Leiche gefunden und meint jetzt, sich verstecken zu müssen? Er hat ganz sicher nicht viel Geld bei sich und Bankkarten besitzt er nicht. Er ist bestimmt in einer Notsituation und ich weiß nicht, wie ich ihm helfen kann.«
Benedikt legte den Arm um die Schulter seiner Frau und ergänzte: »Willi reagiert immer so irrational. Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass er den Toten gefunden hat und vor lauter Angst, dass man ihm die Schuld in die Schuhe schieben könnte, panisch geflohen ist.«
»Das glaube ich auch. Aber wohin?«, fragte Marie, für ihre Verhältnisse ziemlich verzweifelt.
»Was ist mit seinem Handy?«, wollte Tom wissen. »Habt ihr noch mal versucht, ihn zu erreichen?«
»Ja klar. Das war das Erste, was ich getan habe, nachdem ich erfahren hatte, dass er verschwunden ist. Und ich habe es danach noch ein paar Mal versucht. Sein Handy ist ausgeschaltet oder der Akku ist leer«, sagte Marie.
»Denk mal nach, Marie. Du bist doch diejenige, die ihm von uns allen am nächsten steht. Hat er dir nie etwas aus seiner Vergangenheit erzählt? Stammt er eigentlich aus Düsseldorf? Wo lebt seine Familie? Welche Freunde oder Bekannte hatte er außerhalb der WG und abgesehen von uns?«
Marie schüttelte hilflos den Kopf. »Er hat nicht viel von früher erzählt und das, was er mir mal im Vertrauen gesagt hat, möchte ich nicht weitererzählen. Soweit ich das beurteilen kann, hat das auch nichts konkret mit unserem Fall zu tun. Es könnte höchstens erklären, wieso er nach der Entdeckung von Hänschens Leiche Angst davor hatte, dass ihn die Polizei verdächtigen könnte, seine Finger im Spiel gehabt zu haben.«
Tom wandte sich noch einmal an seine Stieftochter: »Marie, sollte es irgendwelche polizeilichen Erkenntnisse über Willi Wolf geben, dann wird das sowieso herauskommen. Du kannst ihn nicht schützen. Außer Axel kennen ihn die Kollegen vom KK 11 nicht. Deshalb wäre es nur zu verständlich, wenn er nach seinem Verschwinden ihr Verdächtiger Nummer eins wäre. Vielleicht wäre es tatsächlich besser, wenn du die Informationen, die du über Willi hast, der Polizei zur Verfügung stellen würdest.
Wir alle hier gehen ja wohl im Moment davon aus, dass seine Reaktion unbegründet und überzogen war. Er ist vermutlich verängstigt, er hat wahrscheinlich kaum Geld bei sich und könnte daher an Typen geraten, die für ihn nicht ganz ungefährlich sind. Wir sollten ihn also so schnell wie möglich finden.«
Marie schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Judas. Sollen doch deine Kollegen herausfinden, was sie wollen. Ich werde Willi nicht ans Messer liefern. Ich hoffe nur, dass er weiß, wie zuverlässig ich bin, und sich so bald wie möglich bei mir meldet.«
Leonie sah sie liebevoll an und sagte: »Wenn ich Willi wäre, täte ich das ganz bestimmt, Marie.«
Sven wandte sich an Tom: »Sag mal, wen hältst du denn für das eigentlich vorgesehene Opfer? Horst oder Hänschen? Die Sache mit den Pralinen deutet für mich eher auf Horst. Wenn ich einen von beiden hätte vergiften müssen, dann wäre mir die Wahl nicht schwergefallen.«
Anna, die sich noch gut an die jahrelangen Querelen zwischen Sven und Horst erinnern konnte, musste unwillkürlich lächeln. Auch Tom hatte durchaus seine Probleme mit Horst, sowohl in der Vergangenheit als auch noch ein wenig in der Gegenwart. Trotzdem bemühte er sich um Neutralität und antwortete: »Ich habe keine Ahnung. Horst ist ein Mensch, der seine Auseinandersetzungen sofort und öffentlich austrägt. Jeder weiß genau, woran er bei ihm ist. Hänschen ist für mich viel weniger durchschaubar. Nach außen hin wirkte er zwar immer fröhlich und entspannt, aber jeder hat schließlich gelegentlich Ärger mit anderen.
Hänschen war sicher konfliktscheuer als Horst, aber auch er muss doch gelegentlich mal mit jemand aneinandergeraten sein. Ganz ohne Auseinandersetzungen kommt man nun mal nicht durchs Leben. Und versteckte Konflikte sind manchmal brisanter als solche, die offen ausgetragen werden. Da brodelt es monate- oder jahrelang im Verborgenen und umso stärker ist dann die Eruption.
Wenn das mein Fall wäre, würde ich versuchen, die Todesursache so schnell und so genau wie möglich zu ermitteln. Ich hoffe, es lässt sich feststellen, in welcher Form er das Gift zu sich genommen hat, wenn es sich denn tatsächlich um Gift handelt.
Sollte die Praline die Ursache gewesen sein, dann ist es ganz wichtig herauszubekommen, ob noch andere Pralinen in der Packung betroffen sind. Falls ja, muss man wohl davon ausgehen, dass Horst das Opfer sein sollte und dass sich Hänschen versehentlich vergiftet hat, als er sich an Horsts Pralinen bedient hat.
