Die Substanz hatte sich vollständig in der dunkelroten Flüssigkeit aufgelöst. Sie war nicht zu sehen, nicht zu riechen und auch kaum zu schmecken. Die Chance, dem Tod zu entgehen, war minimal, bezog sich gerade mal auf dieses ,kaum’.
Die Flüssigkeit gluckerte durch den Flaschenhals und floss in ein Weinglas. Zwei Menschen betrachteten den Vorgang mit den unterschiedlichsten Gefühlen. Auf der einen Seite beinahe unerträgliche Anspannung, auf der anderen gelöste Erwartung.
„Und du willst wirklich nichts trinken?“ – „Ich muss noch fahren.“
Sie fasste spielerisch den Stiel an, hob das Glas, prostete ihrem Gegenüber zu, schloss die Augen und schnupperte an seinem Inhalt. Sie lächelte zufrieden und trank einen Schluck.
Das Gift erreichte ihren Mund, sie ließ die Flüssigkeit im Gaumen kreisen und schluckte sie hinunter.
Es durchquerte ihre Speiseröhre und ihren Magen und gelangte in ihre Blutbahn und ihr Nervensystem.
Noch war es nicht genug. Noch hätte sie aufstehen und weglaufen können. Aber sie spürte die Gefahr nicht und trank kurz darauf genießerisch den nächsten Schluck. Und noch einen. „Ein wunderbarer Wein“. Ihr Gegenüber lächelte und schenkte nach.
Sie wurde müde – todmüde. Sie schreckte hoch. Warum war sie plötzlich allein? Schlafen – nur noch schlafen. Sie versuchte mit gewaltiger Anstrengung, aus dem Sessel aufzustehen. Alles drehte sich. Warum war die Musik so laut? „Hilfe“, dachte sie und machte einen erneuten Versuch, aufzustehen.
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Und wieder sprang die Ampel um auf Gelb. Anna hatte den Impuls, einfach durchzufahren. Ihr Herz hämmerte, sie hatte feuchte Hände. Es wurde Rot, sie hielt. ‚Und schon wieder Pole-Position’, dachte sie erbittert. ‚Bitte, bitte, lass es nicht Marie sein oder Jule. Nur die beiden nicht!’ Sie fixierte den schwarzen Kreis unter dem roten Licht und versuchte ihm zu suggerieren, gelb zu werden. Sie tippte ungeduldig aufs Gaspedal und wartete schwitzend vor Angst darauf, dass sie endlich vorwärts kam.
Sie fuhr ruckartig an. Jetzt bloß nicht den Motor abwürgen. Und hundert Meter weiter schon wieder Rot. „Ruhig Anna“, sagte sie halblaut, „Marie und Jule können es nicht sein. Sie sind morgens um zehn in der Schule.“ Endlich Grün. Sie bog rechts ab und beschleunigte den Wagen, so gut es eben ging, obwohl sie ganz genau wusste, dass sie am Ende der Straße die nächste rote Ampel erwartete. Sie zwang sich nach einem Blick auf den Tacho vom Gas herunterzugehen. Den Führerschein brauchte sie für ihren Job. Dieser Gedanke drang sogar durch ihren Panzer aus Panik, der ihr die Luft abschnürte.
Marie war in der Oberstufe eines Gymnasiums und durfte daher in Freistunden die Schule verlassen und Julia konnte es schlecht geworden sein. Vielleicht hatte man sie doch nach Hause geschickt. Ein neuer Angstschauer durchflutete sie, während der Panzer von außen drückte. Gleich hatte sie es geschafft. Zwei Minuten später, unbehelligt von weiteren Ampeln und wenig beeindruckt von einer innerstädtischen Tempo-30-Zone, sah sie das Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnte, allerdings noch in einiger Entfernung. Die enge Straße war abgesperrt. Ein Polizist stand neben seinem Motorrad und wies freundlich aber bestimmt in eine andere Richtung.
Anna kurbelte das Seitenfenster herunter. Er runzelte die Stirn. „Bitte fahren Sie weiter. Sie sehen doch, Sie kommen hier nicht durch.“ Anna sah mehrere Polizeiautos und einen Notarztwagen vor ihrer Haustür. Sie stieg aus. „Ich wohne hier. Ich muss nach Hause.“ Sie drückte dem überraschten Polizisten ihren Schlüsselbund in die Hand und rannte los.
Vor der Tür stieß sie auf ein vage bekanntes Gesicht. „Was ist passiert?“, schrie sie. „Es wird mir immer ein Rätsel bleiben, wie schnell ihr Journalisten Wind von so einer Sache bekommt“, wunderte sich Hauptkommissar Brecht. „Tut mir Leid, beim derzeitigen Stand der Ermittlungen sage ich gar nichts. Ich gebe nicht mal zu, dass wir dienstlich hier sind.“ Anna verzweifelte: „Verstehen Sie doch, ich wohne hier. Ich will wissen, was mit meinen Kindern ist. Ich weiß, dass in diesem Haus ein Toter gefunden worden ist.“ Brecht sah sie betroffen an. Er legte einen Arm um ihre Schulter und sagte schnell: „Keine Sorge. Ihren Kindern geht es gut. Aber unter diesen Umständen können sie mir vielleicht sogar helfen. Einen Moment bitte.“
Anna setzte sich auf die Stufen vor der Tür. Grenzenlose Erleichterung hatte ihre Beine offenbar in eine wackelpuddingähnliche Masse verwandelt. Sie trugen sie nicht mehr. Irgendjemand reichte ihr einen Becher Kaffee. Ihre Hände zitterten, aber sie schaffte es, einen Schluck zu trinken. Und noch einen, obwohl Anna Milchkaffee mit Zucker hasste. Sie verzog angewidert das Gesicht. Brecht sah sie fragend an. „Es ist nichts“, sagte sie. „Ich trinke ihn lieber schwarz. Aber das ist jetzt wirklich nicht wichtig.“
Sie wurde ruhiger. Wenn es nicht eins ihrer Kinder war, wer war es dann? Ihre Gedanken wanderten durch die Etagen. Unter dem Dach hausten Studenten in einer WG und zahlten dafür eine absolut horrende Miete. In der zweiten Etage wohnten Anna und ihre Töchter. Darunter residierte der Hauswirt Egidius Knecht. Anna schämte sich sofort für den Gedanken, wenn es denn schon einen aus der Hausgemeinschaft getroffen habe, dann möge es wenigstens der unbeliebte Eigentümer sein. Nein, so etwas durfte man niemandem ernsthaft wünschen, auch wenn sie ihm im Laufe der Jahre so manches Mal gerne die Beulenpest oder wenigstens die Steuerfahndung an den Hals gehext hätte.
Die Anspannung ließ nach und unwillkürlich machten sich ihre Gedanken selbstständig und wanderten zu den endlosen Auseinandersetzungen der letzten Jahre, in denen erst Kinderwagen und dann Fahrräder im Flur, Geranienblätter im Kellerschacht („Als Sie die Blumenkästen noch nicht hatten, sah diese Straße noch ordentlich aus...“) und die Lautstärke von Musik und Töchtern („Kinder darf man nur sehen, aber nicht hören...“) eine endlose Rolle gespielt hatten. Trotzdem...
Unter Knecht im Parterre quetschten sich auf der einen Seite in einer kleinen Wohnung Silvia und Anton Hermann mit ihren Kindern Gloria und Pierre zusammen, während die andere Seite von der Lehrerin Lisa Rister bewohnt wurde. Lisa wohnte genau wie Anna schon viele Jahre hier und war eine ganz enge Freundin. Unzählige Male war sie als Babysitter eingesprungen, wenn es Anna wegen ihres Jobs als Lokalredakteurin wieder einmal nicht schaffte, pünktlich zur Stelle zu sein. „Bitte auch nicht Lisa“, flüsterte Anna. „Es soll jemand sein, den ich nicht kenne, ein Besucher oder ein Handwerker, egal.“
Hauptkommissar Brecht, den sie zuletzt bei einer Pressekonferenz in der vergangenen Woche getroffen hatte, bei der es um den Tod eines Obdachlosen ging, der von einem Kollegen erschlagen worden war, kam wieder auf sie zu. „Jetzt verraten Sie mir erst einmal, wieso Sie so schnell vor Ort waren“, forderte er. Anna stand auf und bemerkte erleichtert, dass ihre Beine wieder ihren Dienst angetreten hatten. Ihre Stimme klang erschöpft: „Wir haben einen Anruf in der Redaktion bekommen. Einer unserer Leser vergnügt sich damit, den Polizeifunk abzuhören. Wenn er auf etwas Aufregendes stößt, meldet er sich gelegentlich bei uns. Die Redaktionssekretärin hat den Anruf entgegengenommen. Sie kennt meine Adresse und hat mich sofort informiert. Ich war gerade bei einem Termin in Oberkassel. Ich habe alles stehen- und liegenlassen und bin sofort nach Hause gebrettert.“ – „Aber sicher nur mit Tempo fünfzig?“, vermutete Brecht trocken. Anna ging darauf nicht ein und fragte: „Wer ist es?“
„Ihr Name ist Lisa Rister. Der Hauswirt hat sie identifiziert. Kannten Sie sie näher?“ Anna schossen die Tränen in die Augen. Sie nickte. „Sie war meine beste Freundin“, antwortete sie tonlos, während ihr die Tränen über die Wangen liefen. Brecht spürte plötzlich einen Anflug von Mitleid und dachte: ‚Wie viele Jahre kenne ich sie eigentlich schon flüchtig? Sie immer auf der anderen Seite als ich. Sie auf der Jagd nach Informationen, ich oft als Mauer, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. Wir tun doch beide nur unseren Job.’
„Was ist passiert?“, fragte Anna. „Wir wissen noch nichts Genaues“, bedauerte Brecht. „Aber es sieht nach Selbstmord aus.“ – „Selbstmord?“, wiederholte Anna entsetzt. „Wenn sie Probleme hatte, warum ist sie dann nicht zu mir gekommen? Ich war doch da, ich war immer für sie da.“ Sie stockte. „Nein eigentlich war es umgekehrt. Sie war immer für mich und die Kinder da. Wahrscheinlich habe ich mich nicht genug um sie gekümmert. Ich wusste nicht mal, dass sie Sorgen hatte.“
„Es ist noch gar nicht sicher, dass es sich überhaupt um Selbstmord handelt“, beschwichtigte Brecht. Es kann durchaus auch Fremdverschulden vorliegen“, meinte er und dachte unwillkürlich, wie absurd es doch sei, jemanden damit trösten zu wollen, es habe sich ja vielleicht ‚nur‘ um Mord oder Totschlag gehandelt. Was gab es Schlimmeres, als dass ein Mensch einem anderen das Leben nahm?
