Scherbenhaufen

Ortstermin Düsseldorf 4

419 Seiten

 

Taschenbuch

ISBN 979-8852153241

 

eBook


Leseprobe

  

 Prolog

Freitag, 8. April

 

»Geschafft«, stellte die junge Frau vergnügt fest, meinte damit allerdings nicht ihren Lebensweg, der sich tatsächlich bereits in ein paar Stunden vollenden würde.

   Sie schob sich zwischen die beiden Männer, die neben ihr im nur von der Notbeleuchtung dürftig erhellten Theatersaal standen, und legte beiden jeweils einen Arm um die Schulter. »Ich gratuliere euch, Jungs, und das aus vollem Herzen. Was ihr in den letzten Monaten auf die Beine gestellt habt, kann sich wirklich sehen lassen. Chapeau! Ihr habt aus einem maroden Kino ein wunderschönes kleines Theater gemacht und morgen feiern wir die Weltpremiere eines großartigen Stücks und eines tollen neuen Konzepts. Man wird euch die Tickets nur so aus den Händen reißen. Ach was! Es wird zu tumultartigen Szenen und Schwarzmarktkäufen kommen. Die Leute werden nachts vor dem Eingang campieren, so als ob eine neue PlayStation oder ein besonders exklusives Sneakers-Modell herauskommt.« 

   Einer der beiden jungen Männer sah sie liebevoll an. Er trug wie immer eine Baseballcap und schmückte sich mit einem langen gepflegten Bart. »Es ist nicht nur ein großartiges Stück und ein spannendes neues Konzept. Wir haben das Glück, die beste Schauspielerin Deutschlands verpflichtet zu haben.« 

   »Die noch dazu unsere beste Freundin ist«, ergänzte der andere der beiden Direktoren der neuesten Attraktion der Landeshauptstadt. Er war ein so schöner Mensch, dass er Attribute wie Bärte und Kopfbedeckungen nicht nötig hatte. 

   »Damit hast du das Problem treffend charakterisiert, ohne es direkt beim Namen zu nennen«, jammerte CEO Nummer eins. »Unsere beste Freundin, nicht deine Freundin oder meine Freundin.« 

   »Ach Jungs«, warf die junge Frau, deren makelloses Gesicht beinahe jeder in Deutschland kannte, vermittelnd ein. »Wie oft haben wir das nun schon durchgekaut? Ihr seid einfach beide die liebenswertesten Menschen auf dieser Erde. Wie soll ich mich da entscheiden? Ich liebe euch beide und deshalb verliebe ich mich in keinen von euch. Und jetzt will ich ein Glas Champagner.« 

   Die Theaterdirektoren beeilten sich, diesen Wunsch ihres Stars zu erfüllen. Alle drei gingen in die Bar, die bereits für den erhofften Ansturm des nächsten Tages gut bestückt war, auch mit Champagner natürlich. Schließlich hoffte man in Düsseldorf auch auf ein zahlungskräftiges, verwöhntes Publikum, das sich mit dem Prosecco vom Großmarkt nicht zufriedengeben würde. 

   Der Korken knallte erwartungsgemäß, Champagner wurde in drei Gläser gegossen und einer der Männer sagte: »Danke noch mal, dass du sogar eine Tatort-Folge hast sausen lassen, nur um uns zu unterstützen.« 

   »That’s what friends are for«, antwortete die junge Frau und genoss zum letzten Mal in ihrem Leben einen Schluck Moët.

 

 

Kapitel 1

                                                                    Samstag, 9. April

 

Es gibt Termine, denen man hilflos ausgeliefert ist, auch wenn man ihnen noch so gern ausweichen würde. Ein gutes Beispiel dafür sind Geburtstage ab einem gewissen Alter, ganz besonders runde Geburtstage, die dem Jubilar, auch wenn er euphemistisch von seinen Sozialkontakten als Geburtstagskind bezeichnet wird, brutal vor Augen führen, wie weit er auf dem Zahlenstrahl seines Lebens schon vorangeschritten ist und wie wenig statistische Lebenserwartung noch bleibt.

   Rasmus Holm ging seit diesem Samstag auf die achtzig zu. Er genoss in einem Anflug von morbidem Masochismus diese Formulierung, weil sie sich noch schlimmer anhörte als die Zahl siebzig, mit der er sich seit Mitternacht zu schmücken hatte.

   Seine Tochter Luzie und sein Nicht-Schwiegersohn Axel hatten ihm halbherzig angeboten, mit ihm zusammen in diesen Jubeltag hineinzufeiern, waren aber ganz und gar nicht unglücklich darüber, dass Rasmus dieses nett gemeinte Angebot weit von sich gewiesen hatte. So hatte er immerhin noch ein paar Stunden herausgeschlagen, bevor ihn die Zahl siebzig mit voller Wucht traf. 

   Nun aber war es so weit. Die Tatsache des Geburtstags ließ sich nicht länger ignorieren. Rasmus hatte bereits vorher für sich entschieden, den Tag wie jeden anderen zu behandeln. Er stand zur gewohnten Zeit auf und gönnte sich eine lang andauernde warme Dusche, und zwar ohne den Hauch eines schlechten Gewissens. Nicht er war in die Ukraine einmarschiert, nicht er hatte vorher eine kurzsichtige Energiepolitik betrieben und sich von russischen Gaslieferungen abhängig gemacht und nicht er als Einzelner hatte die Klimakatastrophe herbeigeführt, also musste es auch nicht er sein, der jetzt durch Sparmaßnahmen die Kastanien aus dem Feuer holte, ein Vergleich, der zwar inhaltlich nicht zur Dusche passte, ihm aber dennoch sprachlich eine gewisse unangebrachte Freude bereitete. 

   Nachdem er sich sorgfältig angekleidet hatte, wobei er umsichtig solche Kleidungsstücke auswählte, die am wenigsten festtäglich wirkten, ohne dabei einen schlampigen Eindruck zu vermitteln, schnappte er sich Schlüssel und Portemonnaie, um seine täglichen zwei Brötchen bei Frau Schöneberg zu kaufen.    

   Normalerweise lag um diese Uhrzeit seine Brötchentüte mit den beiden gelungensten Exemplaren, die Frau Schöneberg auf dem Blech entdeckt hatte, bereits auf der Theke und erwartete den pensionierten Richter, der sich jeden Morgen aufs Neue über den konkludenten Erwerb der Backwaren freute. Ohne weitere Kommentierung kam der Kaufvertrag zwischen Rasmus und Frau Schöneberg bereits dadurch rechtswirksam zustande, dass er die Tüte ergriff und einen Euro auf die Theke legte. Frau Schöneberg wiederum wusste ganz genau, dass Rasmus kein Wechselgeld erwartete, sondern dies jeden Tag für die Kaffeekasse der Bäckerei stiftete. 

   An diesem Morgen lag keine Brötchentüte auf der Theke. Rasmus runzelte ungläubig die Stirn. Die jähe Angst, die Hamsterkäufe seiner Artgenossen könnten dazu geführt haben, dass die Bäckerei kein Mehl mehr hatte erwerben können, verflüchtigte sich jedoch sofort beim Anblick der wohlgefüllten Körbe und Regale.

   Frau Schönebergs Kollegin lächelte ihn an und rief nach hinten in die Backstube: »Er ist da.« Worauf sich wenig später Frau Schöneberg, bewaffnet mit einem dreistöckigen Tortenmonstrum, auf dem ein Kerzenlicht um sein Leben flackerte, in Rasmus' Richtung bewegte, und fröhlich sagte: »Alles Gute zum Geburtstag, lieber Herr Holm. Die habe ich für Sie gebacken. Lassen Sie sich die Torte schmecken, zusammen mit Ihrer Familie.« 

   Rasmus war sprachlos, was in den vergangenen siebzig Jahren nicht allzu oft vorgekommen war. Er starrte Frau Schöneberg ungläubig an und die lächelte gütig zurück. Die Torte hatte sie mittlerweile auf der Theke abgestellt. 

   Der erschrockene Rasmus rappelte sich mental wieder hoch, bedankte sich überschwänglich bei der netten Bäckerin und fragte sich gleichzeitig, mit wem zum Teufel er diese riesige Torte essen sollte. Schließlich war Frau Schöneberg trotz der rein geschäftlichen Beziehungen eine von Rasmus' engsten Bezugspersonen. Die andere war seine Tochter, die er aber erst abends sehen würde, und dann auch nicht zum Torte-Essen. Schlau bat er daher um ein Messer, pustete die Kerze aus und begann damit, Tortenstücke abzusäbeln und an die Mitarbeiter der Bäckerei zu verteilen. Das kommentierte er mit den Worten: »Es gibt niemanden, mit dem ich diese Torte lieber essen würde als mit Ihnen, liebe Frau Schöneberg. Und nehmen Sie sich doch ein großes Stück für Ihre Tochter und Ihre Enkelkinder mit.« 

   Frau Schöneberg schenkte Kaffee an alle aus und so begann Rasmus' Geburtstag unerwartet gesellig, kalorienreich und süß. Der Kuchen schmeckte wunderbar und Rasmus schluckte nicht nur ihn, sondern auch den Kloß im Hals hinunter, der sich gebildet hatte, weil selbst ein solch ausgeprägter Sozialagnostiker wie er sich einer gewissen Rührung nicht hatte erwehren können. Da hatte sich doch tatsächlich ein anderer Mensch, der nicht mal verwandt mit ihm war, Mühe gegeben, ihm eine Freude zu bereiten. Na, so was. 

   Rasmus sprang über diverse Schatten, räusperte sich und bat Frau Schöneberg um ein Date, wie es seine Tochter genannt hätte. Rasmus lud sie jedenfalls zu einem Abendessen in ein Sternerestaurant ein, das einem alten Freund von ihm gehörte. 

   Auf dem Heimweg, bewaffnet mit einer großen Tragetasche, in der sich das verbliebene Tortenfragment sowie die beiden Frühstücksbrötchen befanden, fragte er sich bereits, wie zur Hölle ihm diese Einladung hatte entfleuchen können. Worüber sollte er sich bloß einen ganzen Abend lang mit Frau Schöneberg unterhalten, wenn die höfliche Frage nach dem Wohlergehen der Enkel erledigt war? Rasmus seufzte. 

   Kaum war er zuhause, klingelte auch schon sein Telefon. Womöglich wollte ihm schon wieder jemand zu diesem grässlichen Tag gratulieren. Und heute Abend musste er auch noch ins Theater mit Luzie, Axel und dessen Eltern, die er kennenlernen sollte. 

   Und das verdammte Theaterstück war zu allem Überfluss auch noch ein Mitratekrimi. Als ob er als ehemaliger Vorsitzender einer Schwurgerichtskammer nicht schon oft genug hatte raten müssen, wer vorsätzlich welches Verbrechen begangen hatte. So etwas als Freizeitvergnügen zu verkaufen, hielt er für ein eher kühnes Unterfangen.