Ich bin aber nicht sicher, ob man bei einer Untersuchung des Mageninhaltes tatsächlich zweifelsfrei feststellen kann, mit welchem von möglicherweise mehreren Lebensmitteln das Gift eingenommen worden ist. Wir müssen jetzt erst mal die Obduktion und den Bericht des Labors abwarten. Bis dahin muss man beide als potenzielle Opfer ansehen.«
»Also fragen wir uns, wer wollte Horst Wildermann oder Hans Ahus ermorden? Wer hatte ein Motiv und wer die Gelegenheit?«, deklamierte Jule in immer dramatischer werdendem Ton.
»Es war Oberst von Gatow mit dem Kerzenleuchter im Speisezimmer«, behauptete ihr Schwager, um die angespannte Stimmung etwas aufzulockern.
Seine Frau erwiderte wütend: »Axel glaubt bestimmt, es war Willi Wolf mit der vergifteten Praline in der Lokalredaktion.«
Ihre Schwester, die an diesem Abend auch nicht allzu gut auf Axel zu sprechen war, nickte bestätigend.
*
Dem armen Axel, der weit davon entfernt war, solche unerfreulichen Gedanken zu hegen, hätten seit Stunden die Ohren klingen müssen. Aber selbst dieses Geräusch hätte er dem Genörgel seines inoffiziellen Schwiegervaters Rasmus Holm vorgezogen, der in einer Tour darüber meckerte, dass man ihn selbst während der Fußballeuropameisterschaft abends nicht in Ruhe lassen konnte, sondern ihn zu Familientreffen zwang, auf die er auch ohne interessante Spiele durchaus hätte verzichten können. Selbst die meist freundliche und um Ausgleich bemühte Luzie raufte sich die Haare, was man bei ihrem Kurzhaarschnitt allerdings kaum bemerkte.
»Mensch Papa, jetzt ist es aber gut. Du verpasst kein Deutschland-Spiel und weder die Serben noch die Engländer haben bisher ein Tor geschossen. Also kann man das Match wohl nicht gerade als fußballerisches Feuerwerk bezeichnen. Außerdem läuft es ja, wenn auch ohne Ton. Und der dritte Sonntag im Monat war schließlich dein Vorschlag für einen Jour fixe.«
»Nur weil ihr mich gezwungen habt, überhaupt einen Termin festzulegen. Warum können wir uns nicht einfach sehen, wenn uns allen danach ist?«, schnaubte Rasmus.
»Also nie«, antwortete Axel, stand auf und sagte zu Luzie: »Ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich muss deinem Vater recht geben. Mir reicht es auch für heute. Ich gehe nach Hause. Kommst du mit?«
Unter diesen Umständen musste selbst Luzie akzeptieren, dass das Familientreffen mit ihrem Vater wohl besser beendet wurde. Sie hatten noch nicht ganz den Raum verlassen, als Rasmus erleichtert zur Fernbedienung gegriffen und den Ton eingeschaltet hatte. Im Hinausgehen hörten sie den Jubel der englischen Zuschauer in der Veltins-Arena über Jude Bellinghams eins zu null.
Luzie und Axel liefen Hand in Hand durch Gerresheim. Endlich regnete es mal nicht. »Am dritten Sonntag im Juli ist die EM vorbei«, sagte Luzie erleichtert.
»Das ist mir egal. Für mich war das heute der letzte Jour fixe. Dein Vater hat ja wohl kaum einen Zweifel daran gelassen, was er von unseren Familientreffen hält. Und ich habe genauso wenig Lust auf diese Zwangsveranstaltungen.«
»Mit deinen Eltern treffen wir uns auch mindestens einmal im Monat.«
»Das stimmt. Aber sie freuen sich darauf. Zumindest sagen sie das und ich nehme ihnen das auch ab.«
Luzie nickte. Daran konnte kein Zweifel bestehen, wenn sie an die aufwendigen Vorbereitungen dachte, die Axels Mutter Anne jedes Mal auf sich nahm.
»Mein Vater vereinsamt, wenn wir uns nicht mehr mit ihm treffen.«
»Es gibt Menschen, die ruhige Abende zu schätzen wissen, ohne dabei gleich zu vereinsamen. Er hat doch noch andere Sozialkontakte. Vielleicht findet er uns einfach langweilig.«
»Ach Axel, du weißt genau, das beschränkt sich bei ihm auf Frau Schöneberg und den Richterstammtisch.«
»Genau. Was läuft eigentlich mit Frau Schöneberg?«
»Nichts, soweit ich weiß.« Nachdem die nette Bäckerin Rasmus Holm zu dessen siebzigstem Geburtstag eine riesige Torte gebacken hatte, hatte der nicht umhingekonnt, sie zu einem Abendessen einzuladen.
Das war jetzt aber schon zwei Jahre her und selbst der optimistischste Beobachter konnte wohl nicht mehr davon ausgehen, dass diesem Date ein zweites folgen würde. Rasmus Holm und Britta Schöneberg sahen sich regelmäßig morgens zwischen acht und halb neun beim Brötchenkauf, aber das war es dann auch. Und der Richterstammtisch tagte nur vierteljährlich. Luzie sah sich also in der Verantwortung, ihrem störrischen Vater soziale Kontakte aufzuzwingen.