„Und ein Unfall“, tastete sich Anna vor. „Sehr unwahrscheinlich. Ich habe noch nie gehört, dass jemand versehentlich ein hochwirksames Schlafmittel in Überdosis in einer Flasche Rotwein auflöst und das Ganze dann unabsichtlich trinkt.“
„Woher wissen Sie, dass im Rotwein Barbiturate waren?“ – „Bevor die Laborauswertungen nicht vorliegen, wissen wir gar nichts. Aber auf dem Tisch haben wir die fast leere Rotweinflasche und ein Röhrchen mit hoch dosierten Schlaftabletten gefunden.“
„Dann war es ohne jeden Zweifel Mord“, sagte Anna entschieden. „Lisa hätte sich erschossen, erhängt oder wäre gegen einen Baum gefahren, aber sie hätte sich niemals mit Tabletten vergiftet. Sie hat Pillen in jeder Form gehasst. Wenn sie krank war, hat sie immer versucht, alles mit Kräutern, Tees und anderen Hausmitteln zu kurieren. Vor Jahren hatte sie einmal eine Lungenentzündung, an der sie beinahe gestorben wäre, weil sie sich geweigert hat, Antibiotika zu nehmen.“
„Aber Wein hat sie getrunken? Ich meine, diese Gesundheitsapostel lehnen doch meistens auch jede Form von Alkohol ab“, tastete sich Brecht vor. „Doch das hat sie. Sie kannte sich sogar ganz gut aus damit.“ Annas Tränenstrom versiegte langsam. Sie putzte sich die Nase und fragte: „Was ist das jetzt eigentlich hier? Ein Verhör oder eine Presseinformation?“ Brecht antwortete entschieden: „Weder noch. Das ist erst einmal ein Gespräch. Sie gehören für mich momentan nicht unbedingt zu den Tatverdächtigen und ich gebe ganz bestimmt zu diesem Zeitpunkt, in dem wir noch völlig im Dunkeln tappen, keine Pressemitteilungen heraus.“ Anna besann sich auf ihre beruflichen Pflichten. „Aber Sie nehmen nicht ernsthaft an, dass ich darüber nicht schreibe? Ich habe schließlich Verpflichtungen gegenüber meinem Boss und meinen Lesern“, ergänzte sie etwas hochtrabend.
Brecht zuckte mit den Schultern. „Ich kann Sie nicht daran hindern, über das, was in Ihrer Nachbarschaft passiert, zu berichten, aber hüten Sie sich bitte davor, mich zu zitieren. Was wir momentan miteinander bereden, dient lediglich dazu, den möglichen Mörder von Frau Rister zu finden. Ich betone aber nochmal, es ist eher unwahrscheinlich, dass es sich überhaupt um einen Mord handelt.“
„Wer hat sie gefunden?“, fragte Anna. „Der Hausbesitzer. Er scheint etwas geräuschempfindlich zu sein.“ Anna nickte bestätigend. „Das kann man wohl sagen.“ - „Er hat im Hof sein Fahrrad repariert und sich gewundert, dass aus Frau Risters Wohnung seiner Meinung nach viel zu laute Musik dröhnte. Ich glaube, es war auch das falsche Liedgut. Er steht wohl mehr auf die Kastelruther Herzbuben oder wie immer die auch heißen. Jedenfalls kam es ihm merkwürdig vor, aus der Wohnung einer Lehrerin während der Schulzeit vormittags Musik zu hören. Er hat vergeblich geklingelt und später aus seiner Wohnung versucht anzurufen. Danach hat er mit seinem Schlüssel die Wohnungstür geöffnet und sie gefunden.“
Anna zog verblüfft die Stirn in Falten. „Merkwürdig. Wie lange läuft denn so eine CD? Außerdem hat sie ganz sicher morgens keinen Wein getrunken.“
Brecht schüttelte den Kopf. „Es war keine CD. Die Musik kam von einem iPod und das Ding war auf Zufall eingestellt, lief also endlos. Der Polizeiarzt kann vor der Obduktion natürlich noch nichts Endgültiges sagen, aber er ist sich sicher, sie ist schon etliche Stunden tot. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen?“
Anna überlegte. „Ich habe sie vorgestern im Treppenhaus getroffen. Wir haben uns kurz unterhalten, aber wir waren beide in Eile.“ Brecht unterbrach sie. „Wie wirkte sie? Hat sie irgendetwas gesagt, was uns jetzt weiterhelfen könnte? War sie gesund? Wie war ihre Stimmung?“
„Sie war etwas gestresst. Sie steckte mitten in den Korrekturen ihrer Abiturklausuren. Sie hat in diesem Schuljahr einen Leistungskurs unterrichtet und das macht offenbar viel Arbeit. Trotzdem haben wir uns lose verabredet, uns am nächsten Wochenende in der Kneipe an der Ecke zu treffen, um mal wieder in Ruhe zu reden.“ Anna kämpfte erneut halbwegs erfolgreich gegen die Tränen, die ihr wieder in die Augen schossen. „Moment“, überlegte sie, „meine Tochter Julia war gestern Abend noch bei ihr. Sie hatte ein Problem mit irgendwelchen quadratischen Ergänzungen oder was weiß ich. Ich habe nicht viel Ahnung von Mathematik.“
„Um wieviel Uhr ist Ihre Tochter zurückgekommen?“ Anna schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht genau. Ich frage sie, wenn sie heute Mittag aus der Schule kommt. Ich meine, es müsste ungefähr acht, halb neun gewesen sein. Aber ich habe nicht auf die Uhr gesehen.“
„Achtung. Bitte machen Sie den Weg frei.“ Anna und Brecht gingen ein paar Schritte von der Haustür weg und ließen zwei Männer durch, die einen Zinksarg trugen. Anna kämpfte gegen aufkommende Übelkeit. Brecht packte sie am Arm. „Kommen Sie, wir gehen in Ihre Wohnung. Da können Sie sich hinsetzen. Sie sind ganz grün im Gesicht.“
Anna und Brecht gingen in den Hausflur, der trotz einer Lampe aus den Fünfzigern, einem abgewetzten roten Kokosläufer und Blechbriefkästen Marke Baumarkt nichts von seiner Imposanz eingebüßt hatte. Die hohen Jugendstildecken wurden von Stuckrosetten geschmückt, Boden und ein Teil der Wände bestanden aus hellgrauem Marmor.
Sie wollten gerade die Treppe betreten, als Anna abwinkte. „Wir kommen nicht rein. Ich habe meinen Wagen einfach mitten auf der Straße stehenlassen und einem Polizisten, der sie abgesperrt hat, den Schlüssel in die Hand gedrückt.“
„Setzen Sie sich auf die Treppe. Ich hole ihn.“ Brecht ging und Knecht kam. O Gott, dachte Anna. Erbarmen. Nicht jetzt. Aber Egidius Knecht kannte kein Pardon. „Ist das nicht furchtbar, Frau Heine?“ Anna nickte. „Und dieser Ärger jetzt. Das ganze Haus voll mit Polizei. Und ich habe keine Ahnung, wie es weitergeht. Wer zahlt die Miete? Und wie lange? Und was ist dann? Dann habe ich keine Mieter mehr. Und gerade jetzt, wo die Hermanns auch bald ausziehen.“
Anna übergab sich und traf dabei den Schuh von Egidius Knecht. Danach ging es ihr besser. Etwas später fand sie sogar, sie hätte ihm keine perfektere Antwort geben können. „Bah, das machen Sie auf der Stelle weg. Das sind ja Zustände heute in diesem Haus.“
Brecht brachte das Schlüsselbund und hakte sich bei Anna ein. Den letzten Satz hatte er noch gehört. Über die Schulter sagte er nach hinten in Richtung Egidius Knecht: „Sie sind sicher so freundlich, das Malheur zu beseitigen. Sie sehen ja, Frau Heine geht es nicht gut.“ – „Nein, nein, ich mache das gleich selbst“, sagte Anna erschrocken. Brecht konterte: „Unsinn, Nachbarn helfen sich in der Not. Das war schon immer so.“
„Das ist eine Unverschämtheit! Nachbarn? Ich bin hier der Eigentümer und kein Nachbar. Und das Fahrrad von der Marie steht auch schon wieder im Hausflur.“
Schweigend gingen Hauptkommissar Brecht und Anna Heine in die zweite Etage. Anna schloss auf und bat Brecht ins Wohnzimmer. Sie selbst lief mit einem Eimer und einem Aufnehmer bewaffnet schnell wieder die Treppe hinunter, wo ihre Bemühungen mit einem unfreundlichen „Das wurde aber auch Zeit und sehen Sie sich mal meine Schuhe an. So eine Schweinerei!“ quittiert wurden. Sie wischte die Treppe und ignorierte den Schuh und verschwand so schnell wie möglich aus dem Knecht‘schen Dunstkreis.