   Seufzend nahm er den Hörer ab und sagte grollend: »Holm.« Fatalistisch lauschte er dem Versuch seines Gesprächspartners, wenigstens den einen oder anderen Ton des Liedes »Happy Birthday« korrekt zu treffen, was jedoch leider nicht von Erfolg gekrönt war. Trotzdem besann er sich auf eigentlich tief verschüttete Reste seiner Sozialkompetenz und sagte: »Nett, dass du anrufst, Heinrich. Kannst du mir für morgen Abend einen Tisch für zwei Personen im Brandenburg reservieren?« 

 

*

 

Rasmus' Tochter Luzie hatte das Glückwunschtelefonat noch vor sich. Im Moment saß die Anwältin ihrem Chef Christoph Hill in dessen Büro gegenüber. Es war zwar Samstag, aber Christoph hatte sie am Vorabend gebeten, außerplanmäßig in die Rechtsanwaltskanzlei auf der Bäckerstraße zu kommen, weil er möglichst ohne Störungen durch Mandanten, Telefonate und das Sekretariat etwas Wichtiges mit ihr zu besprechen habe. 

   Luzie war mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend ins Büro gefahren. Christoph hatte so ernst ausgesehen. Sie waren zwar mittlerweile gute Freunde - ja, Luzie war sogar die stolze Patentante seines knapp zweijährigen Sohnes Julian - aber irgendetwas stimmte offenbar nicht. Wollte Christoph sie entlassen? Hatte sie sich in letzter Zeit irgendwelche groben Schnitzer geleistet? Hatten sich wichtige Mandanten beschwert? Gerade in solchen Situationen machten sich Luzies Selbstzweifel, die sie eigentlich inzwischen ganz gut im Griff hatte, doch wieder mal schmerzlich bemerkbar. 

   »Danke, dass du dir heute die Zeit genommen hast«, sagte Christoph. »Ich hoffe, ich störe die Geburtstagsfeier deines Vaters nicht über Gebühr.« 

   Luzie schüttelte den Kopf. Ihr Herz raste. Christoph lächelte. Er kannte Luzie mittlerweile nur zu gut. »Ich will dich nicht länger auf die Folter spannen. Könntest du dir vorstellen, meine Partnerin in der Kanzlei zu werden?«    

   Luzie starrte ihn entgeistert an. Damit hatte sie nun wirklich nicht gerechnet.

   »Ich würde dich gern beruflich enger an mich binden. Ich könnte mir keine bessere Partnerin vorstellen. Damit hätte ich zwei Schultern mehr, die die Verantwortung tragen. Und ich müsste dir auch kein Gehalt mehr zahlen.« 

   Luzie sagte immer noch nichts. Die Situation erinnerte an das Treffen der Schlange und des Kaninchens.

   Christoph sah Luzie aufmunternd an. »Na, sag doch mal was«, lockte er.

   »Im Prinzip wüsste ich nicht, was ich lieber täte. Aber ich fürchte, das kann ich mir nicht leisten. Ich müsste dir ja meinen Anteil an der Kanzlei abkaufen. Ich habe praktisch keine Rücklagen auf der Bank.« 

   »Meine Güte«, murmelte Christoph, »Habe ich dich so schlecht bezahlt in den letzten drei Jahren?« 

   Luzie schüttelte lächelnd den Kopf. »Hast du nicht. Aber ich habe mein Auto gekauft, noch ein paar Schulden aus der Studienzeit abbezahlt und meine Wohnung eingerichtet. Vorher habe ich in einer Art Sperrmüll-Sammelsurium gelebt. Jetzt sieht es einigermaßen edel bei mir aus. Du kennst ja mein Apartment.« 

   Christoph lächelte. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es am Kaufpreis scheitert, wenn du wirklich Interesse hast. Du kannst ihn in einer Rentenvereinbarung mit meinem Vater sozusagen abstottern. Er ist hier offiziell noch Teilhaber, würde sich aber ganz gern komplett zurückziehen. Heute will ich eigentlich nur mal grundsätzlich dein Interesse ausloten. Sollte das vorhanden sein, müssten wir uns über die genaue Ausgestaltung sowieso noch jede Menge Gedanken machen.« 

   »Oje«, sagte Luzie, »so könnte ein Witz anfangen: Zwei Juristen wollen einen Vertrag schließen…« 

   Christoph lachte und sah Luzie fragend an. 

   »Ja, Christoph, wenn ich es mir mit irgendjemandem vorstellen könnte, dann mit dir. Mach gerne mal einen Vorschlag, wie die Konditionen so aussehen würden, wieviel Prozent du mir verkaufen willst und was dir ungefähr als Kaufpreis vorschwebt. Dann können wir darüber reden.« 

   »Auf jeden Fall sollst du mit fünfzig Prozent gleichberechtigte Partnerin werden. Etwas anderes käme gar nicht infrage. Auf Julian kann ich schließlich nicht warten. Das dauert mir zu lange. Aber er ist auf einem guten Weg. Ich zeige dir mal ein Video.« 

   Er kramte sein Handy hervor, suchte ein wenig und reichte es ihr. In dem kurzen Film war Julian Hill zu sehen, der nicht an eine Bonbontüte herankam, die seine Eltern wohl genau aus diesem Grund in einem Regal deponiert hatten. Julian sah sich suchend um und zog den dicken roten Schönfelder mit der Aufschrift »Deutsche Gesetze« von einem Stuhl herunter. Das für einen Zweijährigen in mancherlei Hinsicht viel zu schwere Buch fiel ihm vor die Füße. Julian stieg hinauf und angelte erfolgreich nach den Bonbons, womit dem NS-Juristen Heinrich Schönfelder wenigstens in der Gegenwart ein gewisser Nutzen zuzusprechen war. In der Kanzlei arbeiteten sie seit einem Jahr mit dem Nachfolgemodell der Gesetzessammlung, dem Habersack, aber bei Christoph und Elisabeth zuhause lag, politisch eher unkorrekt, noch der Vorgänger herum. 

   »Er kann schon etwas mit Gesetzen anfangen«, lobte Luzie.

   »Und er tritt den Schönfelder mit Füßen«, ergänzte Christoph.

   »Er ist das klügste Kind, das ich kenne«, bestätigte Luzie und Christoph war sich sicher, genau die richtige Entscheidung getroffen zu haben bei der Wahl seiner zukünftigen Partnerin. Mittlerweile konnte er sich kaum noch daran erinnern, dass es eigentlich seine kluge Frau Elisabeth gewesen war, die diesen Denkanstoß gegeben hatte. 

 

*

 

Dieser Samstag hatte eine weitere wichtige Funktion. Er diente nicht nur dazu, Rasmus restlos die Laune zu verderben und Luzies berufliche Zukunft in eine neue Richtung zu lenken, sondern er bildete auch den zeitlichen Rahmen für einen hoffentlich grandiosen Geschäftsstart. Das Theater P(l)ayback wurde eröffnet mit der Premiere des interaktiven Stücks »Bullets over Benrath«.

   Die beiden Theaterdirektoren oder - wie sie sich selbst halb scherzhaft bezeichneten - CEOs, Lukas Voigt und Philipp Hagen, hatten mit Unterbrechungen seit ungefähr zwanzig Jahren diesem Tag entgegengefiebert und an diesem Projekt gearbeitet. Seit der fünften Klasse waren sie enge Schulfreunde und Sitznachbarn, später getrennt nur durch die unterschiedlichen Leistungskurse in der Oberstufe. Während Philipp sich, soweit das Kurssystem dies zuließ, auf die Fächer Deutsch, Musik und Kunst stürzte, warf sich Lukas mit Verve auf jedes Fach, das mit Zahlen zu tun hatte.

   Beim Abiball war unter dem Einfluss von addiert rund drei Promille die Idee für das gemeinsame Theater geboren worden, das heute endlich Premiere feiern sollte. Folgerichtig hatte Philipp zwischenzeitlich in Erlangen Germanistik und Theaterwissenschaften studiert, während Lukas in Düsseldorf geblieben war, wo er ein BWL-Studium absolviert hatte. 

   Die dritte im Bunde war Laura Dötsch, die stets behauptete, sie habe nur deshalb Schauspiel an der Folkwang Universität in Essen studiert, um sich so bald wie möglich einen Künstlernamen zulegen zu können. Inzwischen war sie überall in Deutschland bekannt als Laura Gallus. Aus ihr war eine ausgezeichnete Schauspielerin geworden, die sich ihre ersten Lorbeeren an renommierten Bühnen verdient hatte, dann für das Fernsehen entdeckt worden war und jetzt kurz vor dem Abflug nach Hollywood stand. Die Zeit bis zum Drehbeginn eines Films der Coen Brüder, in dem sie eine der beiden weiblichen Hauptrollen spielen sollte, wollte sie ihren alten Schulfreunden Lukas und Philipp widmen, um den beiden den Start ihres Theaterprojekts zu vergolden. 

   Tatsächlich hatte ihr Name und vielleicht auch das interessante Konzept zu einer erfreulichen Nachfrage an Karten geführt. Die sechs Wochen, in denen Laura noch in Deutschland sein würde, waren bis auf Resttickets ausverkauft. Danach musste man schauen, ob auch mit der Zweitbesetzung so gut Kasse zu machen wäre. Bis dahin hatte es sich hoffentlich herumgesprochen, dass man im P(l)ayback-Theater unvergessliche Abende erlebte. Im Augenblick trugen auch die Lockerungen der Corona-Einschränkungen dazu bei, wieder mehr Publikum ins Theater zu locken. 

   Philipp betrat gegen fünfzehn Uhr das Foyer und stellte überrascht fest, dass er trotz dieser frühen Stunde einer der Letzten war. Die übrigen Akteure feilten bereits - teils nervös, teils voll positiver Erwartung - an letzten Details, die die Premiere zu einem gigantischen Erfolg machen sollten. 

   Die Erste, der er begegnete, war Eva Voigt, von allen Mutti genannt, obwohl diese Bezeichnung streng genommen nur von Lukas hätte verwendet werden dürfen. Sie hängte gerade die Garderobenmarken an die entsprechenden Haken und strahlte Philipp an: »Na, mein Junge. Endlich ist der große Tag da. Hoffentlich klappt alles genau so, wie ihr euch das vorstellt.« 

   Philipp küsste Eva auf die Wange: »Hallo Mutti, wird schon werden. Wir haben alles so oft durchgekaut und geprobt und gemacht und getan. Was soll da jetzt noch schiefgehen?« 

   »Sag das nicht, Philipp. Sowas bringt Unglück.« 

   Philipp lachte. Mutti ging, seit sie für das Theater arbeitete, ganz in ihrer Rolle als Mitglied des abergläubischen fahrenden Volkes auf, ausgerechnet sie, die in ihrem bisherigen Berufsleben für nichts Aufregenderes als die Buchhaltung eines Handwerksbetriebs zuständig gewesen war.

   »Bis später«, sagte Philipp freundlich, bevor er sich auf die Suche nach den anderen machte. Er ging durch eine Tür, die mit einem Schild »Privat« versehen war, und befand sich in einem Gang, von dem aus die Garderoben zu erreichen waren und man einen Zugang zur Rückseite der Bühne hatte. Er klopfte an die Tür zur Damengarderobe. Schließlich wusste er nicht, ob sich eines der weiblichen Ensemblemitglieder dort gerade umzog. Eine Stimme bat ihn herein und er traf auf Emma Frey und Friederike Franzen, die mit einer internen Probe beschäftigt waren. 