Axel liebte Luzie, aber diese Liebe hatte Grenzen, besonders wenn es um Rasmus ging und an einem Tag wie diesem. »Dann solltest du ihm in Zukunft deine Gegenwart besser alleine aufdrängen«, schlug er vor.
Luzie betrachtete ihn von der Seite, stellte fest, dass er ziemlich erledigt aussah, und beschloss, das Thema Jour fixe zu vertagen. »Dir geht es nicht gut«, sagte sie und drückte seine Hand.
»Stimmt«, bestätigte Axel.
»Willst du darüber reden?«
»Der neue Fall könnte tückisch werden. Ich habe jetzt schon den Eindruck, zwischen den Stühlen zu sitzen. Ich hoffe, dass Anna ganz schnell aus der Liste der Verdächtigen gestrichen werden kann. Aber im Moment ist sie diejenige, die den Toten gefunden hat. Und du kennst ja die Statistiken. Ganz häufig sind die angeblichen Finder die Täter. Außerdem hat sie die vermutlich vergifteten Pralinen gekauft und sie ihrem Chef geschenkt. Auf Otto muss das einfach fragwürdig wirken.
Der zweite Verdächtige ist dieser Willi Wolf, der seit dem Auffinden der Leiche spurlos verschwunden ist. Und der ist Best Buddy von Annas Tochter Marie. Mit der möchtest du dich auch nicht unbedingt anlegen, wenn dir dein Leben und deine Karriere lieb sind. Sie wird ihn mit Zähnen und Klauen verteidigen.
Und dazu kommt deine liebe Freundin und Referendarin Jule, die ziemlich beleidigt reagiert hat, als ich ihr für heute Abend einen Korb gegeben habe. Sie wollte mir bei einem Treffen mit Anna, Tom und ein paar anderen die wenigen Informationen, die wir schon haben, aus der Nase ziehen. Immerhin kannst du ihr morgen in der Kanzlei bestätigen, dass ich die Verabredung mit deinem Vater nicht vorgeschoben habe.«
»Oje«, sagte Luzie verständnisvoll beim Gedanken an die unerquickliche Gemengelage, der sich Axel ausgesetzt sah.
»Wenn Anna nicht sehr schnell aus der Schusslinie ist, könnten zwischen Tom und Otto so richtig die Fetzen fliegen. Das wird dann für mich wie Topfschlagen im Minenfeld. Jahrelang war Tom mein Chef. Ich habe unheimlich viel von ihm gelernt und ich mag ihn. Aber Otto steht ihm in nichts nach.
Ich bin froh, dass Anke morgen von ihrer Hochzeitsreise zurück ist. Sie hat genau wie ich sowohl mit Tom als auch mit Otto zusammengearbeitet. Ihr wird also klar sein, wie ich mich fühle. Michelle und Martin werden auf Ottos Seite stehen. Sie kennen Tom ja nur von der Hochzeit.«
»Und dann nervt auch noch mein Vater rum«, seufzte Luzie und nahm sich vor, zumindest bei Jule die sich auftürmenden Wogen zu glätten, so gut ihr das möglich sein würde.
*
Anna lag endlich im Bett, aber sie konnte nicht schlafen. Sie bekam einfach das Bild nicht aus dem Kopf, das sich ihr in der Redaktion geboten und dann in ihrem Gedächtnis eingebrannt hatte: Hänschen mit offenen Augen und vor Angst und Schmerzen verzerrtem Gesicht.
Hänschen, der immer für sie eingesprungen war, wenn Not am Mann war, der blöde Witze riss, über die man nur mit Mühe lachen konnte, Hänschen, der einmal vor vielen Jahren bei einer Weihnachtsfeier versucht hatte sie anzubaggern, lange bevor Tom in ihrem Leben aufgetaucht war, und Hänschen, der immer noch eine Meldung hervorzauberte, wenn man ein Loch auf einer Seite des Lokalteils stopfen musste. Ein Leben ohne ihn würde ärmer sein.
Dann fielen ihr die Pralinen ein und die möglichen Konsequenzen. Schließlich hatte sie sie nicht Hänschen geschenkt, sondern Horst. An Schlaf war jedenfalls nicht zu denken.
Kapitel 2
Montag, 17. Juni
Moni van Tekel war empört. Natürlich war sie auch traurig über Hänschen Ahus' Tod, aber ihre Trauer wurde an diesem Montagmorgen deutlich vom Gefühl überlagert, wieder mal übergangen worden zu sein. Und dieses Gefühl nagte bereits seit Jahren an ihrem Selbstbewusstsein. Sie war ja nur die Sekretärin, nicht mal die Assistentin der Geschäftsleitung oder besser noch die des Head of Editorial Teams. Sie musste man ja nicht verständigen, wenn es um eine solche Kleinigkeit ging wie den Mord an einem der Redakteure. Fürs Kaffeekochen war sie gut genug und natürlich als Prellbock zwischen dem unberechenbaren Horst und dem Rest des Teams.