Oben fragte sie den Hauptkommissar: „Wie wäre es mit einem Kaffee oder Tee?“ Brecht entschied sich für einen Tee, folgte ihr in die große Wohnküche und ließ sich am Küchentisch nieder. Anna setzte den Wasserkocher in Gang und füllte Darjeeling in ein etwas ramponiert aussehendes Teeei. Er sah sich um. „Faktum“, stellte er mit kriminalistischem Scharfsinn fest. Anna nickte bestätigend. „Ich habe auch eine, nur mit anderen Fronten. Hatten Sie auch solche Probleme beim Aufbau?“ Anna dachte an ein chaotisches Wochenende, das schon ein paar Jahre zurücklag und nickte erneut. „Ohne Lisa hätte ich es nie geschafft. Sie war einer der wenigen Menschen, der Gebrauchsanweisungen zum Möbelaufbau begriffen hat.“
„Wie lange haben Sie sich gekannt?“, fragte Brecht. Anna überlegte. „Ich wohne hier seit meiner Scheidung. Das ist vierzehn Jahre her. Lisa zog ungefähr ein halbes Jahr später ein. So lange kennen wir uns. Wir waren ungefähr gleich alt. Sie hatte keine Familie und ich damals zwei kleine Kinder und keinen Vater dazu. Der hat nämlich das Geschrei und die Windeln und eine ewig müde Frau nicht ausgehalten. Ich musste zurück in meinen Job, auch wenn Marie damals erst knapp vier und Jule noch nicht mal zwei war. Ohne Lisa hätte ich das nie geschafft. Ich hatte zwar Tagesmütter und Hortplätze, aber jeder, der sich auskennt, weiß, dass solche Konstruktionen auf wackeligen Füßen stehen. Da muss ein Kind spätestens um vier Uhr vom Hort abgeholt werden, sonst stellen die Erzieherinnen es einfach vor die Tür und das sagen sie dann mal dem Oberbürgermeister, der erstens eine halbe Stunde zu spät kommt und dann eine zweistündige Rede hält.“
Brecht sah die Chance, mit einem Bonmot zu punkten und fragte mit dem Anflug eines Grinsens: „Wer hat noch mal gesagt: ‚Eine gute Rede sollte einen guten Anfang und einen guten Schluss haben und beide sollten möglichst dicht beieinander liegen‘? Ich glaube, es war Mark Twain, aber ich weiß es nicht mehr genau.“ Auch Anna zeigte die Spur eines Lächelns. „Egal, wer es gesagt hat, es stimmt.“ Sie stellte eine Tasse Tee vor Brecht auf den Küchentisch und dachte an die unzähligen oft langatmigen Reden, die sie sich im Laufe der vielen Jahre als Lokalredakteurin hatte anhören müssen. Und mehr noch, sie hatte sie nicht einfach an sich vorbeirauschen lassen dürfen, sondern die wichtigsten Gedanken für ihre Artikel herausfiltern müssen, wenn sie denn überhaupt so etwas wie Gedanken enthielten. Sie seufzte.
„Lisa ist immer wieder eingesprungen. Ich weiß nicht, wie oft sie die Kinder irgendwo abgeholt hat in all den Jahren. Wenn ich Abend- und Wochenenddienste hatte, war sie da. Wir waren fast so etwas wie eine Familie, Lisa, ihr Kater Piet, Marie, Jule und ich.“
„Gab es zwischen Ihnen beiden eine Beziehung?“ – „Meinen Sie, ob wir ein Paar waren?“ Brecht nickte. „Nein, wir sind beide überzeugte Heteros. Wir waren einfach nur Freundinnen. In den letzten Jahren, als die Kinder immer selbstständiger wurden, haben wir uns auch nicht mehr ganz so oft gesehen. Es gab nicht mehr diese Art von Notgemeinschaft. Wir haben zwar noch viel miteinander unternommen, aber in letzter Zeit auch immer mehr mit anderen Menschen. Lisa hatte viel mehr Geld als ich. Sie arbeitet nur für sich selbst und nicht wie ich für drei Personen. In letzter Zeit hat sie häufig kostspielige Reisen unternommen, eine Woche New York oder ein Wochenende Shopping in London oder so etwas, was ich mir gar nicht leisten könnte.“
Plötzlich kam Anna ein Gedanke. „Was ist mit Piet? Ist der Kater noch in der Wohnung?“ – „Keine Ahnung“, räumte Brecht ein und trank einen Schluck Tee. „Geht es Ihnen wieder gut genug, mit mir durch Frau Risters Wohnung zu gehen? Ich möchte, dass Sie feststellen, ob etwas fehlt oder sonstwie ungewöhnlich auf Sie wirkt. Dabei könnten wir dann gleich mal nach der Katze sehen.“
Anna nickte, trank ihren Tee aus und stand auf. Sie sah auf die Uhr. Viertel nach elf. Zweieinhalb Stunden noch, dann würde sie ihren Töchtern von Lisas Tod erzählen müssen. Nein, sie hatten keine Liebesbeziehung gehabt, aber den Mädchen gegenüber war Lisa in eine Art Vaterrolle in dieser ungewöhnlichen Familie geschlüpft. Anna graute es davor, Marie und Jule die Nachricht zu überbringen.
„Kann ich eben kurz in der Redaktion anrufen? Ich komme in fünf Minuten nach.“ Brecht nickte und zog die Tür hinter sich zu. Anna wählte die Nummer der Redaktion. Die Sekretärin meldete sich mit ihrer künstlich freundlichen Stimme in einer etwas höheren Tonlage als für sie üblich: „Düsseldorfer Zeitung, Sie sprechen mit der Redaktion, mein Name ist Monika Goslar, was kann ich für Sie tun?“ – „Meine Güte Moni, bis du dich gemeldet hast, hat man schon die Geduld verloren.“ Moni erkannte Anna an der Stimme. „So meldet man sich heutzutage“, sagte sie spitz. Denk mal an die ganzen Hotlines, Anna. Aber nun erzähl endlich. Was ist denn bei euch los?“
„Lisa ist tot“, sagte Anna traurig. Moni holte hörbar Luft. Sie kannte Lisa, sie wusste, wie eng die Freundschaft zwischen ihr und Anna gewesen war, auch wenn sie Lisa in letzter Zeit nicht mehr so häufig gesehen hatte. „Wie ist das passiert?“ – „ Schreib jetzt bitte in Stichworten mit. Ich melde mich im Laufe des Tages sicher noch. Aber ich muss jetzt erst einmal hier bleiben und mit den Kindern reden und die Polizei braucht mich auch noch. Außerdem glaube ich nicht, dass ich heute noch irgendetwas Sinnvolles zu Papier bringe. Unser aller Hauswirt Egidius K. fühlte sich heute Morgen durch Musik aus Lisas Wohnung belästigt. Er hat geklingelt und bei ihr angerufen und kam dann auf den Gedanken, die ganze Situation sei seltsam. Daraufhin hat er mit seinem Schlüssel die Wohnungstür geöffnet und fand Lisa tot vor. Es ist noch unbestätigt, aber offenbar ist sie an einer Schlafmittelvergiftung gestorben. Sie hat mit Barbituraten versetzten Rotwein getrunken. Ob es Mord oder Selbstmord war, ist noch nicht klar. Ein Unfall scheidet aus. Hast du das?“ - „Ja. Melde dich, sobald du mehr weißt.“
Anna legte den Hörer auf, atmete einmal tief durch und ging zur Wohnungstür. Sie warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel im Flur und erschrak. Sie sah in ein kreidebleiches Gesicht mit dunklen Schatten unter den Augen und wandte schnell den Kopf ab.
Im Treppenhaus begegnete ihr Funda Özgüdir, eine Studentin, die sich gegen den erbitterten Widerstand ihrer Familie durchgesetzt hatte und an der Heinrich-Heine-Universität Medizin studierte. Sie wohnte in der WG unterm Dach, lebte von Bafög und Gelegenheitsjobs und hatte, wie sie selbst sagte, nur noch ein Reservekopftuch in einer ihrer Schubladen, das sie bei Familienfeiern trug, um ihren Eltern eine Freude zu machen.
Heute hatte sie eine knapp sitzende Jeans und ein enges T-Shirt an. „Hi, Frau Heine. Was ist denn in der Wohnung von Frau Rister los?“, fragte sie bedrückt. „Da stimmt doch was nicht. Wissen Sie, was passiert ist?“
Anna nickte. Sie legte eine Hand auf Fundas Schulter und dachte daran, dass das Mädchen auch nur drei, vier Jahre älter als Marie war und man ihr die schlimme Nachricht vorsichtig beibringen sollte. „Es ist etwas sehr Trauriges passiert. Lisa Rister ist tot. Die Polizei ermittelt noch, wie das geschehen ist.“
Funda starrte Anna erschrocken an. „War sie krank? O, wie furchtbar für Sie. Sie waren doch eng befreundet.“ Anna nickte traurig. „Tut mir Leid, ich weiß noch nichts Näheres. Aber ich muss los. Die Polizei erwartet mich in Lisas Wohnung.“
Sie lief die letzten Treppenstufen hinunter, drückte auf Lisas Klingel und beobachtete dabei durch die offene Haustür wie Egidius Knecht auf dem Bürgersteig einer staunenden Gruppe von Nachbarn einen aufgeregten Vortrag hielt und dabei auf Lisas Wohnung deutete.
Brecht öffnete die Tür und lächelte sie an. „Na, geht es wieder?“, fragte er freundlich. Anna nickte und betrat die Wohnung, die sie so gut kannte. „Wo hat man sie gefunden?“, fragte sie, teils aus professioneller Neugierde, teils um sich ein Bild von den letzten Momenten im Leben ihrer Freundin machen zu können.
Brecht ging voran ins Wohnzimmer. Er deutete auf einen Sessel. Der Fotograf packte gerade seine Ausrüstung zusammen. Er grüßte die beiden und schulterte sein Stativ. „Ich bin hier fertig. Ich fahre zurück ins Präsidium.“ Brecht nickte und wandte sich an Anna. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn wir gemeinsam durch die Wohnung gehen könnten und Sie mir sagen, ob etwas fehlt oder ob Sie etwas Ungewöhnliches sehen.“
Anna nickte und sah sich im Wohnzimmer um. Bis auf den hellgrauen Puder, den die Techniker auf der Suche nach Fingerabdrücken überall aufgetragen hatten, wirkte alles auf den ersten Blick so wie immer. Auf der einen Seite die große Bücherwand, die das Zimmer beherrschte. Ob eins von den sicher mehr als tausend Büchern fehlte, würde sie auch bei näherem Hinsehen nicht sagen können. In der Ecke stand die Sitzgruppe aus hellem Leder, der man ansehen konnte, wie teuer sie gewesen war. Zwischen den beiden Fenstern sah sie das alte Weichholzschränkchen, auf dem eine Obstschale stand. Nein, hier im Wohnzimmer war alles wie sonst. Sie warf noch einen Blick auf den Sessel und ging schnell aus dem Raum.
Brecht folgte ihr in den winzigen Flur, wo es nur eine Garderobe, ein kleines Schränkchen für das Telefon und einen dreieckigen Spiegel gab. „Da hängt noch ihre Jacke“, sagte Anna und deutete auf eine Lederjacke aus weichem Velours. Auf dem Aufhänger konnte man ein Designerlabel erkennen. „Sie scheint nicht gerade arm gewesen zu sein“, vermutete Brecht. „Ich wusste gar nicht, dass man als Lehrer so gut verdient.“
„Sie war immerhin Studiendirektorin und auf dem Sprung, eine Schulleitung zu übernehmen. Außerdem hat sie vor ein paar Jahren eine Erbschaft gemacht. Wenn ich mich recht erinnere, war es ein Onkel, der selbst keine Kinder hatte und ihr ein bisschen Geld vermacht hat.“ Brecht machte sich eine Notiz.