   »Ich will euch nicht stören. Ich wollte nur kurz ›Hallo‹ sagen und uns allen schon mal viel Glück wünschen.« 

   »Das können wir gebrauchen«, stellte Friederike grimmig fest.

   »Der Text ist viel zu kompliziert«, beschwerte sich Emma. »Wer soll den denn verstehen und dann auch noch auswendig lernen?« 

   Friederike, ihre junge, überaus ehrgeizige Kollegin, die noch ziemlich frisch von der Schauspielschule auf die Bühne des P(l)ayback-Theaters gestürmt war, zuckte mit den Schultern und wandte sich an den Urheber der Dialoge, an Philipp: »Also, ich mag deinen Text. Er ist auf eine liebenswerte Weise ironisch, ohne klamaukig zu wirken. Das Publikum wird viel Spaß haben.« 

   »Ja, besonders wenn ich alles durcheinanderschmeiße«, verkündete Emma selbstkritisch. Ihre Stärken lagen in der Tat deutlich mehr im optischen als im intellektuellen Bereich. Sie war in erster Linie blond, auffällig und verfügte über einen teuer erkauften üppigen Busen, den sie oft und gern in irgendwelche Kameras hielt, gelegentlich sogar bekleidet. Auch sie war von Lukas und Philipp als Publikumsmagnet engagiert worden. Wer je eine Realitysoap im Fernsehen verfolgt hatte, war zwangsläufig über Emma gestolpert. Als Sechste des diesjährigen Kampfes um die Gunst des Bachelors sowie Teilnehmerin diverser TV-Shows war sie mindestens genauso bekannt wie Laura, bediente jedoch ein anderes Zuschauersegment. 

   Philipp wandte sich an Friederike: »Versuch dein Bestes, liebe Gattin, dann wird unser Gast sich schon an den Text halten.« Mit diesem Satz griff er die Rollenverteilung des Stücks »Bullets over Benrath« auf, in dem Friederike Bianca spielte, die Ehefrau Alexanders, der von Philipp dargestellt wurde. Philipp war gleichzeitig Autor, Regisseur und Hauptdarsteller des Kriminalstücks. Emmas Rolle war die der Fiona, einer suchtkranken Schauspielerin, was man ihr im wirklichen Leben beim besten Willen nicht vorwerfen konnte. Weder war sie suchtkrank noch konnte sie schauspielern.

   Philipp winkte den beiden zu und verfluchte Lukas, der aus PR-Gründen auf Emma bestanden hatte. Er, Philipp, hatte gleich gewusst, dass Emmas Mitwirken in ein Debakel münden würde. 

   In der Herrengarderobe traf er auf seine beiden Kollegen Gilbert Grothe, einen erfahrenen und zuverlässigen Nebendarsteller, der lässig und souverän den Fabrikanten und Erfinder Erik verkörperte, sowie den jungen und etwas nervösen Roger Radtke, der die Rolle des katholischen Priesters Dominik übernommen hatte. 

   Philipp fragte sich, ob die Wahl der alliterativen Künstlernamen wohl auf irgendeinem System beruhte. Nahm man noch Friederike Franzen hinzu, hatten sich von sechs Künstlern gleich drei für gleiche Anfangsbuchstaben bei Vor- und Nachnamen entschieden. Neben Gilbert und Roger saß Manuel Wirtz, Barkeeper und Lebensgefährte Gilberts in Personalunion. Die drei lachten gerade ganz entspannt über eine witzige Bemerkung Rogers, von der Philipp allerdings nur noch einen Halbsatz mitbekommen hatte. 

   »Alles gut bei euch?«, fragte Philipp. Die Männer nickten beruhigend. »Wir können unseren Text«, sagte Gilbert lächelnd, »im Gegensatz zu unserer Sexbombe.« 

   »Es ist wirklich nett von Friederike, sich so zu engagieren«, sagte Roger rollengerecht. Schließlich gab er nachher den menschenfreundlichen, wenn auch zweifelnden Seelsorger. 

   »Kann ich euch noch irgendwie behilflich sein?«, fragte Manuel. »Ich habe in der Bar nichts mehr zu tun, bis die ersten Zuschauer kommen.« 

   »Falls ja, melde ich mich bei dir. Danke auf jeden Fall.« Philipp ging weiter bis zur Drehbühne, auf deren einer Seite ein Gerichtssaal aufgebaut war, während die andere Hälfte, durch eine Wand abgetrennt, die Möbel eines Wohnraums der gehobenen Preisklasse zur Schau stellte. Lukas hielt eine Leiter, auf der Bernd Jürgens balancierte, um an der Beleuchtung herumzuschrauben. Bernd war seit vielen Jahren Evas Lebensgefährte. Allerdings wäre es niemandem in den Sinn gekommen, ihn mit Vati anzureden, selbst Lukas nicht. Was Eva an mütterlicher Herzlichkeit ausstrahlte, wurde bei Bernd durch eine zuverlässig miesepetrige Grundhaltung wieder wettgemacht. 

   Lukas grinste zu Philipp hinüber: »Bist du auch so aufgeregt wie ich? Ich kann es kaum noch erwarten, bis endlich die ersten Gäste kommen.« 

   »Ich glaube, es ist ganz gut, dass Emma noch ein paar Stunden Zeit zum Üben hat. Sie hat den Text immer noch nicht drauf. Friederike coacht sie gerade.« 

   »Brauchst du mich noch, Bernd?«, fragte Lukas.

   »Ach, hau schon ab. Ich bin ohne dich sowieso besser dran«, grummelte Bernd.

   »Danke, Sonnenschein«, antwortete Lukas und wandte sich an Philipp: »Vielleicht sollten wir noch mal die Escape-Räume kontrollieren? Nicht, dass am Ende in einem Zimmer andere Hinweise liegen als im zweiten.«  

   »Du liebe Güte, an was man alles denken muss«, murmelte Philipp und trabte hinter seinem Freund her. Vom Foyer aus waren die beiden Escape-Räume direkt erreichbar. 

   Lukas' Theaterkonzept bestand darin, die Zuschauer ins Geschehen einzubinden. Sie durften sich also nicht ausschließlich durch ein natürlich brillantes - weil von Philipp verfasstes - Bühnenstück berieseln lassen, sondern sollten sich je nach Thematik in der einen oder anderen Form aktiv einbringen. 

   Der Name des Theaters P(l)ayback war unter dem Einfluss einer gehörigen Menge Tequila entstanden. Philipp hatte für ein schlichtes Playback votiert, weil im Theater schließlich gespielt wurde und die Zuschauer durch ihre Interaktionen etwas zurückgeben sollten. Lukas wollte das L streichen, weil ihm der Begriff Payback im Sinne von Rückzahlung - aber auch je nach Zufriedenheitsgrad als Bonus oder gar Rache interpretierbar - in diesem Zusammenhang viel passender erschien. Weil sie sich nicht einigen konnten, beschlossen sie, die etwas sperrige Umklammerung des L damit zu begründen, dass das Kom(m)ödchen wohl jedem Düsseldorfer Theater mit Fug und Recht in beinahe jeder Hinsicht als Vorbild dienen durfte. 

   Beim Kriminalstück »Bullets over Benrath« kam den Zuschauern die Aufgabe zu, den Mörder oder die Mörderin zu ermitteln. Hinweise für dessen oder deren Täterschaft waren in den beiden Escape-Räumen versteckt, aus denen die Zuschauer in Zehnergruppen jeweils in einer halben Stunde nicht nur wieder herausfinden mussten, sondern auch noch Indizien für die Täterschaft in ihrem Gedächtnis abspeichern sollten. 

   Um das Ganze vollends zu komplizieren - und ganz besonders für Emma gänzlich zu verwirren - gab es nicht nur eine Lösung, sondern gleich drei verschiedene, die wechselweise gespielt wurden. Natürlich mussten dann die Hinweise in den Escape-Räumen entsprechend angepasst werden. Auf gar keinen Fall durften versehentlich im ersten Raum Indizien für Lösung A und im zweiten für Lösung B ausliegen. 

   Ohnehin war dieses Escape-Raum-Intermezzo logistisch anspruchsvoll. Bei hundert Zuschauern, die das kleine Theater fasste, benötigte man vor Beginn des Stücks zweieinhalb Stunden, um die Gäste durchzuschleusen. In der übrigen Zeit wurden sie mit Getränken aus der Bar und Gesprächen mit den Schauspielern, die sich in Maske und Kostüm unter die Zuschauer mischten und rätselhafte Hinweise von sich gaben, bei Laune gehalten.

   Die Ticketpreise für dieses Gesamtkunstwerk waren gesalzen, dennoch war man für die nächsten Wochen fast ausverkauft. Und Philipp hatte bereits das nächste Stück in der Schublade, eine Tragikomödie, die in einer Bar spielte und von Billy Joels Song »Pianoman« inspiriert worden war. Vorher würde bei diesem Konzept Manuels großer Auftritt kommen, der den Zuschauern einen Workshop im Cocktailmixen bieten würde. Ziel war es jedenfalls, den Gästen unvergessliche Abende zu bereiten mit einem Thema, bei dem auf Aktion Interaktion folgen sollte. Stures Zuschauen hielten die CEOs für ziemlich gestrig. 

   Lukas und Philipp hatten zufrieden festgestellt, dass die Indizien in beiden Escape-Räumen nicht voneinander abwichen, als Laura das Theater betrat. Mittlerweile war es Viertel vor vier. Die ersten Gäste waren für achtzehn Uhr eingeladen und sollten dann sofort in die Escape-Räume geführt und eingesperrt werden, damit die zügig absolviert werden konnten, um Platz für die nächsten Gruppen zu schaffen. 

   An der Eingangstür läutete es, obwohl sie nicht abgeschlossen war. Philipp stand gerade in der Nähe und öffnete. Er sah sich einem in Zellophan gehüllten riesigen Pflanzenarrangement gegenüber, das ihm von einem durch das florale Kunstwerk verdeckten Mann entgegengehalten wurde. Philipp griff danach und konnte bei der Übergabe einen Blick auf den Überbringer erhaschen, bevor ihm die üppig blühenden Pflanzen selbst das gesamte Gesichtsfeld blockierten. 

   Vorsichtig setzte er den Kübel auf dem Boden ab und wandte sich an den Spender: »Das ist aber nett von dir, Oliver. Falls unser nächstes Stück im Dschungel spielen sollte, haben wir schon das halbe Bühnenbild. Solange der Krimi läuft, wird der Topf erst einmal das Foyer schmücken.« 

   »Es ist mir ein Vergnügen. Als ich allerdings den bestellten Kübel im Blumenladen abgeholt habe, war mir sofort klar, dass ich den besser schon vorher vorbeibringe. Er ist ein bisschen unhandlicher ausgefallen, als ich mir das vorgestellt hatte.« 

   »Er ist einfach prächtig«, bestätigte Lukas und sah sich um auf der Suche nach einem Ort, an dem der gigantische Topf nicht zur Stolperfalle werden würde. 