Aber wenn es wirklich mal um was ging, dann dachten die Damen und Herren Redakteure nur an ihren eigenen elitären Kreis. Dass auch sie vielleicht informiert werden wollte über Hänschens Tod und die Umstände, die dazu geführt hatten, auf die Idee war niemand gekommen. Gerade von Anna hatte sie das nicht erwartet. Sie hatte sie immer als ihre Freundin betrachtet.
Ausgerechnet Anna hatte Hänschen gefunden, wie sie gerade erfahren hatte. Da wäre es doch wohl naheliegend gewesen, wenn Anna nach dem Telefonat mit der Notarzt-Einsatzzentrale als erstes ihre Freundin Moni angerufen hätte. Stattdessen war sie ganz normal zum Tagesgeschäft übergegangen und hatte zusammen mit Horst, Sven und Leonie die Seiten des Lokalteils gefüllt.
Das hatten die vier gut und professionell hinbekommen. Das musste man ihnen lassen. Es war sicher keinem Leser aufgefallen, dass sich kurz zuvor dieser unerhörte Vorfall in den Redaktionsräumen ereignet hatte.
Also hatte auch Moni erst an diesem Montagmorgen von Hänschens Tod erfahren. Sie war wie meistens als Erste des Teams im Pressehaus angekommen und hatte ahnungslos vor einer von der Kripo versiegelten Tür des Großraumbüros gestanden. Da noch keiner der Kollegen in Sicht war, war sie mit dem Lift in die Chefetage gefahren und dort von der Sekretärin Jan Klas van Dyks informiert worden. Der hatte man natürlich Bescheid gesagt.
Der Chefredakteur höchstpersönlich hatte sie darum gebeten, sich vor der versiegelten Türe zu postieren, um die Kollegen, egal, ob sie von dem Vorfall schon wussten oder nicht, abzufangen und in den großen Konferenzraum zu bitten. Dort sollte dann beschlossen werden, an welche leeren Schreibtische die übrig gebliebenen Mitglieder der Lokalredaktion verteilt werden sollten.
Zutiefst beleidigt war Moni dieser Bitte nachgekommen und hatte dafür gesorgt, dass sich das komplette Team etwa eine halbe Stunde später zusammenfand. Auch der Chefredakteur war gekommen, um eine kurze Ansprache zu halten, die eine Mischung aus Trauerrede für Hänschen und Ansporn für die noch Lebenden sein sollte, die morgige Ausgabe der DZ ohne Rücksicht auf eigene Gefühle effektiv und so ansprechend wie immer für die Leser zu gestalten. Danach empfahl sich Jan Klas van Dyk erleichtert, sich dieser unangenehmen Aufgabe mit seiner üblichen Eloquenz und Eleganz entledigt zu haben, und überließ Horst das Feld.
Die beiden Redaktionsmitglieder, die neben Moni niemand einer Vorabinformation für würdig befunden hatte, waren Horsts Stellvertreter Rainer Hausmann und Annas Schreibtischnachbarin Billy Müller.
Rainer war zutiefst schockiert. Natürlich wunderte er sich auch darüber, dass Horst es nicht für nötig gehalten hatte, ihn am Vortag über das schreckliche Ereignis zu informieren, aber Horst war nun mal Horst, und so nahm er die Missachtung seiner Person einfach nur schweigend zur Kenntnis. In Rainers Gehirn rotierte es allerdings bereits. Er wusste schließlich, dass er in ein paar Monaten die Leitung der Lokalredaktion übernehmen würde und das offenbar mit einer jetzt noch überschaubareren Anzahl von Mitarbeitern.
Dass man einen Ersatz für Horst finden musste, war bereits vorher klar gewesen, jetzt aber würde man gleich zwei neue Kollegen suchen müssen. Hoffentlich würde nicht aus Kostengründen eine Stelle gestrichen werden. Zuzutrauen wäre das Jan Klas van Dyk und dem Verlag auf jeden Fall. Rainers zweite Überlegung betraf die Zeitung von morgen. Wie sollten sie arbeiten in diesem Konferenzzimmer, das für redaktionelle Tätigkeiten ganz sicher nicht geeignet war?
Rainers Strategie, seine akute Trauer um den Verlust von Hänschen in den Griff zu bekommen, bestand darin, sie ganz einfach auszublenden, indem er sich mit Sachfragen beschäftigte, und zwar so intensiv, dass kein Platz für Tränen blieb. Die würde er allenfalls am Abend zuhause ganz allein vergießen.
Ganz anders ging Billy Müller mit der Situation um, was niemanden wunderte, weil sie ein viel emotionalerer Typ war als der stellvertretende Ressortleiter Hausmann, dessen Pokerface sämtliche Gefühle verbarg. Billy setzte sich auf ihren Platz und ließ ihren Tränen freien Lauf. Moni van Tekel solidarisierte sich mit ihr. Schließlich gehörte Billy genau wie sie selbst zur Fraktion der Ahnungslosen. Moni besorgte also hilfsbereit eine Box mit Kleenextüchern, die sie vor Billy auf den Konferenztisch stellte.