Sie betraten das Schlafzimmer. Auch hier herrschte Ordnung. Helle teure Möbel wirkten sehr sachlich. Anna wandte sich an Brecht: „Sie hat im Nachttisch ihren Schmuck aufbewahrt. Vielleicht sollten wir mal nachschauen, ob er noch da ist. Brecht nickte zustimmend und rief Richtung Küche: „Seid ihr fertig mit dem Schlafzimmer oder müssen wir noch aufpassen?“ Ein junger Mann erschien im Türrahmen und nickte Anna freundlich zu. „Sie brauchen sich nicht vorzusehen Chef. Die Küche ist der letzte Raum. Wir sind aber auch da gleich durch.“
Brecht murmelte erklärend „Spurensicherung“, und Anna antwortete: „Klar. Hat man schon etwas gefunden?“ – „Jede Menge Fingerabdrücke. Aber die müssen erst einmal zugeordnet werden. Ich brauche übrigens auch Ihre und die Ihrer Kinder.“ - „Natürlich. Sollen wir drei aufs Präsidium kommen?“ Brecht schüttelte den Kopf. „Das ist bestimmt nicht erforderlich. Wir sind in den nächsten Tagen sicher noch oft genug hier.“ Er öffnete den Nachttisch und nahm ein Schmuckkästchen heraus. Er reichte es Anna.
Anna nahm eine schmale Kette, einen Ring und ein Armband in die Hand. „Ich kann natürlich nicht sagen, ob irgendeine Kleinigkeit fehlt. Aber ich denke, jeder vernünftige Dieb hätte dieses Set mitgenommen. Es ist aus Platin und die Steine sind lupenreine Diamanten und es ist nicht nur teuer, sondern auch noch wunderschön.“
„Sehr schlicht“, meinte Brecht zweifelnd. „Ich finde, es sieht gar nicht so teuer aus.“ - „Männer“, sagte Anna mit einer Spur von Verachtung. „Diese drei Teile kosten mindestens 15.000 €.“ Brecht rief noch einmal den Kollegen von der Spurensicherung. „Hast du eine Tüte für mich? Ich sollte hier vielleicht besser etwas sicherstellen. Im Präsidium haben wir einen Safe für solche Fälle.“ Der junge Polizist brachte eine kleine Plastiktüte und Brecht steckte den Schmuck ein.
Die beiden gingen ins Arbeitszimmer, wo wieder helle Möbel bester Qualität standen und eine sehr sachliche Ordnung herrschte. „Was war sie für ein Mensch?“, fragte Brecht irritiert. „Alles was ich hier sehe ist teuer, ordentlich und perfekt, aber es fehlt die persönliche Note. Ich weiß nicht genau, wie ich es ausdrücken soll, aber in meiner Wohnung fliegt alles durcheinander. Es stehen Andenken aus dem Urlaub herum. Meine Topfpflanzen sehen nicht alle so aus, als könnte man Düngerreklame mit ihnen machen und ich habe auch schon mal eine Milch im Kühlschrank stehen, die abgelaufen ist. Und bei Ihnen oben herrscht auch nicht gerade das Chaos, aber man sieht, dass dort gelebt wird.“
„Lisa war wirklich sehr ordentlich, sehr systematisch und sehr intelligent. Sie hat sicherlich viel mehr mit dem Kopf gelebt als mit dem Bauch. Aber sie ist eine unheimlich gute Freundin und absolut zuverlässig und sie liebt meine Töchter sehr“, antwortete Anna und merkte gar nicht, wie sehr sie mit Gegenwart und Vergangenheit durcheinanderkam.
Sie sah sich im Arbeitszimmer um. Auf dem Schreibtisch lag ein Mathebuch und auf einem karierten Din-A-4-Blatt erkannte Anna die Schrift ihrer Tochter, die irgendwelche Gleichungen zu Papier hatte bringen wollen. Aus den vielen durchgestrichenen Versuchen entnahm Anna, dass Jule wohl eher Ungleichungen zustande gebracht hatte.
Sie deutete auf das Blatt. „Das ist Julias Schrift. Das muss in der Nachhilfestunde gestern Abend entstanden sein.“ Brecht nickte mit ernstem Gesicht und warf einen prüfenden Blick auf Anna. Sie hatte sich jetzt offenbar wieder gut im Griff. Beide blickten sich weiter im Arbeitszimmer um, sahen aber nichts Auffälliges. Lisa hatte offenbar an ihrer Steuererklärung gebastelt. Entsprechende Formulare und Belege über Fortbildungen, Handwerkerrechnungen und die Lohnsteuerbescheinigung lagen auf dem Schreibtisch. Ein Hochglanzprospekt, der irgendwelche Kapitalanlagen anpries, gesellte sich dazu. Anna schüttelte den Kopf. „Ich sehe nichts Verdächtiges. Alles ist wie immer.“
Sie setzten ihren Rundgang fort und betraten das Badezimmer. Anna deutete eifrig auf einen kleinen Schrank und sagte: „Jetzt zeige ich Ihnen mal Lisas Medizinschrank. Sie werden staunen.“ Sie öffnete das Schränkchen, das gefüllt war mit Teepackungen, Aufgüssen und einigen Salbentöpfchen, die sich aber bei näherer Betrachtung ausschließlich als Produkte mit natürlichen Inhaltsstoffen herausstellten. Da gab es neben Ringelblumensalbe und Heftpflastern Dinge wie Algenextrakte und ätherische Öle unterschiedlichster Art, aber nicht einmal ein Röhrchen Aspirin.
Brecht schüttelte staunend den Kopf. „Das hätte ich unserer sachlichen Studiendirektorin nicht zugetraut. Das grenzt ja ans Esoterische. Hatte sie vielleicht Kontakt zu Gleichgesinnten, Feng Shui oder wie das heißt?“ Anna schüttelte den Kopf. „Nein, Unsinn. Sie hat einfach pharmazeutische Produkte abgelehnt. Sie hatte solch einen Horror vor den Nebenwirkungen von Medikamenten, dass sie lieber ganz darauf verzichtet hat. Es hat mir schon etwas zu denken gegeben, dass sie das als Naturwissenschaftlerin so sah. Aber deshalb bin ich so sicher, dass sie sich niemals auf diese Art und Weise umgebracht hätte.“
Sie gingen in die Küche, die die Männer von der Spurensicherung gerade räumten. Auch hier gab es überall eine dünne Pulverschicht. Anna ertappte sich bei dem Gedanken, dass Lisa diesen Schmutz überhaupt nicht gemocht und sofort angefangen hätte, die Pulverreste zu beseitigen. Ein Maunzen verriet Piet, der sich in einer Schranklücke, in der zwei Stangen Platz für Geschirrtücher boten, verkrochen hatte. Anna ging zu ihm und versuchte ihn aus der Ecke zu locken. Vergeblich. Piet kauerte angespannt im hintersten Winkel. Anna öffnete den Vorratsschrank und suchte nach Katzenfutter. Sie fand einige Knabberartikel für Vierbeiner und lockte damit Piet aus der Ecke heraus. „Ich glaube, ich nehme ihn mit nach oben. Irgendjemand muss sich schließlich um ihn kümmern.“ Brecht nickte zustimmend und half ihr, das vorhandene Futter, den Napf und einige andere persönliche Habseligkeiten des Katers zusammenzupacken.
Er trug die Tüte nach oben. Anna streichelte Piet, den sie auf dem Arm hielt. Piet hatte sich in sein Schicksal ergeben, schnurrte und rieb seinen Charakterkopf an Anna. Vor der Tür verabschiedeten sich Anna und Brecht. „Kopf hoch. Es ist immer schlimm, wenn man einen Menschen verliert, den man so gemocht hat. Es tut mir sehr Leid für Sie und Ihre Kinder. Sie waren ja wie Angehörige. Dabei fällt mir ein: Gibt es irgendeinen Verwandten, den wir verständigen müssen?“ Anna schüttelte den Kopf. „Soweit ich weiß, gibt es nur eine Cousine. Lisas Eltern sind tot und Geschwister hatte sie nicht. Ich denke, ich werde mich um die Beerdigung kümmern müssen. Bitte sagen Sie mir Bescheid, wenn sie freigegeben wird.“ Brecht lächelte: „Natürlich, aber bis dahin sehen wir uns sicher noch. Bis bald.“
Er ging die Treppe hinunter und Anna schloss auf und setzte den Kater auf den Boden ihrer Diele. Sie stellte die Tüte auf den Küchentisch, setzte sich auf einen Stuhl und starrte blicklos vor sich hin. Sie fühlte sich müde und ausgebrannt und ertappte sich bei dem Wunsch nach einer Zigarette. Dabei rauchte sie seit Jahren nicht mehr und hatte gedacht, sie sei endgültig darüber hinweg.
Sie sah auf die Uhr. Der Rundgang hatte länger gedauert als sie gedacht hatte. Kurz vor halb zwei. Mechanisch fing sie an, den Küchentisch zu decken. Sie schnitt Brot und stellte Wurst, Käse und ein paar Tomaten auf den Tisch. Dann ging sie auf den Balkon und blickte in den Innenhof, der grüner war, als man es von der Straße aus vermutet hätte. Sie sah auf die Markise, die den Balkon von Egidius Knecht vor ihren Blicken schützte und sie konnte auch darunter das Dach von Lisas Wohnung sehen. Das Haus war auf der Rückseite terrassenförmig angelegt. Je höher die Etage, desto geringer die Wohnfläche.