   »Ich wollte euch ganz viel Glück wünschen, so unter Kollegen. Ich bin natürlich der Meinung, selbst das beste Theater Düsseldorfs zu leiten, aber für das zweitbeste ist selbstverständlich auch noch genug Publikum vorhanden«, sagte Oliver Rütter, der seit Jahren Prinzipal eines bekannten Düsseldorfer Boulevardtheaters und in der Szene der Landeshauptstadt bekannt wie ein bunter Hund war.

   »Vielen Dank für die Blumen, für die guten Wünsche und vor allem für deine praktische Unterstützung. Ich weiß nicht, wie wir ohne Friederike klarkämen. Gerade eben sitzt sie in der Garderobe und coacht unsere hirnlose Bachelorette«, sagte Philipp.

   »Emma war nie Bachelorette. Sie wäre gar nicht in der Lage gewesen, die Rosen korrekt auf die Männer zu verteilen. Sie war lediglich eine der Frauen, unter denen der Bachelor wählen durfte«, wandte Lukas ein. »Aber Philipp hat ganz recht. Friederike ist ein Hauptgewinn. Sie ist nett, sieht gut aus, kann ihren Text und ist auch noch kollegial.« 

   »Dann ist das eine Win-Win-Win-Situation. Ihr seid glücklich. Ich habe kein schlechtes Gewissen, weil ich mich beim Casting doch für jemand anderen entschieden habe, und Friederike hat hier ein sehr gutes Engagement mit der Option auf spätere weitere Rollen, falls ihr mit ihr zufrieden seid. Das passt doch perfekt. Wie läuft es denn, abgesehen von Emma Freys berüchtigten Textaussetzern?«, wollte Oliver wissen.

   »Gut. Natürlich sind wir ein bisschen nervös. Schließlich ist es die Premiere der Premieren. Wir haben noch nie ein Theater geleitet und es ist die erste Vorstellung unseres allerersten Stücks, das ich auch noch selbst verfasst habe, also alles in allem Weltpremiere. Das Interaktionskonzept mit der Spurensuche in den Escape-Räumen ist auch neu. Hoffentlich funktioniert die Technik. Und es gefällt es den Leuten. Und sie lachen über meine Pointen und nicht, weil Emma ihren Text vergisst«, stöhnte Philipp und zog sein bildschönes Gesicht in Falten.

   »Toi, toi, toi«, sagte Oliver und nahm sich ein Programmheft von einem Stapel auf einem Stehtisch.

   »Ich darf doch?«, fragte er.

   Lukas nickte. »Selbstverständlich.« 

   Oliver blätterte im Programm, las den Text und schaute sich die Fotos an. »Also, dass ihr Laura Gallus verpflichten konntet, nehme ich euch fast übel. Ich habe noch vor ein paar Monaten einen Korb von ihr bekommen.« 

   »Den bekomme ich seit zwanzig Jahren«, gab Philipp kläglich zu. Lukas nickte. »Und ich ganz genauso. Wenn es nach mir ginge, wären wir seit ewigen Zeiten verheiratet und hätten schon ein paar schulpflichtige Kinder.« 

   »So lange kennt ihr euch schon?« 

   »Wir haben vor zwanzig Jahren gemeinsam das Abitur bestanden. Und schon damals waren Phil und ich unglücklich in Laura verliebt.«   

   »Sehe ich da eine Parallele zu deinem Stück »Bullets over Benrath«? Gibt es da nicht auch eine Art Klassentreffen zum zwanzigsten Abi-Jubiläum?« Oliver deutete auf das Programmheft.

   »Ja, aber das ist die einzige Gemeinsamkeit. In meinem Stück haben die Schulfreunde Alexander und Bianca tatsächlich geheiratet und laden jetzt vier Freunde von damals, die sie seit Jahren nicht gesehen haben, zum zwanzigsten Abi-Jubiläum ein. Charlotte ist alleinerziehende Mutter einer Tochter, die selbst gerade Abitur macht, Dominik ist ein katholischer Priester, der an seiner Mission zweifelt und überlegt, seinen Beruf zu wechseln, Erik ist erfolgreicher Erfinder und Fabrikant und Fiona eine abgehalfterte Schauspielerin, die an der Flasche hängt. Charlotte ist sich nicht sicher, wer der Vater ihrer Tochter ist, Alexander oder Dominik. Sie würde Alexander vorziehen, weil der ein erfolgreicher Unternehmer zu sein scheint. In Wirklichkeit ist er aber pleite und will sich mit Eriks Erfindung sanieren. Erik liebt Fiona, will sie von ihrer Sucht heilen und damit retten. Und in all dem Durcheinander wird Charlotte tot aufgefunden.« 

   »A, B, C, D, E, F«, sagte Oliver im Rhythmus des Songs von Gayle und grinste.

   »Gut erkannt«, stellte Philipp fest. »Hat aber nichts mit dem Lied zu tun, sondern mit meiner Bequemlichkeit. So konnte ich mir beim Ausdenken des Plots schöne Pfeilgrafiken malen unter dem Motto: E liebt F, während B die C hasst und so weiter und so fort.«  

   »Ich bin total gespannt«, sagte Oliver. »Ich kann nur hoffen, dass euer Konzept vielleicht für ein paar Menschen zu anstrengend und zu kompliziert ist. Ich setze auf den Teil des Publikums, das sich einfach nur in den Sessel setzt und in Ruhe ein Stück Unterhaltung konsumieren will.« 

   »Ich bin überzeugt davon, dass Düsseldorf groß genug für dich und für uns ist«, meinte Lukas hoffnungsvoll.

   »Heute seid ihr bestimmt ausverkauft«, mutmaßte Oliver.

   »Nicht nur heute. Für die nächsten sechs Wochen gibt es nur noch Restkarten. Danach wird allerdings unser Zugpferd Laura zum Zugvogel in Richtung Hollywood. Mal sehen, wie es dann läuft.« 

   »Habt ihr schon einen Ersatz für Laura?« 

   »Wir haben mehrere Optionen, haben uns aber noch nicht festgelegt. Die Premiere heute hat unsere gesamte Zeit in Anspruch genommen. Ab morgen steht das Casting ganz oben auf meiner To-do-Liste«, sagte Philipp. 

   »Aber heute wollen wir den Abend erst mal genießen. Es ist eine Art Family-and-friends-Vorstellung. Jeder Beteiligte hatte ein Kartenkontingent und hat ein paar Leute eingeladen, Eltern, Geschwister und Bekannte. Geschäftsfreunde sind auch dabei, zum Beispiel unser Bauunternehmer und unsere Anwältin«, ergänzte Lukas.

   »Ihr braucht schon vor der ersten Vorstellung eine Anwältin?«, fragte Oliver Rütter, halb lachend, halb interessiert.

   »Leider«, bestätigte Lukas. »Nachdem wir das marode Kino zu recht günstigen Konditionen mieten konnten, haben wir eine enorme Menge Geld und Zeit investiert, um es zu diesem kleinen Theater umzubauen. Selbstverständlich sind wir nur eingestiegen, weil wir einen Zehnjahresmietvertrag mit Verlängerungsoption ausgehandelt hatten. Als wir mit dem Umbau fast fertig waren, kam so eine Art Kündigungsandrohung des Vermieters. Er hat ein lukratives Kaufangebot für das Grundstück. Das gesamte Karree soll abgerissen werden, damit hier ein weiteres Luxus-Yuppie-Quartier gebaut werden kann. Er will uns zwar entschädigen, aber es ist unklar, in welcher Höhe. Außerdem wollen wir hier unter keinen Umständen ausziehen. Etwas Vergleichbares ist in Düsseldorf nicht auf dem Markt. Das hätte er sich eben vorher überlegen sollen.«    

   »Das hört sich nicht gut an«, stellte Oliver Rütter fest. »Ich hoffe, eure Anwältin ist mindestens so clever wie dieser Immobilienhai.« 

   »Ich denke schon«, antwortete Philipp. »Luzie ist eine gute Bekannte von mir. Sie ist zwar eigentlich auf Strafrecht spezialisiert, aber für uns macht sie eine Ausnahme. Sie hängt sich da richtig rein. Sie ist ganz zuversichtlich, dass wir entweder bleiben dürfen oder eine so hohe Abfindung herausschlagen, dass wir uns zur Ruhe setzen können.«   

   »Aber schon im Vorfeld ist so ein Ärger natürlich blöd«, sagte Oliver. »Ich muss jetzt weg. Ich bin pünktlich um 18.30 Uhr wieder da und werde dann eure Indizien sichten und mal schauen, was eure Bar so zu bieten hat. Bis nachher.« 

 

 *

                                            

Friederike Franzen - die übrigens tatsächlich so hieß, weil, wenn überhaupt jemand, dann ihre Eltern alliterative Namen gemocht hatten - war eigentlich geduldig, professionell und freundlich. Außerdem hatte sie sich noch vor ein paar Stunden wie Bolle auf ihre allererste große Theaterrolle mit Gage gefreut. Mittlerweile hatte sie jedoch diese Vorfreude bereits verlassen. Geduld und Freundlichkeit packten gerade ihre Siebensachen, um ihr zu folgen. Nur die Professionalität rief alle zur Ordnung und forderte sie zum Bleiben auf. 

   Friederike seufzte, trank einen Schluck Wasser und wartete auf ihre Kollegin Emma Frey, die gerade dringend eine Zigarette rauchen und einen Freund ungestört zurückrufen musste. Diese Zeit hätte sie nach Friederikes Ansicht besser in das Rollenstudium investieren sollen. Für Friederike war es undenkbar, auf eine Premiere so schlecht vorbereitet zu sein, aber Emma sah das Ganze nicht so eng. Schlimmstenfalls, so hatte sie ihrer Kollegin erklärt, werde sie eben improvisieren. Und da sie ja eine Säuferin darstellte, würde sie im äußersten Notfall ein wenig lallen und abwarten, welches Stichwort ihr von ihren Kollegen zugeflüstert würde. Außerdem saß ja auch noch Mutti in der ersten Reihe mit dem Text und würde soufflieren. Das Publikum kannte sie und ihr schwaches Gedächtnis und würde nichts anderes von ihr erwarten, als dass sie ihren Text vergäße, Hauptsache sie wackelte mit ihrem Hintern. 

   Und mit dieser Einstellung, dachte Friederike, würde sie vermutlich sogar durchkommen. Ihr war, da sie eine intelligente junge Frau war, völlig klar, dass Emma die Rolle ausschließlich deshalb bekommen hatte, weil sie im Fernsehen mittlerweile als Prototyp der naiven blonden Sexbombe mit kleinem Gehirn und großem Herzen galt.

   Die Garderobentür öffnete sich, aber statt der erwarteten Emma betrat Laura Gallus den nicht allzu großen Raum. Friederike lächelte dankbar. Im gleichen Maße wie sie Emma geringschätzte, bewunderte sie Laura. Die hatte all das geschafft, was Friederike sich für ihre eigene Karriere noch vorgenommen hatte. Friederike war einige Jahre jünger als Laura, hatte aber genau wie ihr Vorbild eine klassische Theaterausbildung hinter sich.