»Machst du uns mal einen Kaffee, Moni?«, sagte Horst in einem Ton, der weder etwas mit einer Bitte noch mit einer Frage zu tun hatte, sondern einem Befehl gefährlich nahekam. Moni sah ihn strafend an. Schließlich war er einer derjenigen gewesen, der sie gestern hätte anrufen können, nein müssen. Sie kämpfte einen Moment mit sich, schluckte dann aber die Antwort »Kocht euch doch gefälligst euren Kaffee selbst. Ihr macht doch auch sonst alles allein« hinunter und ging stattdessen wortlos aus dem Raum, um irgendwo im Haus Kaffeetassen und eine Maschine aufzutreiben, die das belebende Gebräu ausspucken würde. An den Kram der Lokalredaktion kam man ja im Moment nicht heran.
Moni war im Pressehaus gut vernetzt. In einem der anderen Sekretariate stieß sie mit ihrer Bitte auf offene Ohren, zumal sie, wenn auch nicht ganz zutreffend, als optimale Informationsquelle über die mysteriösen Ereignisse rund um Hänschens Tod betrachtet wurde.
Als sie wenig später mit einem Tablett mit gefüllten Kaffeebechern den Konferenzraum wieder erreichte, hatte man schon ein paar Lösungen gefunden. Es würde für den nächsten Tag nur eine lokale Notausgabe geben, bestehend aus lediglich drei Seiten, auf denen auch noch großflächige Anzeigen platziert waren.
Die Kripo hatte mitgeteilt, das Büro der Lokalredaktion würde gegen Mittag freigegeben werden, sobald die Ergebnisse der kriminaltechnischen Untersuchung vorlägen und man sicher sein könne, dass keine weiteren Ermittlungen in den Räumen erforderlich seien. Bis zu diesem Zeitpunkt würden die Redakteure auf die Arbeitsplätze von Kollegen in anderen Ressorts verteilt werden, die gerade im Urlaub waren. Nachdem diese ersten essenziellen Probleme geklärt waren, stürzten sich alle auf ihre Kaffeebecher.
»Ich kann es immer noch nicht glauben«, sagte Rainer Hausmann. »Das Ganze ist einfach surreal. Da arbeitet man jahrzehntelang zusammen und plötzlich ist ein Mensch nicht mehr da. Ich schulde ihm noch acht Euro. Die hat er mir am Freitag geliehen. Wir haben zusammen in der Mittagspause Pizza gegessen. In dem Laden war das Kartenlesegerät kaputt und ich hatte nicht genug Bargeld bei mir. Was mache ich denn jetzt damit? Schulde ich das seinen Erben?«
»Kauf davon ein paar Blumen für sein Grab«, schlug Billy mit belegter Stimme vor.
»Unsinn«, widersprach Horst. »Trink davon ein, zwei Killepitsch auf sein Wohl. Das würde ihm besser gefallen. Was meinst du, Anna?«
»Ich habe dazu keine Meinung«, sagte Anna müde. Sie hatte kaum geschlafen in der letzten Nacht. »Ich habe einfach nur die Hoffnung, dass Hänschen eines natürlichen Todes gestorben ist, so schlimm auch das schon wäre. Aber einen Mord an ihm könnte ich nicht ertragen. Ihr wisst, ich habe durch meine Beziehung zu Tom in dieser Hinsicht schon unangenehme Erlebnisse genug gehabt.
Ihr könnt euch sicher noch an die unglückselige Suche nach dem perfekten Düsseldorfer erinnern zum hundertsten Jubiläum unserer Zeitung und an den armen Menschen, der damals in Einzelteilen zerstückelt irgendwo in Düsseldorf verstreut wurde.
Etwas in dieser Art brauche ich wirklich nicht noch mal. Aber genau das befürchte ich. Ich glaube, die Polizei geht von einer Vergiftung aus. Ich habe Angst vor einem Szenario, in dem wir uns alle gegenseitig verdächtigen und in dem am Ende einer von uns Hänschen auf dem Gewissen hat.«
Vor Annas innerem Auge erschien die Pralinenschachtel mit der Radschläger-Dekoration, die sie gekauft hatte. Dazu kamen die wenigen Informationen, die sie schon hatte. Was war da nur schiefgelaufen?
»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte Sven Ücker beruhigend. »Bestimmt gibt es Opfer, die so eine Tat durch ihr Verhalten provozieren, aber doch nicht Hänschen. Für jeden Mord muss es ein Motiv geben. Und mir fällt bei Hänschen wirklich nichts ein, was einen anderen Menschen dazu gebracht haben könnte, ihn zu töten. Lasst uns im Vertrauen auf die Polizei einfach abwarten und unseren Job erledigen. Ich bin sicher, es gibt eine harmlose Erklärung.«
Leonie stimmte ihrem Freund grundsätzlich zu, wandte aber ein: »Harmlos kann keine Erklärung sein. Das Ergebnis ist einfach zu schrecklich. Ein Kollege und lieber Mensch ist tot, ganz egal, wie er nun gestorben ist. Er wird uns allen fehlen. Aber wir müssen trotzdem irgendwie weitermachen. Mir persönlich würde es zum Beispiel helfen, wenn ihr mir eine der Aufgaben übertragt, für die Hänschen zuständig war.«
Rainer Hausmann sah Leonie anerkennend an und machte sich eine gedankliche Notiz, diese junge Kollegin auf dem Schirm zu haben, wenn es um die künftige Hierarchie in der Redaktion gehen würde. Für ihn war eigentlich klar, dass nach Horsts Ausscheiden Anna seine offizielle Stellvertreterin werden würde, aber Anna war mit ihren sechsundfünfzig Jahren auch nicht mehr die Jüngste.