Sie hörte einen Schlüssel im Schloss. Die Tür knallte zu und zwei Rucksäcke wurden auf den Boden geworfen. Sie traf in der Küche auf ihre Töchter, die sich schon an den Tisch gesetzt hatten. „Hi Mama. Ich hab leider die Französischarbeit vergeigt. Aber ich kriege trotzdem noch eine Drei auf dem Zeugnis“, erklärte Julia, im Alltag meist Jule genannt. Sie kratzte hauchdünn Halbfettmargarine auf ihr Brot. Danach belegte sie es großzügig mit dicken Fleischwurstscheiben „Du hast vielleicht ein Glück“, sagte ihre Schwester. „Blödsinn, ich biete eine exzellente mündliche Mitarbeit, jedenfalls in den ersten Stunden, wenn einen der Lehrer noch nicht kennt. Wenn er dann einmal der Meinung ist, man sei eine gute Schülerin, kann man sich wieder entspannen. Probier es mal aus. Es funktioniert.“
Anna räusperte sich. „Ich muss euch etwas sagen.“ Sie stockte. Marie erschrak über den Gesichtsausdruck ihrer Mutter. „Was ist los? Hat der blöde Knecht mal wieder mit der Kündigung gedroht?“ Anna schüttelte verzagt den Kopf und sagte zögernd. „Es hat leider ein ganz schlimmes Unglück gegeben. Es ist Lisa. Sie ist tot.“
Marie starrte ihre Mutter fassungslos an. Julia kämpfte: „Das kann nicht sein. Ich war doch gestern Abend noch bei ihr. Da ging es ihr gut. Nein Mama, du musst dich irren. Lisa kann nicht tot sein. Das ist absurd.“ Marie fragte leise: „Was ist passiert?“
„Herr Knecht hat heute Morgen im Hof laute Musik aus Lisas Wohnung gehört. Er hat sich gewundert, wieso sie nicht in der Schule war. Er hat angerufen und geklingelt und hat, als sie sich nicht gemeldet hat, mit seinem Schlüssel aufgeschlossen und ist in die Wohnung gegangen. Da hat er sie gefunden. Sie saß tot in einem Sessel im Wohnzimmer.“
Jule schluchzte. Anna nahm sie in den Arm. „Sie kann doch nicht einfach so sterben. Sie war doch noch nicht alt. Ich meine“, verbesserte sie sich, „natürlich war sie alt, aber doch noch nicht so alt, dass sie sterben könnte. Sie war doch gar nicht viel älter als du.“ Anna streichelte sie. „Man hat neben ihr eine Flasche Wein und ein Röhrchen Schlaftabletten gefunden. Die Polizei geht von Selbstmord aus.“
„Nie im Leben“, rief Marie aufgeregt. „Lisa und Tabletten. Wir müssen ihnen sagen, dass Lisa nie Tabletten nimmt.“ Jule warf sich dazwischen: „Und sie hat sich so auf die Reise gefreut. Du weißt doch, die Festspiele. Sie wollte doch nach Verona. Wir haben gestern Abend noch darüber geredet. Das Hotel hat eine Dachterrasse mit Blick über die Stadt. Ich habe ihr gesagt, wie sehr ich sie beneide, allerdings nicht wegen der Opern.“ Das hatte Anna ganz vergessen. Sie musste von dieser geplanten Tour unbedingt Brecht erzählen. Wieder eine Kleinigkeit, die die Selbstmordtheorie erschütterte.
Marie verschwand ohne ein Wort aus der Küche. Kurze Zeit danach dröhnten Muse und dann Metallica aus ihrem Zimmer. Jule weinte immer noch in Annas Armen. ‚So hat jeder seine eigene Art, mit seinem Kummer fertig zu werden’, dachte Anna. ‚Aber wer hilft mir? Lisa kann mich nicht mehr trösten. Sie war meine beste Freundin. Ich konnte ihr vertrauen. Sie war für mich wie der Fels in der Brandung, immer sicher, stark und zuverlässig. Anders als die Männer in meinem Leben: Stanley, Maries und Jules Vater, lebt schon lange wieder in Amerika. Der Kontakt zu ihm ist gleich null. Und die wenigen anderen, die danach kamen und gingen, ich kann mich kaum an die Namen erinnern. Sie ist nicht mehr da. Und wer zum Teufel tröstet mich jetzt?’
Gleichsam als Antwort dudelte das Telefon. Anna löste sich von Jule und hatte kaum Gelegenheit, sich zu melden. „So eine Unverschämtheit. Stellen Sie sofort diese Negermusik ab. Hier ist ein Trauerhaus. Wie wäre es mit ein bißchen ruhiger Würde angesichts des Todes. Und wenn das Fahrrad von der Marie nicht in fünf Minuten aus dem Hausflur verschwunden ist, stelle ich es auf die Straße. Dann ist es bestimmt schnell weg, und zwar für immer.“
Anna legte auf. Sie klopfte an Maries Tür und öffnete sie. Marie lag auf ihrem Bett und fuhr sich schnell mit der Hand durch das Gesicht. Anna reduzierte ‚Nothing else matters‘ um etwa 50 Dezibel und sagte: „Tut mir Leid. Egidius hängt mal wieder unter der Decke. Er will dein Fahrrad auf die Straße stellen, wenn du es nicht in fünf Minuten in den Keller getragen hast.“
Marie enthüllte knapp und präzise, was Egidius Knecht sie mal könne und stieß dabei auf viel Verständnis bei ihrer Mutter. Aber sie erhob sich und brachte ihr Fahrrad in den Keller. Ein Fußtritt gegen die Kellertür verschaffte ihr eine gewisse Erleichterung. Aber als sie auf dem Rückweg an Lisas Tür vorbei kam, ließ sie wieder die Schultern hängen. Wer hatte Lisa ermordet? Denn dass es Mord sein musste, war Marie klar, auch wenn die Polizei vielleicht so dämlich war, an Selbstmord zu glauben. Sie hatten eben alle Lisa nicht gekannt.
Zurück in der Wohnung bemerkte Marie an den aufgeregten Stimmen ihrer Mutter und Schwester, dass neuer Ärger in der Luft lag. Piet, der sich an seine neue Umgebung noch nicht gewöhnt hatte, war durch die offene Balkontür entwischt und balancierte jetzt auf dem Geländer. Anna und Julia verharrten in respektvoller Entfernung, denn jedesmal, wenn sie sich dem Kater näherten, duckte er sich zum Sprung und entspannte sich erst wieder, wenn der alte Abstand hergestellt war.
Marie nahm ein paar Brocken des ansonsten unwiderstehlichen Katzenkonfekts, ging vorsichtig auf den Balkon und legte sie auf den Fußboden. Das gab dem nervösen Kater den Rest. Er sprang auf Knechts Markise, rutschte langsam die Schräge herab und landete auf dem Balkon. „Verdammtes Vieh. Hau ab. Kusch! Bleibst du wohl von meinem Kanari weg.“ Ehe Anna noch etwas rufen konnte, ergriff Piet verzweifelt die Flucht, sprang auf die Brüstung und dann auf das Dach seiner ehemaligen Wohnung. Hier kannte er sich aus. Der Anbau war immer schon sein Revier gewesen. Er spazierte den Rand des Flachdaches entlang, erspähte ein gekipptes Fenster und sprang elegant in Lisas und seine ehemalige Wohnung.
Anna stöhnte. Sie hatte zwar einen Schlüssel, aber die Wohnung war versiegelt. Sie wählte die Nummer, die der Hauptkommissar ihr gegeben hatte und hörte die angenehme Stimme, mit der er sich meldete. ‚Eigentlich ein ganz netter Typ’, dachte sie. Bislang kannte sie ihn nur rein dienstlich, wenn auch schon einige Jahre. „Hallo Herr Brecht, ich habe ein echtes Problem. Der Kater ist mir entwischt und durch ein gekipptes Fenster in die Wohnung von Lisa Rister zurückgekehrt. Ich habe zwar einen Schlüssel, aber die Wohnung ist versiegelt. Und Piet hat weder Wasser noch Futter, weil wir alles mit hochgenommen haben. Was soll ich tun?“
Brecht überlegte einen Moment. „Brechen Sie das Siegel auf. Wir wissen ja Bescheid, warum Sie es tun. Fassen Sie möglichst wenig an. Aber ehrlich gesagt, die Ermittlungen scheinen bereits jetzt im Sande zu verlaufen. Wir gehen ziemlich eindeutig von Selbstmord aus. Sowohl an der Weinflasche als auch am Tablettenröhrchen haben wir nur Lisa Risters Fingerabdrücke gefunden. Morgen Vormittag werden die Laborergebnisse und die der Obduktion vorliegen. Dann findet eine Pressekonferenz statt.“
Anna wurde wütend. „Und was ist mit der Tatsache, dass sie nie freiwillig Tabletten genommen hätte? Und warum hat sie keinen Abschiedsbrief hinterlassen? Und meine Tochter erzählte mir, sie war gestern Abend lustig und guter Dinge und freute sich auf einen Kurzurlaub in Verona in zwei Wochen.“
„Wir sind ja auch noch nicht ganz fertig mit den Ermittlungen. Aber es ist momentan leider auch so, dass wir viel zu wenig Leute haben. Ich wünschte auch, wir könnten alles ein bisschen gründlicher untersuchen. Aber mein Chef ist da etwas anderer Meinung, leider... Ich fürchte, es wird keine Mordkommission gebildet werden.“
Anna legte nach einem kurzen Gruß auf und beschloss, den Flüchtling wieder einzufangen. Sie schnappte sich den Schlüssel zu Lisas Wohnung, ging hinunter und zögerte einen Moment, bevor sie das amtliche Siegel erbrach. Sie lächelte über sich selbst. Obrigkeitsgläubig war sie sonst eigentlich nicht. Das hatte sie mit ihrem berühmten Namensvetter gemeinsam. Mit einem kurzen Ruck war das Siegel geöffnet. Anna schloss auf und betrat Lisas Wohnung. Sie atmete tief durch. Lisas Duft hing noch in der Luft. Vorhin hatte sie das nicht bemerkt. Sie hatte sich darauf konzentrieren müssen, zu funktionieren, was bedeutet hatte, nicht umzukippen und die Fragen des Kommissars halbwegs sinnvoll zu beantworten.
Anna ging in die Küche und setzte sich auf ihren Stuhl. Im Laufe der Jahre hatten sich Gewohnheiten eingeschlichen. Sie saß immer hier, das Fenster im Rücken und Lisa ihr gegenüber, auf dem Stuhl, von dem aus sie leichter aufstehen und einen neuen Tee kochen konnte oder den Telefonhörer abheben, wenn es klingelte.
Anna saß einige Minuten lang ganz still auf ihrem Platz und ließ Gedanken und Erinnerungen ihre eigenen Wege gehen.
Gemeinsame Urlaube, Spaziergänge, Feste, Gespräche, Gelächter und Kummer. Der Kommissar hatte sie gefragt, ob es eine Liebesbeziehung zwischen ihnen gegeben hatte. Anna fragte sich, ob noch andere Menschen auf diesen für sie abwegigen Gedanken gekommen waren. Bestimmt, dachte sie jetzt, war das so gewesen. Wenn zwei Frauen so eng befreundet waren, gemeinsam in Urlaub fuhren, am Strand jede ein Kind an der Hand, musste man ja zwangsläufig auf so eine Idee kommen.