   Laura hatte es nach Ende ihrer Ausbildung geschafft, der junge aufstrebende Stern am Himmel des Düsseldorfer Schauspielhauses zu werden und von da aus für anspruchsvolle Rollen im Fernsehen engagiert zu werden. Und jetzt wartete Amerika auf sie. Ein Engagement in einem noch unbekannten Boulevardtheater war also eigentlich unter ihrer Würde. Aber mit der nahm es die sympathische Schauspielerin zugunsten ihrer Schulfreunde nicht so genau. Und mehr noch: Sie konnte sich das leisten. Niemand würde bei ihr auf die Idee kommen, sie habe keine andere Rolle mehr ergattern können und sei daher auf ihren Auftritt im P(l)ayback-Theater angewiesen. 

   Laura begrüßte Friederike freundlich und stellte ihr ein paar Fragen, die ihr Interesse an der jungen Kollegin zeigten. Friederike freute sich und antwortete, so dass sich ein lockeres Gespräch auf Augenhöhe ergab, das jäh mit dem Eintreten Emmas endete. Sie strahlte ihre Kolleginnen an und freute sich, wie sie sagte, darüber, jetzt gleich über zwei Profis zu verfügen, die sie im Nullkommanichts in eine große Schauspielerin verwandeln würden. 

   Laura lachte. »Mensch, Emma, das hast du doch gar nicht nötig. Du hast andere Qualitäten, als dich stur an deinen Text zu halten. Das einzig Wichtige ist, dass du das Stück verstanden hast. Dann kannst du improvisieren. Und merk dir: Wir spielen heute Lösung A. Das heißt, heute ist Alexander mein Mörder, Biancas Ehemann.«  Sie deutete auf Friederike.

   »Ich bin vielleicht nicht die Schlaueste, aber natürlich weiß ich, dass Friederike die Bianca spielt. Und du bist Charlotte mit dem unehelichen Kind, für das du einen Vater suchst, weil das Kind studieren will und viel Geld kostet. Aber das mit den drei Lösungen finde ich einfach nur bescheuert. Warum muss ein Stück drei verschiedene Enden haben? Das ist doch alles viel zu kompliziert.« 

   »Weil der Schluss dann nicht so leicht verraten werden kann und weil vielleicht jemand mehrmals kommt und sich dann nicht langweilen soll«, dozierte Friederike.

   »Bullshit«, sagte Emma und bewies damit überraschende Fremdsprachenkenntnisse. 

  »Sollen wir noch mal in den zweiten Akt einsteigen?«, fragte Friederike. »Da hast du die meisten Hänger.«  Schicksalsergeben nickte Emma. Laura nahm vor einem der Spiegel Platz und begann damit, sich zu schminken.

   »Wir waren vorhin beim Wiedersehen von Erik und Fiona, also Gilbert und dir. Fiona ist bereits ziemlich angetrunken, versucht aber, das vor Erik zu verbergen. Du bemühst dich also um einen sicheren Gang, torkelst aber ein ganz kleines bisschen. Das machst du übrigens super. Jetzt müssen wir nur noch diese etwas längere Textpassage hinbekommen. Erik sagt: »Hast du am nächsten Wochenende schon etwas vor? Ich würde dir sehr gern mein Haus zeigen. Vielleicht interessiert es dich ja, wie ich lebe.« 

   Erwartungsvoll sah Friederike Emma an, die nicht reagierte. Sie machte eine auffordernde Handbewegung. Emma legte ihre eigentlich makellose Stirn in Falten und dachte so angestrengt nach, dass die Anwesenden diese Bemühung förmlich sehen konnten und sie einem jungen Beagle ähnelte. »Du musst es nur wiederholen«, flüsterte Friederike zum gefühlt zwanzigsten Mal an dieser Textstelle.

   »Wie ich lebe?«, fragte sich Emma verwirrt, bevor sich eine verschüttete Erinnerung ihres Gedächtnisses bemächtigte und ihr die Eingebung bescherte: »Ähh, wie du lebst. Das würde ich wirklich gerne wissen.«  Sie gewann an Sicherheit, was die Geschwindigkeit, mit der sie ihren Text herunterbetete, merklich erhöhte. »Nächstes Wochenende? Sehr gern. Gibst du eine Party oder komme ich allein? Cocktailkleid oder Jeans?«  Emma hatte zu ihrer eigenen Überraschung ihren Text praktisch fehlerfrei bewältigt, so dass sie glaubte, sich jetzt sogar einen kleinen Spaß erlauben zu können. Mit lasziver Stimme improvisierte sie: »Oder ist es eine Pyjamaparty?« 

   Friederike und Laura sahen sich an. Laura lachte.

 

*

 

Im Gegensatz zu Friederike waren Gilbert Grothe und Roger Radke für ihre Namen selbst verantwortlich. Gilbert Grothe hieß im wirklichen Leben Gisbert Schmitz und der Name im Pass von Roger Radtke lautete Frank Stein. Beide Namen erschienen den Schauspielern zu profan. Bei Roger kam hinzu, dass er als jugendlicher Liebhaber nur ungern mit Mary Shelleys verrücktem Wissenschaftler assoziiert werden wollte.

   Gilbert half seinem Partner Manuel Wirtz mittlerweile beim Polieren der Gläser in der Bar, während Roger auf einem Barhocker saß, weil er sich für solche Tätigkeiten nicht wirklich zuständig fühlte. Außerdem war er nervös, wenn er an die Premiere dachte. Seine Hände zitterten ein wenig. Das mussten Gilbert und Manuel nicht unbedingt mitbekommen. 

   Wie für Friederike handelte es sich auch für Roger um das erste feste Engagement nach der Schauspielschule. Während Laura, Philipp, Emma und Gilbert alle Ende dreißig waren, waren er und Friederike ungefähr zehn Jahre jünger. Da es sich im Stück um ein Klassentreffen annähernd Gleichaltriger handeln sollte, wurde Friederike durch Kostüm, Schminke und Frisur besonders damenhaft gestylt. Bei Roger, der in seiner Priesterkleidung eher alterslos daherkam, hatte sich das Problem nicht ergeben.

   »Hoffentlich klappt alles«, sagte Roger.

   »Du kannst ja um himmlischen Beistand bitten«, schlug Manuel vor. »Deine Beziehungen nach oben sollten doch gerade ziemlich gut funktionieren.« 

   »Auch nicht besser als deine«, antwortete Roger. »Wenn Gott wirklich allmächtig und allwissend sein sollte, hat er kein Problem damit, meine Verkleidung zu durchschauen, und wenn nicht, kann er uns bei der Premiere auch nicht helfen.« 

   »Kein Gott ist allmächtig genug, um einer Emma Frey einen Text ins Gehirn zu hämmern«, stellte Gilbert trocken fest. »Ich habe leider die meisten Szenen und Dialoge mit ihr. Falls es mir auf der Bühne gelingen sollte, meine angebliche Bewunderung für sie glaubhaft darzustellen, bin ich ein Kandidat für den Iffland-Ring.« 

   »Warum hat Lukas sie nur engagiert?«, fragte sich Manuel. »Ich verstehe natürlich, dass ein neues Theater Publicity braucht und dass die Frey ein gewisses Publikum anlockt, das sonst vielleicht nicht ins Theater gegangen wäre, aber wenn das zu erwartende Debakel eintritt, weil sie sich und euch lächerlich macht, dann haben wir doch nur negative Schlagzeilen. Das kann doch niemand wollen.« 

   »Ich glaube, es hat ganz ordentlich gekracht zwischen Philipp und Lukas, als Lukas Emma Frey einfach ohne Rücksprache engagiert hat«, erzählte Gilbert. »Hoffen wir wirklich mal, dass alles gut läuft heute Abend. Philipp hat mir gegenüber so eine Andeutung gemacht, dass auf dieses noch weitere Engagements folgen könnten. Und für Mani und mich ist es natürlich optimal, zusammen arbeiten zu können.« 

   Manuel nickte lächelnd und stellte die letzten polierten Gläser in ein Regal hinter der Bar. 

 

*

 

Eva Voigt war fertig mit den Garderobenmarken und tausend anderen Kleinigkeiten. Sie lief noch einmal durchs Foyer und schnappte sich die Programmhefte, die sich auf einem der Stehtische stapelten. Sie legte sie auf die Garderobe, wo sie für zwei Euro pro Stück verkauft werden sollten. Eins davon steckte sie in ihre Handtasche als Erinnerungsstück an diesen ganz besonderen Abend. Gewissenhaft legte sie ein Zwei-Euro-Stück in die Kassette, in der schon das Wechselgeld auf das Publikum wartete, das ihr seine Mäntel und Jacken anvertrauen würde. 

   Eva atmete einmal tief durch und lächelte dann glücklich und voller Erwartung auf einen tollen Abend, der alle Wünsche erfüllen und sämtliche Zweifel beseitigen sollte. Ihre Jungs mussten einfach Erfolg haben. Sie hatten so lange auf diesen Abend hingearbeitet. Sie hatten auf Karrieren, teure Autos und Urlaube verzichtet, alles nur für diesen Traum vom eigenen Theater. 

   Ihr Sohn Lukas war als Einzelkind aufgewachsen. Evas Ehe war in die Brüche gegangen, als er noch in die Kita gegangen war. Vielleicht hatte er sich wenig später so eng an seinen Schulfreund Philipp angeschlossen, weil er einen Bruder vermisst hatte. Eva wusste es nicht, aber es hatte auch keine Rolle gespielt. Philipp war irgendwann in Lukas' Grundschulzeit plötzlich aufgetaucht und gefühlt nicht mehr weggegangen. Philipp hatte zwar eine eigene Familie, aber er schien sich bei den Voigts mindestens so wohlzufühlen wie zuhause.

   Dann lernte Eva Bernd kennen, der nach längerem Überlegen bei ihr und Lukas einzog und den unvermeidlichen Philipp sozusagen mit adoptierte. 

   Eva und Bernd hatten das Theaterprojekt in den letzten Monaten aktiv unterstützen können, weil beide mit Mitte sechzig von ihren Arbeitgebern aus dem Berufsleben aussortiert worden waren, sich aber noch viel zu fit für den endgültigen Ruhestand fühlten. Und in einem so kleinen Unternehmen wurde jeder Kopf und jede helfende Hand gebraucht. 

   Eva fungierte also als Assistentin der Geschäftsleitung, Souffleuse, Garderobenfrau und Kostümbildnerin, während Bernd als Facility Manager, sprich Hausmeister, für die gesamte Technik verantwortlich war. Ob sie für diesen 24/7-Job irgendwann einmal Geld bekommen würden, stand noch in den Sternen. Im Moment ging es einfach darum, ihre Jungs zu unterstützen - und das taten sie beide gern, Eva, freundlich lächelnd, Bernd mit missmutigem Gesichtsausdruck, in Wahrheit aber begeistert von der Tatsache, doch noch nicht zum alten Eisen zu gehören. 

   Eva machte sich auf die Suche nach Bernd und fand ihn hinter der Bühne, wo er ein paar Werkzeuge beiseiteräumte. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Bernd zuckte zusammen und drehte sich um. »Musst du dich immer so anschleichen?«, raunzte er.