Wenn man weiter in die Zukunft dachte, dann wäre Leonie sicherlich eine geeignetere Chefin als zum Beispiel Billy, die heute wieder mal bewies, dass sie nicht gerade erste Wahl für eine Führungsposition im Krisenmodus wäre. Billy weinte immer noch still vor sich hin. Vor ihr lag ein immer größer werdender Hügel aus feuchten und zerknüllten Papiertaschentüchern. Rainer seufzte. Hatten sich Billy und Hänschen vielleicht doch nähergestanden, als alle gewusst hatten, oder hätte sie um Horst oder ihn selbst genauso ergiebig geweint?
Horst beendete die Diskussion und gab die offizielle Linie aus. »Eure wilden Spekulationen bringen uns nicht weiter. Leonie hat ausnahmsweise mal recht. Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Ermittlungsergebnisse abzuwarten und bis dahin unseren Job zu erledigen. Egal, ob Hänschen ermordet wurde oder nicht: The show must go on. Aber bevor wir loslegen, sollten wir uns alle noch einen kurzen Moment schweigend an Hänschen erinnern.«
Es herrschte für etwa eine Minute Totenstille. Anna staunte. Was war denn mit Horst los? Eigentlich war er der Gegenentwurf jeglicher Form von Pietät. Was ein Mord doch mit den Menschen machte - falls es denn Mord war.
*
Michelle hatte aus gegebenem Anlass einen Kuchen gebacken. Zu diesem Zweck hatte sie extra eine Backform aus Silikon in Form eines großen As bei einem Internethändler erworben. Liebevoll hatte sie das Ergebnis ihrer Backkunst, ein großes Kuchen-A, mit Glasur und Schokostreuseln verziert und ihr Werk mit Martins Hilfe unfallfrei bis in den Konferenzraum der Kripo transportiert. Rund um das A platzierte sie noch eine etwas kitschige grellbunte Glitzergirlande.
Axel hatte ein Weißbierglas mit Wasser gefüllt und drei Sonnenblumen in diese provisorische Vase gequetscht. Die Ästhetik dieses Arrangements ließ etwas zu wünschen übrig. Da sollte Anke eben den guten Willen für die Tat nehmen.
Otto vervollständigte das schöne Bild durch eine Flasche Champagner, die er neben den Kuchen stellte.
»Das sieht doch super aus«, freute sich Michelle. »Jetzt kann Frau Arat kommen.« Die Kollegen hatten sich eine Viertelstunde vor Dienstbeginn hier verabredet, um der frischgebackenen Ehefrau Anke Arat den gebührenden Empfang zu bereiten.
Ottos Sohn Fitz, der seit dem 1. Juni ein Praktikum im elften Kriminalkommissariat machte, zückte geistesgegenwärtig sein Handy und drehte ein kurzes Video. Dabei fing er den verblüfften Gesichtsausdruck Ankes beim Betreten des Konferenzraums ganz wunderbar ein, wie später alle beim Betrachten des Hochzeitsfilms bestätigten. Dieser oscarverdächtige Streifen würde das Hochzeitsgeschenk von Familie Tjombe an das Ehepaar Arat werden. Fitz hatte schon die Hochzeit und die Party gefilmt und war in seiner Freizeit bereits dabei, die Szenen zu schneiden und zu vertonen. Bester Nebendarsteller war unstrittig Otto mit seiner Traurede. Das Drehbuch hatten Anke und Cem irgendwie selbst zustande gebracht. Lange genug hatte es ja gedauert, aber vor nunmehr neun Tagen hatte es endlich das Happy End an der Inselstraße gegeben.
Nach einer perfekten Hochzeit fehlten eigentlich nur noch vier Todesfälle, dachte Otto mit einem Anflug von Sarkasmus. Den ersten davon hatten sie ja bereits gestern präsentiert bekommen. Hoffentlich war diesmal nicht wieder ein Serienmörder unterwegs, so wie vor ein paar Monaten kurz vor Ankes und Cems Verlobung, die in Bad Münstereifel stattgefunden hatte, wo die beiden gerade eine der Toten des damaligen Falles aufgespürt hatten.
»Wie lieb von euch!«, sagte Anke ganz gerührt beim Anblick ihres geschmückten Platzes. »Der Kuchen sieht zum Anbeißen aus.«
»Den hat Michelle gebacken. Unsere Küche duftet noch wie eine Konditorei«, sagte Martin mit einem für seine Verhältnisse breiten Lächeln, das allerdings Menschen, die ihn nicht kannten, glatt übersehen hätten. »Und jetzt überlegen wir, wen wir sonst noch so mit Namen kennen, die mit A beginnen, damit sich die Investition in die Kuchenform wenigstens ein bisschen lohnt.«
»Was bin ich doch für ein Glückspilz«, grinste Axel.