Der Eindruck täuschte. Sie hatte Lisa liebgehabt, aber rein freundschaftlich. Lisa hatte sie nie enttäuscht und auch Anna hatte stets zu Lisa gehalten. Auch die gelegentlichen Männerbekanntschaften der beiden Frauen änderten nichts an ihrem Verhältnis. Wenn die Affairen vorbei waren, war wenigstens immer die Freundin da, um zu trösten. Zum ersten Mal fragte sich Anna, ob es vielleicht an dieser unzerbrechlichen Freundschaft gelegen haben konnte, dass die Männer sich stets nach kurzer Zeit verschreckt zurückgezogen hatten.
Warum hatten sie sich in der letzten Zeit nur so selten gesehen? Gut, Marie und Jule waren nicht mehr so angewiesen auf Lisas Fürsorge. Und die Jobs forderten ihren Tribut. Aber das konnte doch wirklich nicht der Grund sein für eine gewisse Entfremdung. Noch vor ein bis zwei Jahren hätte Anna die Hand dafür ins Feuer gelegt, allen Kummer ihrer Freundin zu kennen. Und jetzt zermarterte sie ihr Hirn mit der Frage, ob Lisa sich vielleicht doch selbst getötet hatte und wenn ja, aus welchem Grund.
Anna fühlte sich so alt wie sie tatsächlich war. Das passierte glücklicherweise selten. Normalerweise konnte sie es selbst kaum fassen, dass sie nur noch so gerade eben als Mittvierzigerin durchging, wenn man ihr Geburtsdatum kannte. Sie war schlank und auch ihr apartes Gesicht mit den kinnlangen hellblonden
Haaren ließ zumindest auf den ersten Blick den Betrachter im Unklaren über ihr Alter.
Sie nahm die Brille ab – John Lennon hätte seine Freude an dem Modell gehabt – und rieb sich die jetzt zwar vom Weinen verquollenen, sonst aber sehr ausdrucksvollen braunen Augen. Müde setzte sie das Titangestell wieder auf und machte sich auf die Suche nach Piet. Sie rief und lockte ihn, konnte ihn aber nicht entdecken. Systematisch suchte sie die ganze Wohnung ab. Sie fand ihn unter Lisas Bett und versuchte ihn dazu zu bewegen, zu ihr zu kommen. Piet fauchte ärgerlich. Vermutlich willst du Lisa und deine Ruhe, dachte Anna. Sie legte sich ganz flach hin und versuchte, nach dem Kater zu greifen. Das Ergebnis waren ein paar blutige Kratzer an ihrer rechten Hand.
‚Dann nicht du blöder Kerl’, dachte Anna etwas ungerecht und betrachtete ihre blutende Hand. Sie verließ die Wohnung und kam einige Minuten später mit dem Fressnapf und dem Katzenklo zurück und füllte Wasser in eine Schale, die sie aus dem Küchenschrank nahm.
Sie ließ Piet allein und rief von oben noch einmal Hauptkommissar Brecht an. Er war mit dem von ihr getroffenen Arrangement einverstanden und meinte, da das Siegel jetzt nicht mehr in Ordnung sei, könne bis morgen die Katze auch in der Risterschen Wohnung versorgt werden. Kaum hatte er den Hörer aufgelegt, klingelte es schon wieder. Brecht meldete sich und hörte eine aufgeregte Stimme. „Hören Sie, Herr Kommissar, Sie müssen ganz schnell kommen. Wahrscheinlich ist der Mörder wieder in der Wohnung von Frau Rister. Das Siegel ist aufgebrochen.“ Thomas Brecht war mit Egidius Knechts Kasernenhofstimme zwar noch nicht ganz vertraut, aber seine Ahnung ging in die richtige Richtung. „Spreche ich mit dem Hauswirt von Frau Rister, Herrn Knecht?“, tastete er sich vor. „In der Tat. Aber ich bin der Eigentümer. Und jetzt setzen Sie sich doch endlich in Bewegung. Vielleicht können Sie den Mörder noch schnappen. Polizei, dein Freund und Helfer? Dass ich nicht lache! Hilf dir selbst, sonst hilft dir niemand in diesem Land. CDU, so ein Quatsch. Kommunisten sind das und die Polizei tanzt nach deren Pfeife.“
Brecht versuchte ruhig zu bleiben. „Nun kommen Sie mal wieder auf den Teppich. Ich will nett sein und Ihre Äußerungen auf Ihre Aufregung über den Tod von Frau Rister zurückführen. Frau Heine hat das Siegel aufgebrochen und zwar mit meiner Genehmigung. Die Katze ist ihr entwischt und wieder in die Parterrewohnung geflüchtet. Sie musste sie versorgen.“
„Das stimmt. Das verdammte Vieh hat beinahe meine Markise ruiniert und meinen Kanarienvogel fast zu Tode erschreckt. Warum bringen Sie es nicht ins Tierheim?“
„Weil die Polizei auch noch andere Aufgaben hat, als verschreckte Katzen einzufangen. Wir kümmern uns morgen darum. Auf Wiederhören.“ Tom Brecht legte den Hörer etwas heftiger auf als erforderlich. Anna tat ihm Leid. Es musste eine Strafe sein, mit solch einem Querulanten unter einem Dach zu wohnen. Er dachte an sein Reihenhaus im Düsseldorfer Norden. Er war zwar niemandem Rechenschaft schuldig, aber unter den Nachbarn, mit denen er dicht auf dicht wohnte, gab es auch einige, denen er lieber aus dem Weg ging.
Das war allerdings bei seinem Beruf und seinen Arbeitszeiten auch kein Problem. Seit seiner Scheidung vor zwei Jahren betrachtete er das für ihn allein viel zu große Haus sowieso nur noch als Aufbewahrungsort für die Möbel, die seine Frau nicht mitgenommen hatte, und als Schlafstelle. Der Garten verwilderte langsam, während es seiner netten Putzhilfe gelang, das Haus bewohnbar zu halten.
Dem Auszug seiner Frau war ein jahrelanger Kleinkrieg vorangegangen. Andrea hatte sich verzweifelt Nachwuchs gewünscht. Tom war nie so ganz klar geworden, ob dies aus wirklicher Kinderliebe der Fall war oder weil sie durch eine Schwangerschaft aus ihrem langweiligen Job als Versicherungskauffrau hätte ausbrechen können. Der Kinderwunsch war jedenfalls nicht in Erfüllung gegangen. Andrea wurde immer unzufriedener mit ihrem Leben. Ihr ständiges Nörgeln führte dazu, dass Tom sich immer stärker auf Düsseldorfs Unterwelt konzentrierte und so wenig Zeit wie möglich in seinem ungemütlichen Eigenheim verbrachte. Andrea beantwortete diese Vernachlässigung mit einer Affaire mit einem Bewohner der verfreundeten Nachbarstadt und zog nach einigen Monaten zu ihm nach Köln.
Tom nahm zunächst einen jungen Kollegen, der gerade seine Ausbildung an der Verwaltungsakademie beendet hatte, bei sich auf. Jörg Möller war einige Monate lang ein dankbarer Gast. Beide Männer verstanden sich trotz des Altersunterschiedes ausgezeichnet. Beruflich bildeten sie ein starkes Team, zusammengeschweißt unter anderem durch ihren gemeinsamen Feind, ihren Chef, Kriminalrat Nölle. Trotzdem war die WG nicht auf Dauer angelegt. Jörg suchte und fand eine Wohnung in Düsseldorf, holte seine Freundin kurz danach aus Münster und heiratete sie einige Monate später, wie er selbst sagte ‚aus gegebenem Anlass‘.
Tom hatte sich so lange mit seinem Kollegen über diesen Anlass gefreut, bis sich herausstellte, dass Bine nach ihrer Mutterschutzfrist weiter als Ärztin im Praktikum arbeiten würde und Jörg den Elternurlaub aufs Auge drückte. Tom vermisste seinen Partner schmerzlich und zählte zwar nicht gerade die Tage, aber doch immerhin die Monate, die er noch als Solist mit häufig wechselnden Partnern im Präsidium verbringen würde.
Tom konzentrierte sich wieder auf die Gegenwart und dachte an Lisa Rister. Mord oder Selbstmord? Für beide Versionen sprach einiges. Es wäre ein klassischer Fall von Selbstmord, wenn nicht Annas Aussage gewesen wäre. Viele Selbstmörder hinterließen keine Abschiedsbriefe und die Methode – Schlafmittel in einem guten Wein – wurde von all denen bevorzugt, die sich entweder ohne große Effekthascherei aus dem Staub machen oder die sich vielleicht noch ein Hintertürchen offen halten wollten.
Für seinen Chef, Kriminalrat Nölle, war die Angelegenheit sowieso schon glasklar. Er hatte schließlich auch nicht mit Anna gesprochen. Brecht hasste die oberflächliche Ermittlungsarbeit Nölles, der häufig aus dem Bauch heraus Entscheidungen traf, die er dann medienwirksam verkaufte und dabei oft auch noch richtig lag, wie sich nach zeitraubenden und akribischen Untersuchungen und Verhören, die Tom Brecht und seine Kollegen so manche Überstunde kosteten, herausstellte.
Nölle hatte in der Vergangenheit mit seinen Entscheidungen einfach Glück gehabt und war deshalb nicht nur dank seiner Beamtenlaufbahn auf der Karriereleiter ein Stück über Brecht gelandet. Aber man konnte sich doch als Polizeibeamter nicht immer nur auf sein Gefühl verlassen. Seufzend nahm Tom sich einen Bericht der Duisburger Kollegen über eine unbekannte männliche Leiche, die dort im Hafen gefunden worden war.
Anna sah nach dem Telefongespräch mit Brecht nach ihren Töchtern, die sich in seltener Eintracht auf Maries Bett gesetzt hatten und trübe vor sich hinstarrten, während deutlich leisere Musik als vorher aus den Lautsprechern von Maries Anlage quoll.
Während Jule eine jüngere und etwas aerodynamischere Version ihrer Mutter war – hellblond, braune Augen mit unglaublichen Wimpern und jeder Menge Sommersprossen – erinnerte Marie Anna immer noch enorm an den verschollenen Stanley, in der Familie als Dr. Kimble (auf der Flucht) bezeichnet, wenn man überhaupt noch an ihn dachte. Marie war wie er deutlich größer als als der Rest der Familie und hatte sein rotbraunes Haar und seine dunkelblauen Augen geerbt.