   »Ich dich auch«, versicherte Eva fröhlich. »Hoffentlich klappt alles.« 

   »Das kann ich mir nicht vorstellen«, orakelte Bernd. »Überall sind Baustellen. Das Mischpult ist der letzte Schrott und das Zahlenschloss im hinteren Escape-Raum springt immer raus, aber das Schlimmste ist dieser Scheißkronleuchter. Ich weiß nicht, wie viele Stunden ich schon damit verbracht habe, dieses Ungetüm zu befestigen. Irgendwem fällt der noch auf den Kopf, dafür garantiere ich. Und dann gute Nacht.« 

   »Du bist und bleibst ein unverbesserlicher Optimist. Deshalb liebe ich dich so«, sagte Eva und küsste Bernd herzlich auf die Wange. 

 

*

 

Rasmus, Luzie, Axel und dessen Eltern Anne und Wolfgang hatten Karten für 18.30 Uhr. Die Tickets waren mit einem Rätsel versehen, dessen nicht allzu schwer zu knackender Lösungsspruch lautete: »Der Pünktliche entlarvt den Mörder«.

   Rasmus wollte weder pünktlich sein noch den Mörder entlarven. Er wollte eigentlich überhaupt nicht ins Theater, und ganz bestimmt nicht mit Axels Eltern, die er weder kannte noch kennenlernen wollte und schon gar nicht an diesem Abend, an dem er außerdem nicht siebzig sein mochte.

   Die Konstellation dieses Abends irritierte ihn. Was gingen ihn Axels Eltern an? Warum sollte er sie unbedingt kennenlernen? Wollte Luzie etwa heiraten? Er seufzte und betrat um Punkt siebzehn Uhr wie vereinbart ein Bistro, das ein paar Häuser neben dem Theater lag. Dort hatte sich die Gesellschaft verabredet, um vor der Vorstellung noch einen Imbiss zu sich zu nehmen. Er war der Letzte. Alle standen auf, als er sich dem Tisch näherte. Hoffentlich würden sie wenigstens nicht singen. 

   Luzie fiel ihm um den Hals: »Alles, alles Liebe zum Geburtstag, Papa. Ich wünsche dir, dass alle deine Wünsche in Erfüllung gehen.« 

   Rasmus' vordringlichster Wunsch wäre der sofortige Rückzug in seine Wohnung gewesen, aber er ahnte schon, dass dies nicht zur Diskussion stand. Also ergab er sich in sein Schicksal und bedankte sich artig bei seiner überschwänglichen Tochter. Axel gratulierte etwas dezenter und präsentierte seine Eltern als Anne und Wolfgang. Wurde jetzt etwa von ihm erwartet, dass er diese wildfremden Menschen sofort duzte? Rasmus gab beiden die Hand und stellte sich mit einem knappen Nicken und einem für seine Verhältnisse freundlich klingenden »Holm« vor, sofern eine einzelne Silbe überhaupt freundlich klingen kann. Anne und Wolfgang lächelten und Luzie und Axel sahen sich an. Beide wussten, sie dachten in diesem Moment so ziemlich das Gleiche. 

   »Haben Sie schon gewählt?«, unterbrach sie der Kellner. Rasmus sah ihn strafend an. Er hatte es noch nicht einmal geschafft, sich hinzusetzen. Bevor er den Mann zurechtweisen konnte, griff Luzie ein und bat noch um einen Moment Bedenkzeit.

   Das Studium der Speisekarten bot den fünf Personen, die sich aus ähnlichen Gründen gerade ziemlich unbehaglich fühlten, einen gewissen Aufschub. Man hatte ein unverfängliches Thema, über das man sich austauschen konnte. Würde man von einem Hauptgericht allein satt werden? Würde die Zeit überhaupt für eine Vorspeise reichen? Einig war man sich darüber, dass sich die poetisch angehauchten Beschreibungen auf der Karte sehr lecker anhörten.

   Der Kellner wurde befragt, und erklärte, er werde in der Küche Bescheid sagen, dass die Gäste spätestens um 18.15 Uhr das Lokal verlassen mussten. Er sei sich sicher, die Zeit werde sogar für drei Gänge reichen, wenn er den Kollegen in der Küche entsprechende Informationen zukommen ließ.

   Nach der Bestellung nutzten Luzie und Anne die Gelegenheit, in hübsches Papier eingewickelte Päckchen aus ihren Handtaschen hervorzuzaubern und sie Rasmus zu überreichen. Rasmus fühlte sich durch diese nette Geste schon wieder in die Enge getrieben. Warum brachten Axels Eltern jetzt auch noch ein Geschenk mit? Mussten sie ihn unbedingt verpflichten? Er würde nicht umhinkommen, die ganze Gesellschaft zu diesem Essen einzuladen, überlegte er. Dieser Entschluss beeinträchtigte allerdings seine Laune nicht noch mehr. Geiz gehörte nicht zu Rasmus' zahlreichen negativen Eigenschaften. Das Päckchen von Anne und Wolfgang enthielt ein Buch mit dem Titel »100 Karten, die deine Sicht auf die Welt verändern«.

   »Oh, Gott«, dachte Rasmus - ohne das Buch auch nur aufgeschlagen zu haben - im Hinblick auf die möglichen zukünftigen Verwandtschaftsverhältnisse, »mussten die sich jetzt auch noch als Ökos herausstellen?« Trotzdem bedankte er sich angemessen höflich für das Präsent und wandte sich dem Päckchen zu, das ihm seine Tochter überreicht hatte.

   »Eins unserer Geschenke«, erklärte Luzie, »ist natürlich dieser Abend. Wir hoffen, dass wir alle sehr viel Spaß haben werden. Es war gar nicht so leicht, an Karten für diese Premiere heranzukommen. Ich habe es nur geschafft, weil die beiden Theaterdirektoren zu meinen Mandanten gehören, wobei ich ausdrücklich betonen möchte, dass ich sie nicht in einer strafrechtlichen Angelegenheit vertrete, was ja mein üblicher Job wäre. Es geht hier um eine Zivilsache. Mehr darf ich aber natürlich nicht sagen. Unser anderes Geschenk ist auch ein Event.«  

   Rasmus hatte mittlerweile das Papier entfernt und sah sich einem Liverpool-Reiseführer gegenüber. Im Buch gab es Lesezeichen in Form von Tickets für ein Premier League Spiel an der Anfield Road. Rasmus blühte förmlich auf: »Das ist aber eine tolle Idee. Darauf freue ich mich wirklich. Drei Karten, also ihr kommt mit?« 

   »Das ist der Plan«, grinste Axel. »Du hattest ja mal erwähnt, dein Traum sei ein Champions League Spiel zwischen Fortuna Düsseldorf und dem FC Liverpool an der Anfield Road. Luzie und ich befürchten allerdings, dass das selbst zu unseren Lebzeiten nichts mehr wird. Also nimm das als Ersatz.« 

   »Ein großartiges Geschenk«, stellte Wolfgang neidisch fest. »Du hast es tatsächlich geschafft, dass ich mich jetzt schon auf meinen Siebzigsten in zwei Jahren freue.« 

   »Für dich hatten wir eigentlich einen Opernabend an der Mailänder Scala vorgesehen, Papa«, grinste Axel.

   Der Kellner servierte die Vorspeisen, was Wolfgangs entsetzten Gesichtsausdruck augenblicklich in frohe Erwartung auf kleine Köstlichkeiten verwandelte. Das Essen schmeckte so gut wie es aussah. Und so wurde Rasmus' Frustration durch das unerwartete Geschenk und die Gaumenfreuden deutlich gemildert. 

   Am Ende der Hauptspeise musste Rasmus zugeben, dass diese Eltern von Axel doch einigermaßen erträglich waren. Es hätte bedeutend schlimmer kommen können. Es gab ein kurzes Palaver darüber, wer die Rechnung übernehmen sollte. Letztlich setzte sich Rasmus' Autorität durch. Wer hätte ernsthaft daran gezweifelt? 

   Nachdem Rasmus seine Kreditkarte wieder verstaut hatte, trank man aus und lief die wenigen Meter bis zum Theater. Der Eingang war festlich geschmückt und ein roter Teppich war vom Bürgersteig bis hinein ins Foyer ausgerollt. Am Eingang stand Lukas im dunklen Anzug und mit einem Bowler auf dem Kopf. Er kontrollierte die Eintrittskarten und begrüßte alle Gäste persönlich. Da zu jeder halben Stunde nur etwa zwanzig Besucher eintrafen, gab es keine Wartezeiten.

   »Luzie, wie schön, dass du heute Abend hier bist. Es ist immer gut, einen Rechtsbeistand vor Ort zu haben, wenn man sich in ein Abenteuer stürzt. Ich hoffe nicht, dass zur Pause alle Gäste ihr Eintrittsgeld zurückhaben wollen. Falls das aber doch geschieht, sind wir mit deiner Anwesenheit gut aufgestellt.« 

   Luzie lachte. »Das wird sicher nicht passieren. Ich habe meinen Vater, meinen Freund und dessen Eltern mitgebracht. Du hattest mir ja netterweise fünf Karten zur Verfügung gestellt.« 

   »Sehr gerne«, antwortete Lukas. »Ihr könnt dort an der Garderobe eure Sachen abgeben. Meine Mutter passt gut darauf auf. Und dann wäre es nett, wenn ihr euch für das Abenteuer im Escape-Raum bereithalten würdet. In ungefähr fünf Minuten geht es los. Vor dem Eingang steht eine Kollegin, die euch genau erklären wird, wie das Spiel abläuft. Und nun habt ganz viel Spaß und einen tollen Abend.« 

   Die Gruppe entschied sich für den der beiden Escape-Räume, vor dem noch niemand wartete. Vor der anderen Tür hatten sich bereits fünf Personen, drei Männer und zwei Frauen, aufgestellt. Zwischen den beiden Eingängen stand Friederike Franzen und begrüßte die Neuankömmlinge. Sie schaute auf die Uhr und stellte fest: »Viel länger können wir auf die Fehlenden nicht warten, weil in einer halben Stunde schon der nächste Schwung anrückt. Eigentlich sollten immer zehn Personen gleichzeitig pro Raum nach der Lösung suchen. Aber ihr werdet es auch in kleineren Gruppen schaffen. Die Tür wird abgeschlossen und ihr habt genau dreißig Minuten Zeit, um sie wieder zu öffnen. Am Eingang ist innen ein roter Alarmknopf angebracht. Wenn ihr den drückt, öffnen wir sofort die Tür und kommen euch zu Hilfe. Ihr habt das Spiel dann aber verloren.

   Überall im Raum findet ihr Hinweise auf alle möglichen Codes. Ihr dürft alle Schränke öffnen, die sich öffnen lassen. Überall kann etwas versteckt sein. Manche Dinge führen euch aber vielleicht auch auf eine falsche Fährte. Ihr müsst entscheiden, welche Spuren ihr weiterverfolgt und welche nicht. Die Zeit ist knapp. Es ist auf jeden Fall sinnvoll, wenn ihr gut zusammenarbeitet und euch gegenseitig jede neue Erkenntnis mitteilt. Einer alleine schafft es ganz sicher nicht, sich in einer halben Stunde aus dem Raum zu befreien. 