»Es trifft immer die Falschen«, stöhnte Martin theatralisch. Er und Axel hatten auf der Hochzeit das eine oder andere Bier miteinander getrunken und zelebrierten ihre anfängliche gegenseitige Feindseligkeit mittlerweile aufs freundschaftlichste.
Michelle überreichte Anke ein Messer. »Du darfst uns allen gern ein Stück abschneiden, liebe Frau Arat.«
Anke sah Michelle verblüfft an und sagte: »Ach deshalb das A. Nein, nein, Cem und ich waren uns einig. Jeder behält seinen liebgewonnenen alten Namen. Es wird weder eine Anke Arat noch einen Cem Hellmich geben.«
»Mist«, ärgerte sich Michelle.
»Wo ist das Problem?«, lachte die frischgebackene Ehefrau. »Schließlich heiße ich nicht Jenny, sondern Anke. Der Kuchen ist also wie für mich gemacht.«
Kriminalrätin Dörte Steiner betrat den Raum. In der Hand hielt sie - nein, keine Kuchentüte, sondern einen Sommerblumenstrauß vom Feinsten, der im Gegensatz zu Axels Sonnenblumen garantiert nicht in einem Eimer vor einer Aldi-Kasse gestanden hatte, sondern der die kenntnisreichen Hände einer Floristin oder eines Floristen verriet.
»Herzlichen Glückwunsch, liebe Frau Arat.«
»Hellmich«, berichtigte Anke strahlend und schaffte das Kunststück, Frau Steiner den voluminösen Strauß abzunehmen und ihr gleichzeitig ein Stück A-Kuchen zu überreichen.
»Damit kannst du im Zirkus auftreten«, sagte Axel beeindruckt.
»Vorausgesetzt sie steht dabei auf einem Bein und balanciert mit dem anderen Fuß die Champagnerflasche«, schlug Martin kreativ vor.
»Sie behalten Ihren Namen?«, fragte Dörte Steiner. »Sehr vernünftig. Nach meiner Scheidung wäre ich froh gewesen, wenn damals das Namensrecht schon so eine Lösung hergegeben hätte.« Vergnügt biss sie in den Mittelstrich des A.
Anke überhörte geflissentlich Frau Steiners Pragmatismus, der ihre baldige Trennung von Cem zumindest nicht ausschloss. Fitz bemühte sich, sich seine Heiterkeit über diesen Dialog nicht anmerken zu lassen. Er war derjenige im Raum, der am meisten vom Wohlwollen der Kriminalrätin abhing. Sein Praktikum im KK 11 war zwar nicht gerade illegal, entsprach aber auch nicht den üblichen Bedingungen, nach denen Praktikanten danach ausgewählt wurden, welche Vorkenntnisse sie haben mussten und welche Stationen sie zu durchlaufen hatten.
In Fitz' Fall sollten zwei bis drei Monate an der Seite seines Vaters der Entscheidungsfindung dienen, ob er beruflich in dessen Fußstapfen treten wollte. Seine Anwesenheit wurde von allen Beteiligten großzügig mehr oder weniger übersehen. In Anwesenheit von Frau Steiner hielt er jedoch vorsichtshalber konsequent den Mund, wenn er nicht von ihr selbst angesprochen wurde.
»So, jetzt wieder zurück zum Ernst des Lebens«, verlangte Dörte Steiner. »Ich habe gleich einen Termin, wüsste aber gern, wie denn der Stand der Dinge ist bei unserem toten Redakteur.«
Alle setzten sich und sahen Otto erwartungsvoll an.
»Nichts Neues bisher«, sagte der Chef des KK 11. »Wir warten noch auf die Ergebnisse des Labors und der Gerichtsmedizin.«
»Was für ein Redakteur?«, fragte Anke. »Hoffentlich hat es nichts mit Anna zu tun.«
»Leider doch. Sie hat ihn gefunden.«
Anke, die schon vor Ottos Start bei der Düsseldorfer Kripo bei dessen Vorgänger Tom Brecht zum Team gehört hatte, kannte das berufliche Umfeld von Toms Partnerin Anna und fragte beklommen: »Wer ist es? Doch hoffentlich nicht Sven Ücker?«
»Nein, nein«, antwortete an Ottos Stelle die Kriminalrätin. »Und auch Gott sei Dank nicht der nette Chef der Lokalredaktion, Herr Wildermann.«
Anke zog die Brauen hoch. Schließlich konnte man durchaus geteilter Meinung darüber sein, ob Horst Wildermann die ideale Verkörperung des Attributs nett darstellte. Anke gehörte nicht zu Horsts Fans.
Frau Steiner fuhr fort: »Der Tote ist ein Redakteur namens Hans Ahus. Frau Heine hat ihn gefunden, als sie gestern ihren Sonntagsdienst antreten wollte. Er war über seinem Schreibtisch zusammengebrochen. Die Ärzte halten eine Blausäurevergiftung für nicht unwahrscheinlich.«
Anke kannte neben Anna deren Nachbarn und Freunde Sven und Leonie recht gut. Auch Horst Wildermann war sie damals häufiger begegnet. An den Rest der Redaktion, also Rainer Hausmann, Billy Müller und Hänschen Ahus hatte sie nur wenige Erinnerungen.