„Wo ist Piet?“, fragte Julia und zog die Nase hoch. „Hör gefälligst auf zu schnüffeln. Hol dir ein Taschentuch“, forderte Marie ihre Schwester auf. ‚Der Ton zwischen den beiden normalisiert sich’, dachte Anna. „Piet sitzt unter Lisas Bett und weigert sich, mitzukommen. Seht mal, wie er mich zerkratzt hat. Ich glaube, wir lassen ihn heute einfach in Ruhe. Er spürt bestimmt, dass etwas Schlimmes mit Lisa passiert ist.“
„Ich möchte, dass wir ihn behalten. Ich finde, das sind wir Lisa schuldig“, forderte Marie. Julia nickte. „Er darf nicht ins Tierheim. Er gehört doch zur Familie.“ Anna wusste, sie würde sich gegen diesen Vorschlag nicht wehren können, also versuchte sie es gar nicht erst, auch wenn es ihr momentan widerstrebte, ganz allein die Verantwortung nicht nur für zwei fast erwachsene Töchter sondern auch noch für eine verschreckte Katze übernehmen zu müssen.
Sie nickte. „Einverstanden. Morgen versuchen wir zu dritt, ihn einzufangen. Dann müssen aber hier sämtliche Türen und Fenster in der nächsten Zeit geschlossen bleiben, solange, bis Piet sein neues Zuhause akzeptiert hat.“
Die drei lächelten sich an. Sie hatten etwas gefunden, was sie noch für Lisa tun konnten. Das half ihnen ein ganz klein wenig. Anna sagte unglücklich: „Ich lasse euch jetzt wirklich nicht gern allein. Aber ich muss wenigstens kurz in die Redaktion und mit Horst besprechen, wie es in den nächsten Tagen weitergeht. Wahrscheinlich werde ich Urlaub nehmen.“
Marie lächelte beruhigend: „Fahr ruhig, Mama, ich passe auf die Kleine auf.“ Die Kleine brach in wütenden Protest aus. „Mit 15 braucht man keinen Aufpasser mehr, besonders nicht eine Schwester, die kaum zwei Jahre älter ist.“
Nach diesem durchaus alltäglichen Dialog wusste Anna, sie konnte beruhigt fahren. Sie verließ das Haus und sah sich nach ihrem Wagen um. Wo hatte die Polizei ihn geparkt? Weit und breit war nichts zu sehen von ihrem alten roten Golf. Also war ein Spaziergang durch die Tempo 30 Zone in der Düsseldorfer Innenstadt fällig.
Zehn Minuten später schloss sie drei Straßen weiter ihr Auto auf und manövrierte sich aus einer äußerst engen Parklücke. Sie wischte sich den Schweiß von der Stirn und träumte auf dem Weg zur Redaktion von einem neuen Wagen mit Servolenkung. Sie bog in die enge Einfahrt des Hauses ein, in dem sie arbeitete und stellte den Golf auf dem Innenhof ab.
Sie nahm den Fahrstuhl trotz ihrer immer latent vorhandenen Angst stecken zu bleiben, die aber doch noch etwas geringer war als das Unbehagen, zu Fuß den vierten Stock des Altbaus zu erklimmen. In der ganzen Etage der Redaktion herrschte gähnende Leere. Anna warf ihre Handtasche, die ihre Töchter nicht ganz unzutreffend als Mamas Sack bezeichneten, auf ihren Schreibtisch, den sie am Morgen verlassen hatte, ohne zu ahnen, was der Tag an Katastrophen für sie bereithalten würde.
Sie fand ein paar Notizzettel vor, auf die Moni Namen und Telefonnummern gekritzelt hatte. Anna ignorierte sie zunächst und ging zum Zimmer von Horst Wildermann, dem Leiter der Lokalredaktion der Düsseldorfer Zeitung. Die Tür stand offen. Horst telefonierte. „Du kannst ihm sagen, dass es mir scheißegal ist, was das Büro des Herrn Oberbürgermeisters wünscht. Nicht er entscheidet, was in dieser Zeitung steht, sondern ich.“ Pause. „Nein, natürlich bin ich auch weiterhin an einem guten Einvernehmen interessiert, aber nicht um jeden Preis. Ich bin nicht der Hofberichterstatter des OB.“ Horst grinste. „Na gut, dann streich das scheiß beim egal. Tschö.“
Er legte auf, wuchtete seine 120 Kilo hoch, ging um seinen unordentlichen Schreibtisch herum und nahm Anna in den Arm. „Mensch Mädchen, tut mir so Leid um deine Freundin. Wie haben es deine Kinder aufgenommen? Sie hat sich doch so oft um sie gekümmert.“
Anna wischte sich die Tränen aus den Augen und schnaubte entschlossen in ein Papiertaschentuch, das ihr Horst hinhielt. „Wir sind alle ziemlich fertig. Ich wollte dich um ein paar Tage Urlaub bitten. Ich muss mich um die Beerdigung kümmern, wenn die Polizei Lisa freigibt. Außerdem spielt ihr Kater verrückt und die Kinder sind ganz durcheinander.“
„Das wäre unter normalen Umständen kein Problem, aber zur Zeit weiß ich nicht, wie wir es schaffen sollen, das Blättchen voll zu kriegen. Billy ist in Urlaub, Hänschen ist bis Anfang nächster Woche auf Dienstreise, du weißt ja, mit den Stadtwerken nach Vancouver, und Basti hat sich heute krank gemeldet. Es sind also nur noch Rainer, du und ich da, wenn man von unserem hoch begabten Volontär mal absieht.“ Anna stöhnte, als sie an Sven Ücker dachte. Er war ihnen vom Verleger aufs Auge gedrückt worden, weil er der Sohn eines Freundes war. Sven hatte Germanistik studiert und war deshalb der Meinung, er wisse und könne bereits alles.
Wenn morgens in der Redaktionskonferenz die Termine des Tages verteilt wurden, gab es daher in letzter Zeit heftige Auseinandersetzungen. Sven maulte „Warum muss immer ich zu den Hundertjährigen oder den eisernen Hochzeiten? Ich finde alte Leute sowieso furchtbar. Soll sich doch jeder mal ihr Gebrabbel anhören.“
„Ganz richtig“, hatte sich Horst Wildermann mit süffisantem Lächeln bei der letzten Auseinandersetzung eingeschaltet. „Und wir haben unsere Jubilare alle schon hinter uns gebracht während unseres Volontariats. Nun sind Sie dran.“
Diesmal war sein Lächeln wirklich mitfühlend. „Pass auf Anna, ich kann dir keinen offiziellen Urlaub geben. Aber du hast alle Freiheit, deine Angelegenheiten zu regeln. Du hast schließlich in anderen Phasen genug Überstunden gekloppt. Wir regeln das von Tag zu Tag.“ Anna nickte. Ihr war klar, es ging nicht anders.
„Jetzt schreibe ich erst einmal den Artikel über Lisa.“ Horst sah sie forschend an. „Bist du sicher, dass du das kannst?“ Anna lächelte gequält. „Na klar, wir sind doch schließlich Profis.“
Sie ging an ihren Schreibtisch und drückte auf den Power-Knopf ihres Computers, der daraufhin anfing, vor sich hin zu rödeln, bis er betriebsbereit war. Das verkündete er mit dem üblichen kurzen akustischen Signal. Anna klickte sich in das richtige Programm und saß angespannt vor dem leeren Bildschirm. Lisa, verdammt noch mal, hast du dich wirklich umgebracht? Das kann einfach nicht sein. Aber wer sollte dich ermordet haben? Du hattest doch keine Feinde. Wem könntest du einen Grund gegeben haben, dir so etwas anzutun. Du warst doch immer so beherrscht, so nüchtern, so sachlich. Warum bringt man einen Menschen um? Aus Hass, aus Eifersucht, aus finanziellen Gründen? Wer erbt dein Vermögen? Wie viel ist es überhaupt? Ich muss deine Cousine ausfindig machen. Natürlich glaube ich nicht, dass sie etwas damit zu tun hat, aber allein schon wegen der Beerdigung. ‚Ganz klar’, dachte Anna, ‚ich bin wirklich ein echter Profi.’ Seit einer Viertelstunde saß sie jetzt hier, ohne ein Wort zu PC gebracht zu haben.
Sie rief sich energisch zur Ordnung, konzentrierte sich und schrieb einen einfühlsamen Artikel über den Tod ihrer Freundin. Er gipfelte in der Frage: Mord oder Selbstmord? Anschließend ging sie noch einmal zu Horst und sagte: „Fertig, 90 Zeilen. Ich habe ein Foto von unserem Haus mitgebracht. Ich weiß nicht, ob Rainer das brauchen kann.“
„So, für heute schaffen wir es allein. Geh nach Hause. Morgen um 11 Uhr ist die Pressekonferenz. Möchtest du den Fall weiterverfolgen oder soll ich mich selbst darum kümmern?“, fragte Horst. Anna schüttelte heftig den Kopf. „Ich will auf jeden Fall zur Pressekonferenz. Ich glaube nämlich nicht an Selbstmord, aber ich habe den Verdacht, unserer Polizei wäre es sehr recht, damit eine schöne Lösung anbieten zu können und befriedigt die Akte zu schließen.“
Horst kratzte sich am Kinn und kam mit seinem Zweitagesbart in Berührung. „Verdammt, ich muss heute Morgen noch sehr verkatert gewesen sein. Ich habe glatt vergessen, mich zu rasieren. Aber lass uns mal den Fall auseinander pflücken. Verrenn dich da nicht. Das Schlucken von Barbituraten in Verbindung mit Alkohol ist eine der klassischen Methoden, sich zu verabschieden. Kann es vielleicht sein, dass du dir bei einem Selbstmord von Lisa einen Teil der Schuld geben würdest, nicht bemerkt zu haben, dass sie offenbar so starke Probleme hatte? Und weil nicht sein kann, was nicht sein darf, muss es also Mord sein.“
Horst hatte den Finger genau auf die Wunde gelegt. Anna nickte. „Das ist sicher richtig, Horst. Aber es gibt noch andere Gründe, die gegen den Selbstmord sprechen. Sie hat keinen Abschiedsbrief hinterlassen.“ Horst fiel ihr ins Wort. „Na und, warum sollte sie sich rechtfertigen und bei wem?“ – „Zum Beispiel bei mir. Und dann hat sie am Abend noch Jule erzählt, wie sehr sie sich auf eine Reise nach Verona freut und außerdem hätte sie sich nie mit Tabletten vergiftet. Sie hat sie gehasst. Sie hat nie welche genommen.“
Horst spielte den Advocatus Diaboli nicht schlecht. „Na bitte. Sie blieb ihrem Urteil bis in den Tod treu. Wenn sie schon sterben wollte, dann durch dieses gefährliche Teufelszeug.“ Anna war immer noch skeptisch. „Warten wir erst einmal die Pressekonferenz ab. Ich bin morgen um elf im Polizeipräsidium am Jürgensplatz.“
„Anna, sollen wir heute Abend zusammen einen trinken gehen? Du solltest nicht allein sein.“ Anna schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht allein. Marie und Jule warten auf mich. Und die kann ich heute Abend nicht im Stich lassen.“
Horst winkte ihr einen Gruß zu und ließ sich wieder auf seinen imposanten Schreibtischsessel plumpsen. Anna schaute noch schnell ins Sekretariat hinein. Moni aß ein Plunderteilchen und bot Anna an, sich aus einer Bäckereitüte zu bedienen. Anna lehnte ab. „Nein danke. Aber hast du zufällig einen Kaffee für mich?“, fragte sie, um den Weg zum Automaten zu sparen. Moni schraubte eine Thermoskanne auf und goss Anna einen Becher Kaffee ein.
Moni sah Anna besorgt an. „Wie steckst du es weg?“ Anna nahm die Brille ab, fuhr sich mit den Händen durch ihr müdes Gesicht und sagte: „Noch gar nicht. Ich glaube es noch nicht. Manchmal vergesse ich es für ein paar Minuten, aber dann weiß ich plötzlich wieder, dass etwas Furchtbares passiert ist. Und im nächsten Moment denke ich wieder an Lisa. Warum ist sie tot, Moni? Ich kann es nicht verstehen.“ Sie trank einen Schluck Kaffee. Er war lauwarm und schmeckte nicht. Entschlossen trank sie schnell den Becher leer, schüttelte sich innerlich und stand auf. „Danke Moni, ich muss nach Hause. War bei den Telefonzetteln etwas Wichtiges?“
Moni schüttelte den Kopf. „Ein Leser fand deinen Bericht über die Bürgerversammlung wegen der Spielplatzschließung nicht in Ordnung. Dann wollte dich jemand einladen, über ein privates Experimentiertheater zu schreiben und eine aufgebrachte Mutter meinte, du solltest dich mal um die Zustände an der Grundschule kümmern, in die ihr Sohn geht. Kaputte Fenster, keine Kreide und Unterrichtsausfall, also das Übliche. Das hat alles Zeit.“
Anna winkte Moni zu und verließ die Redaktion. Hinunter ging sie meistens zu Fuß. Da war die Unbequemlichkeit geringer als das Unbehagen. Sie fuhr ohne sonderliche Hast nach Hause und überlegte, ob sie unterwegs etwas zum Abendessen mitnehmen sollte. Ihr kam eine bessere Idee. In ihrer Nachbarstraße fand sie sogar einen Parkplatz und schlug sofort zu. Die paar Schritte nach Hause waren sinnvoller, als den Versuch zu unternehmen, noch etwas dichter an ihrer Wohnung eine Lücke zu finden, dabei natürlich zu scheitern und bei der zweiten Runde dann feststellen zu müssen, dass der verschmähte Platz mittlerweile verschwunden war.
Sie schloss die Haustür auf. Würde sie jemals wieder an dieser Wohnungstür vorbeigehen können, ohne einen Stein im Magen zu spüren? In der ersten Etage ging die Tür auf, als sie daran vorbeikam. Anna stöhnte. Wahrscheinlich hatte er seit Stunden auf ihre Rückkehr gewartet und die Straße beobachtet.
„Das hätten Sie mir gefälligst sagen können, dass Sie das amtliche Siegel aufbrechen und in der Wohnung von der armen Frau Rister herumschnüffeln. Ich habe bei der Polizei angerufen. Ich dachte, der Mörder wäre wieder im Haus. He, kommen Sie zurück. Ich rede mit Ihnen. So eine Unverschämtheit! Sie können doch nicht einfach weitergehen, wenn ich noch mit Ihnen spreche. Jetzt wundert mich auch nicht mehr, wie schlecht erzogen Ihre Töchter sind, wenn die Mutter solch ein leuchtendes Vorbild ist.“ Egidius Knecht hörte, wie die Tür in der zweiten Etage ins Schloss schnappte. Er war allein im Treppenhaus. Drohend erhob er seine Faust und schöpfte ein wenig Trost aus der Tatsache, dass den Bewohnern bald eine saftige Mieterhöhung bevorstand.
Anna fand ihre Töchter am Küchentisch über ein altes Fotoalbum gebeugt. Ein hoher Stapel weiterer Alben neben ihnen machte einen instabilen Eindruck. „Guck mal Jule, dein erster Schultag. Die Tüte ist fast größer als du.“ Julia nickte. „Hi Mama, wir sehen uns alte Fotos an. Wir wollten Lisa noch mal sehen. Machst du mit?“
Anna hatte einen Kloß im Hals. Musste das heute sein? Wenn es den Kindern half, dann vielleicht auch ihr. Sie nickte. „Nachher gern. Kommt, zieht eure Schuhe an. Heute gehen wir in euer Lieblingsrestaurant.“ Die Mädchen sahen sich überrascht an und beeilten sich, damit ihre Mutter es sich nicht wieder anders überlegen konnte. Normalerweise mussten sie sich ihre Big Macs und ihre Chicken McNuggets von ihrem Taschengeld kaufen, weil Anna prinzipiell einen großen Bogen um die üblichen Fastfood-Ketten machte.
Inkonsequenterweise liebte sie fettige amerikanische Pfannenpizzas und war hingerissen davon, dass gerade in ihrer Gegend ein Döner-Laden nach dem anderen eröffnete. Anna, Julia und Marie futterten sich durch alle entsprechenden türkischen Spezialitätenrestaurants und vergaben Punkte für das Preis-Hähnchen-Verhältnis, die Qualität der Saucen, und die Menge des Salats. Zu einem eindeutigen Ergebnis kamen sie dabei jedoch nicht. Die drei marschierten zum Wehrhahn, der Verlängerung einer der großen Einkaufsstraßen Düsseldorfs.
„Was nimmst du?“, fragte Julia ihre Schwester. Marie überlegte. „Ich glaube, das Maxi-Menü und du?“ Jule sagte: „Ist doch klar. Wie immer: 20 Chicken, eine große Pommes und einen Milchshake Vanille. Und du Mama?“ Anna studierte lustlos das Angebot und entschied sich für einen Hamburger und eine große Portion Salat.
Der Laden war um diese Uhrzeit gerammelt voll. Anna blickte sich suchend nach einem freien Platz um und versuchte einen müden Scherz: „Wir hätten einen Tisch bestellen sollen.“ Marie winkte. Sie hatte ein freies Plätzchen erspäht und sich schon dort niedergelassen. Anna folgte mit dem Tablett und die Mädchen verteilten die kulinarischen Köstlichkeiten.
Anna biss in ihren Hamburger, der wesentlich weniger vitaminreich wirkte als auf der Leuchttafel über den Kassen.
Hauptsache, den Mädchen schmeckte es an diesem denkwürdigen Abend. Anna warf einen Blick auf die beiden. Die schrecklichen Ereignisse des Tages hatten ihren Appetit nicht beeinträchtigt. Jule stopfte gerade das letzte Chicken McNugget in den Mund und spülte das Ganze mit einem großem Schluck ihres Milchshakes hinunter. Marie war bereits fertig. Ihr Gesichtsausdruck erinnerte Anna an den von Piet nach dem Genuss einer großen Dose seines Lieblingskatzenfutters.
„Können wir?“, fragte sie. Die Mädchen entsorgten den Müll und folgten ihr auf die Straße. „Dürfen wir noch eine DVD ausleihen“, wollte Julia wissen. Anna nickte. Jede Ablenkung war an diesem Abend willkommen. In der Videothek in der Nähe merkte Anna, dass ihre Töchter die Grenzen der Normalität nicht nur erreicht, sondern bereits wieder überschritten hatten. Es gab ein heftiges Gezanke um den Film. Müde schnappte sich Anna beide gewünschten DVDs, zückte ihren Mitgliedsausweis und zahlte an der Kasse die Leihgebühr.
Als sich aber zu Hause der Streit erneut an der Frage entzündete, welcher Film zuerst gesehen werden durfte und erbitterte Ausmaße annahm, flüchtete Anna in die Küche. Sie goss sich ein Glas Weißwein ein und setzte sich damit auf den Balkon. Sie fühlte sich entsetzlich allein und gab sich ganz ihrer Wut auf das Verhalten ihrer Töchter hin. „Diese kleinen, gefühllosen, undankbaren Monster“, dachte sie. „Da stirbt heute Lisa und sie zanken sich um eine verdammte DVD.“
Von hinten streichelte sie jemand. Sie drehte sich um und sah Marie, der die Tränen übers Gesicht liefen. „Ich hab Jule ihren Willen gelassen, Mama. Manchmal vergesse ich einfach, wie schrecklich jung sie noch ist“, sagte die weise 17-Jährige und setzte sich zu ihrer Mutter. Beide starrten eine Weile in den Innenhof, ohne allerdings die schöne Stimmung dieses sonnigen Sommerabends an sich heranzulassen.
„Sag mal Mama, du glaubst doch nicht wirklich, dass sie sich selbst umgebracht hat, oder?“, fragte Marie nach einer Weile. Anna schüttelte den Kopf. „Nein, jedenfalls nicht auf diese Art.“ – „Was machen wir denn, wenn die Polizei ihre Ermittlungen einstellt, weil sie es für Selbstmord hält?“ – „Was sollen wir denn dann machen?“, fragte Anna verwirrt. „Ja, willst du etwa Lisas Mörder frei herumrennen lassen?“
Anna blickte ihre Tochter entsetzt an. „Ich glaube, du siehst entschieden zu viele Krimis. Ich bin doch keine Kreuzung aus Miss Marple und Lara Croft. Wie stellst du dir das vor? Soll ich meinen Colt aus der Nachttischschublade holen und auf Mörderjagd gehen?“
„Blödsinn“, wiegelte Marie ab. „Aber ich finde, wir sollten die Wohnung noch mal genau ansehen. Vielleicht finden wir ja irgendetwas, das die Polizei übersehen hat, weil sie Lisa nicht so gut gekannt hat wie wir. Und diesen Hinweis könntest du doch der Polizei geben, damit die nicht aufgeben. Das sind wir Lisa einfach schuldig. Irgendjemand hat sie umgebracht und ich will, dass der bestraft wird. Und du hast doch den Schlüssel wegen Piet. Wo ist das Problem?“ - „Lass uns erst einmal abwarten, was morgen bei der Pressekonferenz herauskommt“, sagte Anna müde und trank ihren Wein aus.
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