   Ihr solltet außerdem versuchen, so viele Informationen wie möglich im Gedächtnis zu behalten. Es sind nämlich Indizien im Raum, die euch später dabei helfen, den Mörder des Theaterstücks zu entlarven.«  Friederike drückte Axel ein DIN-A4-Blatt mit einem Text in die Hand. »Viel Glück, und vor allem viel Spaß!«

   Letzteres bezweifelte Rasmus, der durch Friederikes Duzen sowieso schon genervt war. Er konnte sich nicht daran erinnern, der jungen Frau schon mal begegnet zu sein. Folglich konnte er ihr auch ganz bestimmt nicht das Du angeboten haben. Er würde sich jedenfalls bei dieser Suche im Hintergrund halten. Sollten sich doch die anderen zum Affen machen. Er musste niemanden überführen und er war überzeugt davon, dass auch die dümmsten und passivsten Escape-Raum-Besucher hinterher pünktlich auf ihren Plätzen im Theater sitzen würden. Wenn man dieses blöde Schloss am Ende der halben Stunde nicht geknackt hatte, dann würde schon jemand kommen, der die Tür öffnete und die nächste Gruppe hereinließ. 

   Immerhin waren sie nur zu fünft und mussten in dem fensterlosen Raum nicht noch die Aerosole wildfremder Menschen einatmen, mit welchen Viren auch immer die bestückt waren. 

   Die Tür fiel hinter ihnen ins Schloss. Sie befanden sich in einem etwas altmodisch eingerichteten Arbeitszimmer mit einem Mahagonischreibtisch und einer Schrankwand mit teils offenen Bücherregalen und einigen geschlossenen Schränken. Ein Couchtisch wurde von zwei Sesseln flankiert. In einer Ecke standen eine Stehlampe mit grünem Schirm und ein kleiner Kühlschrank. An den Wänden waren einige Fotos angebracht. Neben der Tür war eine Garderobe an die Wand geschraubt. Darunter stand ein Schirmständer. Über der Ausgangstür hing eine große Wanduhr. Auf den zweiten Blick stellte man fest, dass es sich um eine Art Timer handelte, der auf dreißig Minuten eingestellt worden war. Man hatte also stets im Blick, wieviel Zeit einem noch blieb.

   »Lies schon vor«, forderte Rasmus ungeduldig, bei dem sich jetzt doch Anflüge von Jagdfieber zeigten.

   Axel folgte dieser Anweisung: »Ihr befindet euch im Arbeitszimmer von Alexander Grafenberg, der zusammen mit seiner Frau Bianca am heutigen Tag vier ehemalige Schulfreunde zu sich nach Hause eingeladen hat. Anlass ist der zwanzigste Jahrestag des Abiturs der Gruppe. Leider kann Alexander nicht an der Feier teilnehmen, weil einer der Gäste ihn in seine Gewalt gebracht hat und ihn, zu einem Paket verschnürt, im finstersten Keller des Hauses gefangen hält. Der Täter oder die Täterin hat ihn betäubt, geknebelt und gefesselt. Alexander bekommt so wenig Luft, dass er in einer halben Stunde erstickt, wenn ihr ihm bis dahin nicht zu Hilfe eilt. Also versucht alles, um aus diesem verschlossenen Raum zu entfliehen. Es geht um ein Menschenleben.« 

   Rasmus zog die Augenbrauen hoch. Was für ein hanebüchener Unsinn. Wenn das Theaterstück von gleicher Qualität war wie diese Story, dann stand ihm ein öder Abend bevor. Seine Tochter sah ihn an und las die Zweifel in seinen Augen. »Komm Papa, jetzt legen wir mal richtig los. Vielleicht macht dir das Ganze ja doch Spaß. Ich schlage vor, Axel durchsucht den Raum. Dafür ist er schließlich ausgebildet. Und du, Papa, setzt dich an den Schreibtisch und wertest die Hinweise aus. Bis du welche bekommst, kannst du ja vielleicht die Schubladen durchstöbern.« 

   »Und was machen wir anderen?«, fragte Anne.

   »Ihr helft mir beim Suchen nach Hinweisen«, schlug Axel vor. »Mama, du könntest alle Bücher aus dem Regal herausholen und einmal schütteln. Möglicherweise ist in einem ein Zettel mit einem Hinweis versteckt. Oder eins der Bücher könnte vom Inhalt her nützlich sein. 

   Achtet vor allem auf die Begriffe Abitur, Schule und Klassentreffen. Wichtig ist, welche Schränke verschlossen sind. Möglicherweise findet ihr irgendwo Zahlenschlösser, für die wir eine Kombination brauchen. Wir sammeln alles, was nicht niet- und nagelfest ist und nach einem Hinweis aussieht, dort vorne auf dem Couchtisch. Und jetzt: Waidmanns Heil.« 

   Während Rasmus am Schreibtisch saß und die entsprechenden Fächer durchsuchte, verteilten sich Luzie, Axel und dessen Eltern auf den restlichen Raum. Etwa fünf Minuten lang herrschte hektische Betriebsamkeit. Schubladen wurden geöffnet, Bücher geschüttelt und Schränke durchwühlt. Danach wurde die Beute gesichtet. 

   Anne hatte in einem Buch einen Zettel gefunden mit dem Hinweis »682 (1 grün)«. Außerdem war ein weiteres Buch nur eine Attrappe. In Wirklichkeit handelte es sich um ein Kästchen, in dem ein Schlüssel verborgen gewesen war.

   Rasmus' Ausbeute bestand aus einem durchsichtigen Plastikbeutel, in dem ein Feuerzeug, ein paar Krümel Blumenerde und eine Spielkarte lagen, das Herz-Ass. Außerdem hatte er im Schreibtisch das Ergebnis eines Vaterschaftstests gefunden, aus dem hervorging, dass die eingesandte DNA mit 99-prozentiger Wahrscheinlichkeit dem Vater des Kindes mit Namen Aline Eller zuzuordnen sei. Adressiert war das Schreiben an Alexander Grafenberg. Darüber hinaus hatte er eine Abiturzeitung des Jahrgangs 2002 gefunden, aber noch keine Zeit gehabt, sie gründlich zu studieren.

   Auch Wolfgang war erfolgreich gewesen. Er hatte gleich zwei dieser merkwürdigen Zahlenkombinationen gefunden. Die eine klebte unter der Platte des Couchtischs, die andere war hinter einer der Fotografien an der Wand verborgen gewesen. Sie lauteten »614 (1 gelb)« und »206 (2 gelb)«. Von diesen Zetteln schien es im Arbeitszimmer Alexander Grafenbergs nur so zu wimmeln. Luzie hatte ebenfalls zwei davon gefunden: »738 (-)« und »870 (1 gelb)«. Einer steckte in einer Zeitschrift, der andere in der Tasche einer Jacke, die an der Garderobe hing. 

   »Wenn man nur wüsste, ob diese fünf Zahlenkombinationen vollständig sind. Vielleicht haben wir bisher ja nur die Hälfte gefunden«, überlegte Luzie.

   »Und wofür sie überhaupt gut sind«, ergänzte Anne. 

   »Gebt mir mal die Zettel«, verlangte Wolfgang. »Das sieht für mich nach einem Logikrätsel aus. Das ist genau mein Ding.« Er setzte sich an den mittlerweile von Rasmus geräumten Schreibtisch, breitete die fünf Zettel vor sich aus und griff nach Stift und Papier. Danach tauchte er gedanklich ab.

   Während die anderen mit der Suche nach Hinweisen beschäftigt gewesen waren, hatte Axel versucht, sich dem Problem systematisch zu nähern. Er hatte sich gemerkt, welche Schränke oder Türen sich nicht öffnen ließen und welche Art von Schlüsseln oder Informationen nötig waren, um diese Hindernisse zu überwinden.

   Für die Ausgangstür wurde ein ganz normaler Türschlüssel gebraucht. Außerdem versperrt war der Kühlschrank, an dem ein Öffnungsmechanismus angebracht war, der ähnlich wie ein Zahlenschloss funktionierte. Hier galt es jedoch, eine Kombination aus drei Farben einzugeben. An einem Schrank in der Schrankwand gab es ein Schloss mit vier Zahlen und für einen Safe, der sich hinter einem der Wandbilder befand, wurden drei Zahlen benötigt.

   »Ich vermute mal, das Drei-Zahlen-Schloss wird mit dem Rätsel gelöst, an dem Papa gerade herumtüftelt. Schließlich handelt es sich auf den Karten auch immer um dreistellige Zahlen. Auf das Farbrätsel haben wir überhaupt noch keinen Hinweis. Und was zum Teufel bedeutet dieser Plastikbeutel mit der Spielkarte, der Blumenerde und dem Feuerzeug?« 

   »Ich hab's«, rief Wolfgang triumphierend. »Ich wusste doch, das ist ein Logikrätsel. Braucht ihr irgendwo eine Dreier-Zahlenkombination?« Wolfgang hatte sich in den vergangenen Minuten geistig und akustisch vollständig aus der Gruppe verabschiedet und sich ausschließlich auf sein Rätsel konzentriert.

   »Die nehmen wir sehr gerne«, antwortete Axel. »Leg los, Papa.«  

   Wolfgang wollte noch einen Moment lang seinen Triumph auskosten und rückte daher nicht sofort mit der Lösung heraus. »Es ist das gleiche Prinzip wie bei Wordle, diesem Internetspiel, bei dem man fünfbuchstabige Wörter erraten muss. Gelb bedeutet, eine richtige Zahl steht an einer falschen Stelle. Bei Grün stimmen Zahl und Stelle. Zweimal Gelb bedeutet also, dass zwei der drei Zahlen richtig sind, aber beide nicht an der korrekten Stelle stehen.«

   »Nun mach schon, Wolfgang«, drängte seine Ehefrau.

   »Die Lösung ist 042«, erklärte Axels Vater.

   Axel gab die drei Ziffern in den Mechanismus ein, der den Safe sicherte. Die Tür schwang auf. Im Safe befand sich zur nicht geringen Überraschung aller eine handelsübliche Flasche Mineralwasser. Axel überreichte die Flasche seiner Freundin Luzie. »Du hast geschicktere Finger und vor allem längere Nägel. Versuch doch mal, das Etikett vorsichtig abzulösen. Vielleicht finden wir dahinter eine Botschaft.«  

   Luzie mühte sich mit dem Etikett ab, um es beim Ablösen nicht zu zerstören. Aber der Versuch, auf diese Weise einen neuen Hinweis zu erhalten, blieb erfolglos. Auch auf den zweiten Blick handelte es sich lediglich um eine ganz gewöhnliche Flasche Mineralwasser.

   »Das ist wahrscheinlich eine dieser falschen Fährten, von denen die Frau am Eingang erzählt hat«, vermutete Rasmus.

   »Was tun wir jetzt?«, wollte Anne wissen.

   Axel sah auf den Timer über der Ausgangstür. Sie hatten zwölf Minuten der kostbaren Zeit verbraucht. »Wir sollten zweigleisig fahren. Einerseits müssen wir den Schlüssel finden und andererseits brauchen wir die Informationen aus der Abizeitung. Wer möchte sich damit auseinandersetzen?« 

   »Das mache ich«, sagte Rasmus schnell. Mit der Zeitung konnte er sich bequem wieder an den Schreibtisch setzen, während die anderen wahrscheinlich zwischen den Sesseln herumkriechen mussten.

   »Könnt ihr mal einen kleinen Moment total still sein?«, bat Wolfgang. »Da ist irgendwo ein merkwürdiges Nebengeräusch, ganz leise, aber eigentlich nicht zu überhören.«  

   Alle verstummten und strengten regungslos ihr Gehör an. Rasmus hörte nichts. Aber die anderen vier nickten sich zu.

   »Das hört sich nach einem tropfenden Wasserhahn an«, vermutete Luzie.

   »Er tropft das Morse-Alphabet«, stellte Wolfgang fest. Hört mal: kurz kurz lang lang lang, Pause, kurz kurz kurz lang lang, Pause, kurz lang lang lang lang, Pause, lang lang lang lang lang, längere Pause.

   »Ich habe vorhin ein Buch über das Morsen im Regal gesehen«, sagte Anne. »Aber zu dem Zeitpunkt habe ich nur nach Zetteln in Büchern gesucht. Wo hat das bloß gestanden?« Anne und Luzie machten sich auf die Suche und fanden das Buch beinahe sofort. 

   Wolfgang, der immerhin erkannt hatte, dass es sich überhaupt um Morsezeichen handelte, wurde das Buch in die Hand gedrückt. Er stellte relativ schnell fest, dass die Morsezeichen Zahlen waren. Er bat noch einmal um Ruhe und übertrug den Code auf ein Blatt Papier. Es handelt sich um die Zahlen 2310.

   Axel gab diese Kombinationen in das Vorhängeschloss ein, das den verschlossenen Teil der Schrankwand sicherte. Das Schloss ließ sich entfernen. Die Ausbeute war eine weitere Flasche Mineralwasser.

   »Also, ich habe Durst«, sagte Rasmus und öffnete den Schraubverschluss der ersten Flasche, die auf dem Schreibtisch stand. Bevor jemand protestieren konnte, nahm er einen herzhaften Schluck aus der Flasche.

   Seine Mitstreiter sahen ihn verständnislos an. »Mensch Papa, du kannst doch nicht einfach unsere Hinweise austrinken. Wer weiß, wofür wir das Wasser noch brauchen.« 

   »Ach Unsinn«, brummte Rasmus. »Wie soll man denn mit Mineralwasser eine Tür öffnen? Allenfalls brauchen wir die leeren Flaschen.«  

   Inzwischen hatte Luzie auch das zweite Etikett abgeknibbelt. Wieder Fehlanzeige.

   »Wir haben noch vierzehn Minuten. Wir sollten uns jetzt mal auf die Erde, das Feuerzeug und die Spielkarte konzentrieren. Worauf könnten die hindeuten?« Anne betrachtete den Inhalt der Plastiktüte und ihr Blick schweifte durchs Zimmer. Da war ein Blumentopf. Vielleicht hatte die Erde irgendetwas mit diesem Topf zu tun. Sie hob den Plastikfarn an und tatsächlich: Unter dem Topf befand sich ein orangefarbener Klebepunkt. Anne deutete auf den Kühlschrank, der mit einem Farbcode geöffnet werden konnte. »Ist Orange eine der Farboptionen?« 

   Axel nickte. »Wofür braucht man ein Feuerzeug?«, sinnierte er. Wolfgang wies auf einen Kerzenhalter mit einer halb abgebrannten roten Kerze. »Rot«, stellte er fest. Anne schien das zu einfach. Sie hob den Kerzenleuchter hoch, so wie sie es mit dem Blumentopf getan hatte, und richtig, darunter war wieder ein Farbpunkt angebracht. Diesmal handelte es sich um Türkis. 

   »Jetzt müssen wir nur noch die Spielkarte unterbringen«, sagte Luzie.

   »Kein Problem«, erwiderte Wolfgang. »Da drüben in dem Sideboard ist eine Spielesammlung.« Er brachte den Karton. Anne hob ihn an und schaute auf den Boden des Kartons. Ganz so einfach war es jedoch diesmal nicht. Axel öffnete die Schachtel und fand neben den üblichen Würfeln, Spielfiguren und Spielbrettern auch ein Kartenspiel. Hier wurden sie fündig. Ein brauner Punkt klebte unter dem noch in Folie eingeschweißten Blatt. »Braun, türkis, orange«, fasste Axel zusammen. »Nur in welcher Reihenfolge?« 

   »Da wir die drei Farben kennen, gibt es insgesamt nur sechs Möglichkeiten«, sagte Wolfgang. »Drei Fakultät«, ergänzte er erläuternd. »Das können wir also durch Probieren lösen. Lasst mich mal ran.« Er hockte sich vor den Kühlschrank und begann mit der ersten Möglichkeit. Dreißig Sekunden später hatte er die Lösung gefunden und öffnete den Kühlschrank. »Vielleicht gibt es jetzt mal etwas Hochprozentiges zum Wasser«, hoffte er. Aber so richtig überrascht war niemand, als die dritte Flasche Wasser zum Vorschein kam.

   »Sind Sie etwa Mathematiklehrer?«, fragte Rasmus misstrauisch.

   »Nein, Finanzbeamter«, erläuterte Wolfgang.

   »Noch schlimmer«, grollte Rasmus. Wolfgang nickte ergeben. Diese Reaktion hatte er schon tausend Mal erlebt und überlebt. 

   »Noch acht Minuten«, stellte Rasmus fest und klappte die Abizeitung zu. Der Inhalt hatte ihn nicht sehr interessiert. Aber er hatte seinen Job erledigt und hätte zumindest in groben Zügen über den Inhalt referieren können.

   »Drei Flaschen Wasser«, sinnierte Axel. »Wie zum Teufel können wir damit das Schloss öffnen?« Er trat noch einmal an die Tür, gewann dadurch aber keine neuen Erkenntnisse. Er betrachtete deren unmittelbare Umgebung. Oberhalb befand sich der wie eine Wanduhr gestaltete Timer. Axel reckte sich und versuchte, die Uhr von der Wand zu nehmen. Das war nicht möglich. Bernd Jürgens, Lukas' Stiefvater, hatte sie so befestigt, dass sie der Zerstörungswut von vielen Escape-Gruppen standhalten würde. 

   Axels Blick fiel auf die Garderobe und den Schirmständer neben der Tür. Er durchsuchte zum zweiten Mal die Jacke, die dort hing. In keiner der Taschen befand sich ein Schlüssel. Das wäre wohl auch zu einfach gewesen. 

   »Zeig mir doch bitte noch mal den Schlüssel, den du in der Buchattrappe gefunden hast, Mama.« Anne holte den kleinen Schlüssel, aber wie erwartet passte er nicht in das Türschloss. Er sah aus, als könne man mit ihm eine Kassette öffnen oder ein Fahrradschloss.

   Axel nahm den Schirm aus dem schwarzen Plastikständer. Erst jetzt fiel ihm auf, wie ungewöhnlich schmal der Ständer war. Mit Ach und Krach hatte der eng zusammengerollte Schirm hineingepasst. Er kramte nach seinem Handy und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. Er leuchtete in den Schirmständer und erspähte auf dessen Boden einen Schlüssel mit einem kleinen Gummiball als Anhänger. Axel versuchte, den Schirmständer anzuheben und umzudrehen, um den Schlüssel herauszukippen. Aber der Ständer war am Boden befestigt.

   »Ich glaube, wir haben es geschafft«, triumphierte Axel. »Am Boden des Schirmständers liegt der Schlüssel, den wir vermutlich brauchen. Er hat einen kleinen Gummianhänger, der ihm vermutlich im Wasser Auftrieb verschafft. Wo sind die Wasserflaschen?« 

   Luzie brachte ihm die drei Flaschen. Vorsichtig goss Axel das Wasser in den schwarzen Plastikschirmständer und tatsächlich stieg der Schlüssel mit dem Wasserstand nach oben. Axel verschüttete keinen Tropfen, musste aber feststellen, dass es genau die halbe Flasche war, mit der Rasmus seinen Durst gelöscht hatte, die jetzt fehlte. Er seufzte, rief sich aber sofort selbst zur Ordnung. Rasmus hatte ihnen ja nicht mit Absicht den Triumph vermasselt. Außerdem war er heute der Jubilar und die Hauptperson und - last but not least - er war Luzies Vater. Aber all das verringerte Axels Frust im Moment der Niederlage nicht wirklich. Also hielt er den Mund.

   »Schade«, stellte Wolfgang freundlich fest. »Immerhin können wir uns ja damit trösten, dass unser Versagen nicht am Intellekt, sondern am Durst gelegen hat. Das ist doch für einen Düsseldorfer eigentlich ein schönes Ergebnis.« 

   Aus einem Lautsprecher, den bisher niemand bemerkt hatte, ertönte die Stimme Friederike Franzens: »Ihr habt das bis hierhin super gemacht. Ihr habt noch vier Minuten. Denkt mal in eine ganz düstere Richtung. Dann findet ihr vielleicht die letzte versteckte zusätzliche Flasche.«

   Das Erstaunen der Gruppe wich beinahe sofort einer gewissen Ratlosigkeit. »Was meint sie denn mit düsterer Richtung?«, fragte sich Luzie. Diesmal hatte Anne die Eingebung. Sie ging auf die Tür zu und betätigte den daneben liegenden Lichtschalter. Es wurde finster im Raum bis auf einen leuchtenden Punkt an der Wand. Axel hielt den Finger genau auf diese Stelle und bat seine Mutter darum, das Licht wieder einzuschalten. 

   Es ward Licht. Alle scharten sich um Axel und wunderten sich jetzt, wieso sie den kleinen Hebel übersehen hatten, der allerdings fast vollständig im Muster der Tapete unterging. Axel betätigte den Hebel. Aus dem Schreibtisch sprang ein Geheimfach heraus, in dem die vierte Flasche Wasser lag. Jubel brandete auf. 

   Axel goss das fehlende Wasser in den Schirmständer. Luzie, die über die schmalsten Hände der Gruppe verfügte, angelte den Schlüssel heraus und schloss die Tür auf. »Herzlichen Glückwunsch«, sagte Friederike Franzen und überreichte der siegreichen Gruppe Gutscheine für je ein Getränk an der Bar. »Ihr seid die erste Gruppe, die es geschafft hat. 

   »Wieso geschafft?«, grinste Axel. Jetzt müssen wir doch wohl erst den finsteren Keller finden, in den der Hausherr verschleppt worden ist. Nach meiner Information zählt jede Sekunde.« 

   Neben der Tür warteten bereits die Neunzehn-Uhr-Gruppen. Eine kleine Frau mit einer großen Handtasche zupfte Rasmus am Arm und flüsterte: »Geben Sie mir mal ein paar Tipps. Oder verraten mir am besten gleich die Lösung.« Rasmus wandte sich nonchalant um und befreite seinen Ärmel von der zupfenden Dame. »Aber gnädige Frau, Sie wollen sich doch sicher den Spaß nicht verderben. Bemühen Sie doch einfach mal ihr eigenes Gehirn. Das wird möglicherweise eine völlig neue Erfahrung für Sie.« 

 

 

 

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