Michelle und Martin hatten zu der Zeit, aus der Toms und Annas Beziehungen zum KK 11 resultierten, noch in Duisburg beziehungsweise Krefeld gearbeitet. Sie hatten Anna und Tom gerade erst bei Ankes Hochzeit kennengelernt, aber auch da war es nicht zu tiefschürfenden Gesprächen zwischen Brautstrauß und Torte gekommen.
Es klopfte und Gerichtsmediziner Maik Wessel steckte seinen Kopf zur Tür herein. »Hallo, alle miteinander. Ich hoffe, ich störe die Feier nicht mit meinen unappetitlichen Ergebnissen.«
Er deutete auf das Kuchenfragment.
»Ganz im Gegenteil, lieber Dr. Wessel«, sagte Dörte Steiner freundlich. »Wir brennen darauf, das Ergebnis Ihrer Untersuchung zu erfahren. Wir hängen alle an Ihren Lippen.«
»Einen Kaffee und ein Stück Kuchen?«, fragte Anke, die mit dem Arzt befreundet war und dessen Vorliebe für Süßigkeiten kannte.
»Sehr gern, liebe Anke. Wie geht es der Staatsanwaltschaft?«
»Herr Dr. Wessel, ich will nicht drängen, aber ich muss gleich los und hätte vorher doch noch gern die wichtigsten Ergebnisse gewusst.«
Maik Wessel betrachtete die Kriminalrätin in aller Ruhe und sagte dann freundlich: »Blausäurevergiftung durch eine Marzipanpraline. Todeszeitpunkt Sonntag, etwa um 10.30 Uhr. Einen schönen Tag noch, Frau Steiner.« Dann griff er gelassen nach dem Teller mit einem Stück Kuchen im Obelixformat, den ihm Anke hinhielt, und ließ es sich schmecken.
»Woher weißt du, dass er das Gift mit der Praline zu sich genommen hat?«, fragte Otto.
»Weil er so zuvorkommend gewesen ist, nicht gefrühstückt zu haben«, antwortete Maik kauend. »Bei der Obduktion war der Magen weitgehend leer. Es gab noch bereits stark verdaute Reste seines Abendessens. Mehr wollt ihr darüber nicht wissen, glaubt es mir. Damit kann er das Gift nicht eingenommen haben, weil Kaliumcyanid praktisch sofort wirkt. Außer diesem Abendessen habe ich in seinem Magen lediglich die weitgehend aufgelöste Praline entdeckt, also ein bisschen Schokolade und Marzipan, was der Zusammensetzung und Menge einer dieser Radschlägerpralinen entspricht.
Also deutet alles darauf hin, dass der Tote am Sonntagvormittag gegen halb elf in der Redaktion diese vergiftete Praline gegessen hat und dann ohne großes Brimborium seinen Abgang aus dem irdischen Jammertal vollzogen hat. Eine Blausäurevergiftung führt zu einem schnellen, sicheren Tod. Ein Enzym blockiert die Zellatmung. Die Zellen können also keinen Sauerstoff mehr aufnehmen. Man erstickt innerlich innerhalb von Sekunden. Zurück bleiben rote Leichenflecke, ein gerötetes Gesicht und der Geruch nach Bittermandel, den aber nur die auserwählte Hälfte der Menschheit wahrnimmt, zu der selbstverständlich ich gehöre. Also ein Zweifel ist in diesem Fall nicht möglich.«
Maik wischte sich ein paar Krümel aus den Mundwinkeln.
»Noch ein Stück?«, lockte Anke.
»Gern, aber diesmal darf es ein bisschen größer sein.«
Anke betrachtete das Dach des A und säbelte gar nicht mehr großartig daran herum. Kurzerhand verfrachtete sie den ziemlich üppigen Kuchenrest auf Maiks Teller. Sie schnupperte und stellte vergnügt fest: »Da sind Mandeln drin.«
Michelle nickte bestätigend: »Bittermandeln, aber mit Biosiegel und aus der Region.«
»Ja, dann«, nickte Maik und biss beherzt ein großes Stück ab.
Dörte Steiner hob grüßend die Hand und eilte aus dem Konferenzraum.
»Der nette Herr Wildermann?«, wiederholte Anke verdutzt. »Ich hatte ihn irgendwie anders in Erinnerung.«
»Da war doch was«, sagte Axel grübelnd. »Kurz vor Tom Brechts Abschied in Richtung Kripo Neuss haben Anna und ihr Clan eine Party am Rheinufer gegeben. Erinnerst du dich, Anke?«
Anke nickte zögernd. Das Event war schon ein paar Jahre her und so sehr hatte es sich nicht in ihre Erinnerung eingegraben. Aber bei Axel füllten sich inzwischen die Gedächtnislücken. »Ich erinnere mich, dass Frau Steiner lange mit Herrn Wildermann zusammengesessen hat. Ich höre noch immer die Schafe auf dem Deich blöken und Frau Steiner lachen, immer abwechselnd. Und damals dachte ich noch: Da geht doch was.«
»Mit dem netten Herrn Wildermann«, lachte Anke.
Hat Ihnen die Leseprobe gefallen? Das vollständige Buch finden Sie hier: